Arzneimittel und Therapie

„Magen-Botox“ sorgt für Vergiftungsfälle

Iatrogener Botulismus nach Einsatz zur Gewichtsreduktion

gg/dab | Botox wird in vielfältiger Weise eingesetzt, besonders beliebt ist die kosmetische Anwendung gegen Falten im Gesichtsbereich. Nun sind Kliniken in der Türkei in den Fokus geraten, die eine besondere Botox-Behandlung zur Gewichts­reduktion anbieten. Dazu wird das Nervengift in die Magenwand injiziert – mit teils schwerwiegenden Folgen: Laut Berichten des Robert Koch-Instituts kam es zu mehreren Vergiftungsfällen.

Botulismus, also die Vergiftung mit dem Nervengift Botulinum-Neurotoxin, ist vor allem als Folge einer Nahrungsmittelvergiftung oder Wundinfektion bekannt. Aber ein Botulismus kann auch iatrogen, also durch ärzt­liche Behandlungen ausgelöst werden. Am 9. März 2023 berichtete das Robert Koch-Institut (RKI) im Epidemiologischen Bulletin 10/2023 über neun Fälle von iatrogenem Botulismus. Am 14. März 2023 bestätigte das RKI gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa), dass die Zahl auf zwölf Fälle angestiegen sei. Am selben Tag veröffentlichte auch das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) entsprechende Fallzahlen zu iatrogenem Botulismus. Dabei wurden neben den Fällen in Deutschland auch jeweils ein Fall in Österreich und der Schweiz sowie 53 Fälle in der Türkei gemeldet, die alle zwischen dem 22. Februar und 10. März 2023 registriert worden sind. Gemeinsam ist allen Patienten, dass sie sich Ende Februar/Anfang März einer besonderen Botox-Behandlung in der Türkei unterzogen hatten, bei der endoskopisch Botox in die Magenwand injiziert wurde. Von dieser Behandlung, die die Anbieter im Internet teilweise auf deutscher Sprache beworben hatten, versprachen sie sich offenbar eine Unterstützung beim Gewichtsverlust. Die postulierte Rationale dahinter: Das Nervengift soll die Magenmotilität hemmen und somit zu einem länger anhaltenden Sättigungsgefühl beitragen. Kann das sinnvoll sein?

Foto: PRB ARTS/AdobeStock

Clostridium botulinum und weitere Clostridien-Spezies produzieren hochgiftige Botulinum-Neurotoxine, von denen die Serotypen A bis H bekannt sind.

Symptome einer Intoxikation

Sicher ist jedenfalls: Botox ist das stärkste bekannte Nervengift. Botulinum-Toxine inhibieren in peripheren Nervenendigungen die Freisetzung von Acetylcholin aus den Speicher­vesikeln in den synaptischen Spalt. Überdosierungen führen nach einer Latenzzeit, die mehrere Tage dauern kann, zu verschiedenen, zunächst unspezifischen Symptomen. Als frühe Anzeichen nennt das RKI Mundtrockenheit sowie die „4Ds“ Di­plopie, Dysphagie, Dysphonie und Dysarthrie (also Doppelsehen, Schluck-, Stimm- und Artikulationsstörungen). Später treten Lähmungserscheinungen auf, dabei kommt es zu Sehstörungen und Schwierigkeiten bei feinmotorischen Tätigkeiten. Auch eine Lähmung der Atmung ist möglich und kann unbehandelt zum Tod führen.

Symptomatische und spezifische Behandlung

Bezüglich der Therapie verweist das RKI auf die entsprechende Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Darin wird die Vorbemerkung gemacht, dass die Wirkung von Botulinum-Neurotoxin bis zu zwölf Wochen andauern kann, wodurch sich die komplette Remission von Paresen in schweren Fällen über Monate hinziehen kann. Bleibende Schäden würden in der Regel nicht auftreten.

Bei Patienten mit klinischen Symptomen eines Botulismus ist es erforderlich, dass sie auf einer Intensivstation überwacht bzw. behandelt werden, da die Gefahr der Aspiration und Atemlähmung besteht. Symptomatisch kann mit Cholinesterase-Hemmern wie Neostigmin i.v. therapiert werden, um die Verweildauer des noch vorhandenen Acetylcholins im synaptischen Spalt zu verlängern. Allerdings gibt es keine Studiendaten zu Auswirkungen auf die Intensivpflichtigkeit, Morbidität sowie Mortalität. In einer Pressemitteilung vom 18. März 2023 weist die DGN darauf hin, dass neu auch Pyridostigmin für die symptomatische Therapie eingesetzt werden kann.

