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- DAZ 12/2023
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Arzneimittel und Therapie
Zuerst Chemo, dann OP
Neoadjuvante Zytostatika-Therapie auf dem Vormarsch
Wird ein solider Tumor festgestellt, schließt sich der chirurgischen Entfernung des Malignoms häufig eine weitere Behandlung an, um ein Wiederauftreten der Erkrankung zu verhindern. Im Unterschied dazu wird beim neoadjuvanten Vorgehen, der Operation eine zytotoxische, radiologische oder endokrine Behandlung vorgeschaltet. Dadurch kann bereits im Vorfeld anhand bildgebender Verfahren festgestellt werden, ob die präoperative Therapie anschlägt und zu einer Verkleinerung des Malignoms führt. Des Weiteren ist eine frühe Kontrolle der Metastasenausbreitung möglich. Für manche Patienten kann das einstweilige Verbleiben des Tumors im Körper psychologisch belastend sein. Vice versa hat dieses Vorgehen viele Vorteile, was beispielhaft unter anderem an der Behandlung des Mammakarzinoms gezeigt werden kann.
Wie Chemotherapien klassifiziert werden können
Eine Chemotherapie kann unter folgenden Gesichtspunkten eingeteilt werden:
Nach dem Ziel der Behandlung
- kurative Chemotherapie: die Erkrankung soll geheilt werden
- palliative Chemotherapie: das Fortschreiten der Erkrankung soll verlangsamt, Beschwerden sollen gelindert werden
Nach dem Zeitpunkt der Behandlung
- adjuvante Chemotherapie: maligne Zellen sollen vollständig und dauerhaft vernichtet werden nach vorheriger Verkleinerung eines soliden Tumors durch eine Operation und/oder eine Strahlentherapie
- neoadjuvante Chemotherapie: maligne Zellen sollen mit dem Ziel der Tumorverkleinerung vernichtet werden, um damit die Voraussetzung für eine Operation und/oder Strahlentherapie zu schaffen, die wiederum zur Heilung führen soll
Nach dem Ansprechen
- komplette Remission: alle klinischen Anzeichen der Erkrankung sind verschwunden
- partielle Remission: die Tumormasse wurde um mehr als 50% reduziert; es kann zu einer signifikanten Palliation und Verlängerung des Überlebens kommen, jedoch wird das Malignom wieder wachsen
- stable disease (stabile Erkrankung): es kommt weder zu einer Verschlechterung noch zu einer Verbesserung
Standardvorgehen bei Brustkrebs
Eine neoadjuvante Behandlung von Mammakarzinomen ermöglicht eine Prognoseverbesserung durch Individualisierung der neoadjuvanten und post-neoadjuvanten Behandlung. Für die Patientin ist von besonderer Bedeutung, dass bei größeren Tumoren häufig eine Operabilität und somit eine Brusterhaltung erzielt werden können. Des Weiteren wird die Rate an axillären Lymphknotenentfernungen verringert. Derzeit gilt eine neoadjuvante Therapie beim Mammakarzinom als angezeigt, wenn
- die gleiche postoperative adjuvante Chemotherapie indiziert ist,
- eine risikoadaptierte postoperative Therapie durchgeführt werden soll,
- ein inflammatorisches oder inoperables Mammakarzinom vorliegt oder
- ein großes operables Mammakarzinom vorliegt, das primär eine Mastektomie und adjuvante Chemotherapie erfordern würde, um die Brust zu erhalten.
Die Art der Chemotherapie folgt analog zu den adjuvanten Standardschemata. Auch bei starker Tumorreduktion ist eine anschließende Operation notwendig. Der Zeitpunkt ist abhängig vom Ansprechen des Tumors auf die Chemotherapie und von der Verträglichkeit der Behandlung. Zumeist liegen zwischen dem Beginn der neoadjuvanten Chemotherapie und der Operation einige Monate [1].
