Aus den Ländern

Arzneimitteltherapie und -versorgung im Visier

Die GAA hat ihre Jahrestagung in Münster abgehalten

Die 29. Jahrestagung der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie (GAA) fand am 24. und 25. November 2022 nach zwei Jahren COVID-19-bedingter Online-Durchführung nun wieder als Präsenzveranstaltung in Münster statt. Die zentralen Themen der diesjährigen Tagung erstreckten sich von den Herausforderungen des öffent­lichen Gesundheitswesens über Arzneimittel-Risikomanagement und individuelle Einflussfaktoren zur Verbesserung des Arzneimitteleinsatzes bis hin zu potenziell innovativer Arzneimittelversorgung.

Zunächst stand das Themenfeld „Herausforderung des öffentlichen Gesundheitswesens in der Arzneimittelversorgung“ auf der Tagesordnung. Das öffentliche Gesundheitswesen umfasst nicht nur den Öffentlichen Gesundheitsdienst, insbesondere mit der Zulassung von Arzneimitteln und der Überwachung des Arzneimittel­verkehrs, es besteht bspw. auch aus den Körperschaften oder Anstalten öffent­lichen Rechts, die im Auftrag des Staates und als mittelbare Staatsverwaltung Verantwortung für die Sicherheit der Arzneimittelversorgung übernehmen.

Foto: Universität Witten/Herdecke

Prof. Dr. Holger Gothe, 1. Vorsitzender der GAA, eröffnete die diesjährige Jahrestagung, die als Präsenzveranstaltung in den Räumen der Bezirksregierung Münster stattfand.

Mit einem Einblick in die Qualitäts­kontrolle des Medizinischen Dienstes referierte Jürgen Brüggemann, Leiter des Bereiches „Beratung Pflegeversicherung des Medizinischen Dienstes Bund“ über die Qualitätsprüfungen und das Medikamentenmanagement in der Pflege. Im seit 2019 geltenden neuen Qualitäts- und Prüfsystem beschreibt ein Indikator das Medikamentenmanagement in den Pflegeeinrichtungen. Bis heute beinhaltet dieser Indikator keine gezielte Überprüfung des gesamten Medikationsprozesses, von der Verordnung bis zur Vergabe. In Zukunft ist die Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) in Zusammenarbeit mit den beliefernden Apotheken eine denkbare Option.

Eine besondere Herausforderung für das Gesundheitswesen ist die Zentralisierung und Nutzung der vorhandenen Krankenkassendaten. Christian Brachem, Mitarbeiter am Forschungsdatenzentrum (FDZ) des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), berichtete über das Ziel dieser neu gegründeten Stabsstelle, die Abrechnungsdaten aller gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland unter Berücksichtigung der gesetz­lichen Vorgaben zum Datenschutz zentral zu erfassen und der Versorgungsforschung zugänglich zu machen.

Im dritten Vortrag berichtete Dr. Helmut Hildebrandt, Geschäftsführer der OptiMedis AG, über die Einführung und die Aufgaben der sogenannten „Gesundheitskioske“. Er sieht sie als Chance, den Zugang zu und die effektive Nutzung von Leistungen des Gesundheitswesens unter Beteiligung der Kommunen an die Bedürfnisse unterschiedlicher Bevölkerungsschichten anzupassen. Arbeitskräfte, die aus Gesundheits- und Sozialberufen kommen, können niedrigschwellig Ratsuchenden bei Gesundheitsfragen und Fragen zur sozialen Situation zur Seite stehen. Zur zukünftigen Rolle der Apotheken erscheinen Kooperationsansätze mit den Gesundheitskiosken zur Optimierung der Medikation denkbar. Hierdurch könnte die Rolle der Apotheke im avisierten Gesundheitsnetzwerk gestärkt werden.

Modelle zum Arzneimittel-Risikomanagement

Dr. Ulrich Hagemann (FISoP International Society of Pharmacovigilance) erklärte in seinem einleitenden Vortrag die Begriffe Nutzen-Risiko-Bewertung, Evidenz und „precautionary principle“. Nach Diskussion von Vor- und Nachteilen für den Wissenschaftsfortschritt in der Pharmako­vigilanz schlussfolgerte Hagemann, dass ein breiterer Ansatz zur Erfassung von Nutzen und Risiken zu besseren Entscheidungen im Hinblick auf eine geeignete Arzneimitteltherapie für mehr Menschen führen kann.

Anknüpfend stellte Janina Bittmann (Universitätsklinikum Heidelberg) wichtige Aspekte klinischer, digitaler Unterstützungssysteme (Clinical Decision Support Systems) im klinischen Einsatz zur Verbesserung der Arzneiverordnungsqualität vor. Diese Systeme sind inzwischen unentbehrlich, aber zum Teil sehr komplex. Nicht immer werden nur relevante Probleme angezeigt. Weitere Optimie­rungen von Entscheidungsalgorithmen sind notwendig, um mit dem immer komplexer werdenden Informationsfluss sinnvoll umzugehen.

Im nächsten Vortrag stellten Prof. Dr. Ulrike Haug (Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS)) und Prof. Dr. Bernhardt Sachs (BfArM) das durch den Innovationsfonds geförderte Projekt „Weiterentwicklung, Optimierung und Anwendung eines Algorithmus zur Detektion schwerwiegender unerwünschter Arzneimittelwirkungen mit Routinedaten“ (WOLGA) vor. Ziel ist es, einen optimierten Algorithmus zur Erkennung schwerwiegender unerwünschter Ereignisse, die zur Hospitalisierung oder ambulanten Behandlung führten, zu erstellen. Dafür werden die ICD-Codes aus den verfügbaren Krankenkassendaten von 25 Millionen Versicherten von vier deutschen gesetzlichen Krankenkassen systematisch ausgewertet. Der daraus ent­standene Algorithmus soll eine hohe Spezifität aufweisen und zur Erfassung, Kontrolle und Überwachung von schwerwiegenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen beitragen.