Als einzige spezifische Maßnahme gilt die Gabe von Botulinum-Antitoxin. In der Leitlinie wird es nur in den ersten 48 Stunden nach Verzehr von Botulinum-Neurotoxin-belasteten Nahrungsmitteln und bei Wundbotulismus empfohlen (s. Kasten „Formen von Botulismus“). Denn mit dem Antitoxin können nur Toxine gebunden werden, die noch nicht an Nervenendigungen gebunden sind. Wie das ECDC in seiner Pressemeldung mitteilt, wurden auch einige der aktuellen Fälle von iatrogenem Botulismus mit dem Antitoxin behandelt. Ob und wie gut in diesen Fällen die Gabe des Antitoxins wirke, sei „nicht ganz klar“, zudem würde das 48-stündige Zeitfenster für die Gabe „häufig verpasst“, wie Prof. Dr. Tim Hagenacker, Leiter des Zentrums für Neuromuskuläre Erkrankungen der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen und Mitglied der Kommission Motoneuron- und Neuromuskuläre Erkrankungen der DGN in der Pressemitteilung der Gesellschaft erklärt.

Formen von Botulismus

Botulinum-Neurotoxine können auf verschiedene Arten in den Körper gelangen. Man unterscheidet folgende Formen der Erkrankung:

  • Nahrungsmittelbotulismus ist die in Deutschland, Österreich und der Schweiz am häufigsten vorkommende Form von Botulismus (Letalität 5 bis 10%). Hierbei werden die Neurotoxine, meist der Serotypen A und E, aus verunreinigten Lebensmitteln, z. B. Geräuchertem oder Eingekochtem, intestinal resorbiert. Sporen des anaeroben Erregers können bei unzureichender Erhitzung in Lebensmitteln auskeimen und Toxine bilden. Die Toxine selbst werden bei Temperaturen über 80 °C zerstört.
  • Wundbotulismus tritt wesentlich seltener als Nahrungsmittelbotulismus auf. Er kann entstehen, wenn anaerobe Wundbereiche mit Clostridium botulinum besiedelt und lokal Toxine gebildet werden. Hiervon können auch I.v.-Drogenabhängige durch Nadelstichverletzungen betroffen sein.
  • Säuglingsbotulismus kommt bei Kindern unter einem Jahr, gehäuft im zweiten Lebensmonat, vor und ist weltweit die häufigste Form von Botulismus. Dabei wird der Darm von C. botulinum besiedelt, nachdem Sporen des Erregers oral aufgenommen wurden. Teilweise stehen Fälle mit der Aufnahme von Honig in Verbindung, der bekanntermaßen Kindern unter zwei Jahren nicht gegeben werden sollte. Häufig ist die Quelle des Erregers aber nicht identifizierbar. Die Symptome sind meist mild ausgeprägt und umfassen Ptose (hängendes oberes Augenlid), Adynamie, muskuläre Hypotonie (verminderter Tonus der Skelettmuskulatur) und Trinkschwäche.
  • intestinaler Botulismus ist sehr selten und kann bei älteren Kindern oder Erwachsenen auftreten. In der Regel besteht dabei eine Störung des Darms etwa durch eine Erkrankung oder breitbandantibiotische Therapie.

Nicht natürlich auftretende Formen:

  • Inhalationsbotulismus durch inhalative Neurotoxin-Aufnahme, z. B. beschrieben bei Labormitarbeitern, die Tierexperimente durchgeführt haben.
  • iatrogener Botulismus kann im Rahmen einer medizinischen oder kosmetischen Behandlung auftreten, bei der i. d. R. Botulinum-Neurotoxine der Serotypen A und B genutzt werden. Vor allem die pharynxnahe oder hochdosierte Gabe kann diese Form des Botulismus durch lokale Diffusion oder unbeabsichtigten systemischen Übertritt verursachen.

In den Jahren 2001 bis 2022 wurden dem Robert Koch-Institut pro Jahr zwischen null (2012) und 24 Fälle (2005) von Botulismus gemeldet.