Mögliche Option bei Harnblasenkarzinom
Patienten, die an einem lokal begrenzten oder lokal fortgeschrittenen Harnblasenkarzinom ohne Befall der Lymphknoten oder Fernmetastasen erkrankt sind, können neoadjuvant behandelt werden. Die vor einer radikalen Zystektomie durchgeführte zytotoxische Therapie verbessert die Operabilität des Karzinoms und richtet sich gegen okkulte Mikrometastasen. Die vorgezogene Chemotherapie hat zudem den Vorteil, dass der Allgemeinzustand des Betroffenen noch nicht durch die Zystektomie geschwächt ist. Nachteile sind eine mögliche Überbehandlung. Zudem kommt es bei Patienten, deren Tumoren nicht auf die Chemotherapie ansprechen, zu einer Verzögerung der kurativen Lokaltherapie, was zu einer Verschlechterung der Prognose führen kann. Für eine neoadjuvante Chemotherapie bei Urothelkarzinomen ergeben sich folgende Vor- und Nachteile:
Vorteile
- frühe Behandlung einer Mikrometastasierung
- besserer Allgemeinzustand der Patienten bei Beginn der Chemotherapie (Patient ist nicht aufgrund eines operativen Eingriffs geschwächt)
- hoher Anteil der Patienten kann die Chemotherapie erhalten
- geringe Toxizität vor allem bei jüngeren Patienten mit geringer Komorbidität
- keine erhöhte operative Komplikationsrate nach neoadjuvanter Therapie
- Beurteilung der Chemotherapie-Sensitivität als prognostischer Marker möglich
- mit hoher Evidenz nachgewiesener Überlebensvorteil von 5%
Nachteile
- Verzögerung der Zystektomie um zehn bis zwölf Wochen mit möglichem negativem Einfluss auf die Prognose
- Chemotherapien belasten ältere Patienten, insbesondere bei Vorliegen von Komorbiditäten[2].
Etabliert bei nicht resektablen Pankreaskarzinomen
Pankreaskarzinome gehen mit einer sehr schlechten Prognose einher, allerdings konnten in den vergangenen Jahren einige Fortschritte erzielt werden. Dies ist zum einen wirksamen adjuvanten Chemotherapien nach operativer Entfernung des Karzinoms, aber auch neoadjuvanten Therapien zu verdanken. Letztere sind Mittel der Wahl bei Karzinomen, die zum Zeitpunkt der Diagnose nicht resektabel sind, um nach der zytotoxischen Therapie eine Operation zu ermöglichen.
Potenzielle Indikationen für eine neoadjuvante Chemotherapie (Beispiele)
- Mammakarzinome
- Urothelkarzinome
- Rektumkarzinome
- Colonkarzinome
- Pankreaskarzinome
- Nicht-kleinzellige Lungenkarzinome
- Tumore des Ösophagus und des Magens
- Ovarialkarzinome
- Melanome
Die aktuelle Kontroverse dreht sich um die Frage der neoadjuvanten Therapie in resektablen und grenzwertig resektablen Situationen bei Pankreaskarzinomen. Ein zweiter Diskussionspunkt ist die Standardisierung der neoadjuvanten Therapieprotokolle. Den aktuellen Leitlinien zufolge sollten Patienten mit resektablen Tumoren nicht außerhalb von Studien neoadjuvant therapiert werden – die Empfehlungen für grenzwertig resektable Befunde variieren. Einige aktuelle Studien sprechen sich bereits für eine neoadjuvante Chemotherapie bei Patienten mit resektablem Pankreaskarzinom aus und sehen in der neoadjuvanten Chemotherapie einen neuen Standard bei diesen Karzinomen [3, 4, 5].