Dr. Katrin Jobski (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) stellte die Ergebnisse einer Analyse zu Charakteristika und Vollständigkeit von Spontanmeldungen zu Missbrauch, Abhängigkeit und Entzug im Zusammenhang mit Opioiden in Deutsch­land basierend auf den Daten der EudraVigilance-Datenbank vor. Die Meldecharakteristika von Apothekerinnen und Apothekern und anderen meldenden Personen wurden evaluiert und dabei erhebliche Unterschiede, je nach Berichterstatter, in Bezug auf Vollständigkeit und Charakteristika der Daten festgestellt. Trotz begrenzter Verfügbarkeit von Informa­tionen in deutschen Apotheken zu patientenbezogenen Diagnosen und Labordaten sollten Apotheken unerwünschte Arzneimittelwirkung möglichst vollständig melden, so der Appell der Referentin.

Arzneimitteltherapie verbessern

Ein weiteres zentrales Thema der Tagung war die Messung der verschiedenen individuellen Einflussfaktoren, die die Arzneimitteltherapie beeinflussen können. Dr. Frans Folkvord von der Universität Tilburg (NL) stellte die europäische Initiative BEAMER „Making behavioural aspects visible in large datasets“ vor. Ziel ist es, unter Berücksichtigung des Therapieverhaltens einen patientenzentrierten Ansatz zu entwickeln, der zur Verbesserung der Adhärenz und zum Erfolg der gewählten Therapie beiträgt.

Innovative Arzneimittelversorgung und deren Evaluation

Zum Auftakt dieses Themenschwerpunktes stellte Prof. Dr. med. Ildiko Gágyor (Julius-Maximilians-Universität Würzburg) das Projekt „Reduktion von Antibiotikaresistenzen durch leitliniengerechte Behandlung von Patienten mit unkompliziertem Harnwegs­infekt in der ambulanten Versorgung“ REDARES vor. Ziel dieses durch den Innovationsfonds geförderten Projektes ist es, durch eine leitliniengerechte Behandlung unkomplizierter Harnwegsinfektionen Antibiotikaresistenzen zu reduzieren. Durch die Überprüfung der Erreger- und Resistenz­situation bei unkomplizierten Harnwegsinfektionen, Bereitstellung von Informationen über die regionale Resistenzsituation und Erstellung von Behandlungsempfehlungen soll das Verschreibungsverhalten verbessert werden. Dr. Veronika Lappe (PMV forschungsgruppe Köln) referierte über die Komplexität der Arzneimitteltherapie anhand einer Auswertung des BARMER Arzneimittelreports 2022. In der Behandlung einzelner Personen innerhalb von zehn Jahren sind mehrere Arztpraxen und Apotheken involviert. Darüber hinaus steigt die Zahl der verordneten Medikamente. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens kann hier zur Verbesserung der Versorgung führen. Automatisierung der Dokumentation, Implementierung von AMTS, sektorenüber­greifender Informationsaustausch und Patienten-Empowerment sind dabei wichtige Meilensteine.

Ein weiterer Ansatz, um die Arzneimittelversorgung zu verbessern, stellt die von Veronika Bencheva (Univer­sität Witten/Herdecke) vorgestellte COFRAIL-Studie „Erhöhung der Patientensicherheit durch gemeinsame Priorisierung bei älteren und gebrechlichen Patienten“ dar. In der Studie wurden Familienkonferenzen mit Patienten und Angehörigen zur Optimierung und Priorisierung der Therapie durchgeführt. Dabei wurden ungeeignete und nicht mehr benötigte Wirkstoffe anhand eines Deprescribing-Leitfadens abgesetzt.

Foto: Universität Witten/Herdecke

PD Dr. Marion Hippius (re.), Schatzmeisterin der GAA, übergibt die Posterpreise an die diesjährigen Preisträger(v. r.): Katrin Scholz (1. Preis), Laura Weisbach (2. Preis), Steffen Schmidt (3. Preis)

Poster und Posterpreise

In der Session „Freie Themen“ sowie im Rahmen der Postersession wurden unterschiedliche Projekte vorgestellt. Unter anderem erläuterte Heike van de Sand (PMV forschungsgruppe Köln) mögliche Auswirkungen von länger dauernden Hitzeereignissen auf die Arzneimitteltherapie unter besonderer Berücksichtigung not­wendiger Medikationsanpassung. Weiterhin wurden Studien zur Auswertung der Prävalenz von Neben­wirkungen und der Umsetzung einer leitliniengerechten Therapie bei fünf der vorgestellten Poster präsentiert.

Zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses prämiert die GAA jedes Jahr die überzeugendsten Poster.

Folgende drei Posterpreise wurden ver­geben:

1. Preis: Katrin Scholz (PMV forschungsgruppe Köln): Verschreibung von oralen Antiepileptika in Deutschland zwischen 2010 und 2020

2. Preis: Laura Weisbach (Universitätsklinikum Jena): Verständlichkeit absoluter Kontraindikationen – Eine Analyse der Eindeutigkeit und Kodierbarkeit leberassoziierter Kontraindikationen in Fachinformationen großer Arzneimittelmärkte

3. Preis: Steffen Schmidt (Universität Witten/Herdecke): Relevanz von Komplexitätsfaktoren, die sich nicht aus Medikationsplänen ableiten lassen

Weitere Infos unter www.gaa-arzneiforschung.de oder www.gaa-ev.de |

Veronika Bencheva, Universität Witten/Herdecke

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