In Europa steht für die Therapie seit 2019 das equine, heptavalente Botu­linum-Antitoxin BAT® gegen die Serotypen A bis G zur Verfügung. Die Versorgung erfolgt über die Notfalldepots der Apothekerkammern. Zunächst wird eine Testdosis des Antitoxins in der Verdünnung 1:10 verabreicht, bevor eine kontinuierliche intravenöse Gabe erfolgen kann. In der Leitlinie wird auf Hypersensitivitätsreaktionen bis hin zur Anaphylaxie hingewiesen, die bei bis zu 9% der Patienten berichtet wurden, weshalb eine vorherige Intrakutantestung angeraten wird.

Der Einsatz von Magnesium ist laut Leitlinie kontraindiziert, da man annimmt, dass hohe Magnesium-Spiegel wirkverstärkend auf Botulinum-Toxin wirken könnten.

Betroffene an Arzt verweisen

Bezüglich der aktuellen Situation hält es das RKI für möglich, dass noch weitere Fälle bekannt werden. Apothekenteams sollten Patienten, die sich mit unspezifischen Symptomen wie Mundtrockenheit an sie wenden und eine Botox-Injektion in die Magenwand erhalten haben, umgehend an einen Arzt verweisen. Das ECDC rät allen Personen, die sich zwischen dem 22. Februar und 1. März 2023 einer solchen Behandlung in der Türkei unterzogen haben, ärztlichen Rat einzuholen, insbesondere wenn Symptome wie Schwäche oder Atem- und/oder Schluckbeschwerden auftreten. Weiter rät die europäische Behörde eindringlich von den genannten „Magen-Botox“-Behandlungen ab.

Mögliche Ursachen des Ausbruchs

Zurzeit sei es laut ECDC unklar, ob die aktuellen Ereignisse auf ein therapeutisches oder methodisches Problem zurückzuführen seien oder mit den verabreichten Präparaten zusammenhängen. Untersuchungen türkischer Behörden hätten ergeben, dass die verwendeten Präparate zwar zugelassen waren, aber off label zur Behandlung von Fettleibigkeit eingesetzt wurden. Die Behandlungen in den betreffenden Kliniken seien ein­gestellt und Ermittlungen gegen die Beteiligten eingeleitet worden.

Die DGN will sich nicht an Spekulationen beteiligen, warum es zu den derzeitigen Fällen gekommen ist, dennoch werden in der Pressemeldung der Gesellschaft denkbare Gründe genannt. Zum einen könnte es zu Überdosierungen gekommen sein, etwa durch Verunreinigung der Substanz und einer damit einhergehenden Wirkungsverstärkung. Zum anderen könnte die „Magen-Botox“-Behandlung per se ein höheres Botulismus-Risiko aufweisen, da „deutlich höhere Botox-Dosierungen“ verwendet würden als z. B. bei kosmetischen Behandlungen. Botulismus tritt in Deutschland mit durchschnittlich fünf Fällen pro Jahr selten auf. Doch dies könnte sich „angesichts der zunehmenden Verwendung von Botox im Medizin- bzw. Lifestyle-­Bereich“ ändern, wie der DGN-Generalsekretär und -Pressesprecher, Prof. Dr. Peter Berlit, erläutert. Er und seine Kollegen müssten „daran denken, dass perspektivisch auch in diesem Zusammenhang mehr Fälle von Botulismus auftreten können“.

Prof. Hagenacker und sein Team bemühen sich bereits um die wissenschaftliche Aufarbeitung des aktuellen Botulismus-Ausbruchs, um künftig Betroffenen schneller helfen zu können. |
 

Literatur

Albers B. DGN warnt vor Botoxspritzen in die Magenwand zur Appetitzügelung und initiiert eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 18. März 2023

Botulism cases in Europe following medical interventions with botulinum neurotoxin. Pressemeldung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), 14. März 2023

Botulismus – RKI-Ratgeber. Informationen des Robert Koch-Instituts (RKI), Stand: 24. Juni 2022

Botulismus. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Stand: 31. August 2017

Fälle von iatrogenem Botulismus nach Behandlung mit Botulinum-Neurotoxin in der Türkei. Robert Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin 2023;10:12

Geisslinger G, Menzel S, Gudermann T, Hinz B, Ruth P. Mutschler Arzneimittelwirkungen. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart, 11. Auflage, 2020

SurvStat@RKI 2.0 – Web-basierte Abfrage der Meldedaten gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG). Informationen des Robert Koch-Instituts, Abruf am 17. März 2023

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