Organerhalt bei rektalen Karzinomen
Rund 30% der kolorektalen Karzinome sind im Rektum lokalisiert. Die Therapie ist multimodal – ein Behandlungskonzept ist die totale neoadjuvante Therapie. Hierunter versteht man die Ergänzung der neoadjuvanten Radio- beziehungsweise Radiochemotherapie um eine zusätzliche neoadjuvante Systemtherapie. Neben einer besseren Verträglichkeit können Mikrometastasen bereits zu einem frühen Zeitpunkt systemisch behandelt werden, wodurch sich möglicherweise das Überleben verbessern lässt. Gemäß aktuellen Empfehlungen sollte die totale neoadjuvante Therapie bei Patienten mit einem lokal weit fortgeschrittenen Rektumkarzinom eingesetzt werden. Aktuell wird überprüft, ob bei klinischer Komplettremission nach neoadjuvanter Therapie auf eine chirurgische Resektion verzichtet werden kann (organerhaltende „watch-and-wait“-Strategie) [6].
Trend zur neoadjuvanten Therapie bei Darmkrebs
Die bislang zur neoadjuvanten Therapie vorliegenden Studien deuten darauf hin, dass dieses Vorgehen bei nicht metastasierten, lokal fortgeschrittenen Darmtumoren eine mögliche, vielversprechende Therapieoption ist. Der Benefit schlägt sich in einem verbesserten chirurgischen Erfolg nach einer neoadjuvanten Therapie nieder [7]. Einer aktuellen Phase-III-Studie zufolge wird durch dieses Vorgehen auch die Rezidivrate deutlich gesenkt. In der FOxTROT-Studie wurde untersucht, ob das Rezidivrisiko bei Kolonkarzinomen reduziert werden kann, wenn die Chemotherapie statt postoperativ neoadjuvant vor der Operation durchgeführt wird. Kolonkarzinompatienten, die vor und nach ihrer Operation eine Chemotherapie mit Fluorouracil und Oxaliplatin erhielten, hatten eine um 28% niedrigere Zweijahres-Rezidivrate als bei einer postoperativ durchgeführten Chemotherapie derselben Dauer. Auch traten bei den Patienten, die vor der Operation eine Chemotherapie erhalten hatten, seltener postoperative Komplikationen als in der Kontrollgruppe auf [8]. |
Literatur
[1] Diagnostik und Therapie früher und fortgeschrittener Mammakarzinome – Neoadjuvante (Primäre) systemische Therapie. Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie e.V., Stand April 2022
[2] Ohlmann C. Urothelkarzinom der Harnblase: Neoadjuvante und adjuvante medikamentöse Tumortherapie. In: Michel MS et al. Die Urologie. Springer Reference Medizin, Berlin, Heidelberg, 2021, doi.org/10.1007/978-3-642-41168-7_108-2
[3] Nießen A et al. Evidenz für neoadjuvante Chemotherapie beim resektablen Pankreaskarzinom. Zentralbl Chir 2022;147(02): 168-172, doi: 10.1055/a-1775-8924.
[4] Exokrines Pankreaskarzinom. S3-Leitlinie der Deutschen Krebsgesellschaft unter Beteiligung weiterer Fachgesellschaften, AWMF-Registernummer: 032/010OL, Stand Dezember 2021
[5] Ghaneh P et al. Immediate surgery compared with short-course neoadjuvant gemcitabine plus capecitabine, FOLFIRINOX, or chemoradiotherapy in patients with borderline resectable pancreatic cancer (ESPAC5). Lancet Gastroenterol Hepatol 2023;8(2):157-168, doi: 10.1016/S2468-1253(22)00348-X
[6] Ghadimi M et al. Multimodal treatment of rectal cancer. Dtsch Arztebl Int 2022;119(33-34): 570-580; doi: 10.3238/arztebl.m2022.0254
[7] Gosavi R et al. Neoadjuvant chemotherapy in locally advanced colon cancer: a systematic review and meta-analysis. Int J Colorectal Dis 2021;36(10):2063-2070, doi: 10.1007/s00384-021-03945-3.
[8] Morton D et al. Preoperative Chemotherapy for Operable Colon Cancer: Mature Results of an International Randomized Controlled Trial. J Clin Oncol 2023:JCO2200046, doi: 10.1200/JCO.22.00046
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