Aus den Ländern

Nullretax: Das Übel an der Wurzel packen

AVWL macht sich für Verbot von Retaxierungen wegen fehlender Dosierangabe stark

MÜNSTER (gbg) | Retax ist Diebstahl – zumindest wenn der Grund ein unbedeutender Formfehler ist. So sieht es Thomas Rochell, Vorsitzender des Apothekerverbands West­falen-Lippe (AVWL). Sein Verband will alles dafür tun, dass diese Praktik der Krankenkassen ein für alle Mal ein Ende hat. Auch eine Klage schließt der AVWL nicht aus.

Die Krankenkassen haben den Apotheken in Westfalen-Lippe inzwischen Rezepte im Wert von rund 400.000 Euro retaxiert, weil die Dosierangabe fehlte. Das berichtete Jan Harbecke, Vorstand beim Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL), am gestrigen Mittwoch bei der Mitgliederversammlung des Verbands in Münster. Auffällig sei in diesem Zusammenhang, dass meist Hochpreiser-Verordnungen betroffen sind – besonders häufig beanstandeten kleine Krankenkassen solche Rezepte. Und fast immer seien Drittanbieter beteiligt, die im Auftrag der Kassen die Verordnungen formal prüfen.

Foto: AVWL

Thomas Rochell, Vorstandsvor­sitzender des Apothekerverbands Westfalen-Lippe.

Was AVWL-Chef Thomas Rochell von diesem Vorgehen hält, machte er bereits in seinem DAZ-Gastbeitrag deutlich. Mit großem Erfolg geht der Verband gegen Nullretaxationen wegen fehlender Dosierangaben vor – jetzt will er das Übel an der Wurzel packen. Gemeinsam mit dem Deutschen Apothekerverband beratschlage man, wie es gelingen kann, solche Kürzungen wegen fehlender Dosierangabe grundsätzlich verbieten zu lassen.

„Wir schaffen es zwar regelhaft, gegen solche Beanstandungen erfolgreich Einspruch einzulegen, aber das macht natürlich viel Arbeit“, sagt Rochell im Gespräch mit der DAZ. Aus seiner Sicht muss jetzt der Gesetzgeber ran und dem ein Ende setzen. „Wir bemühen uns um eine politische Lösung, und das mit Nachdruck“, betont er. Notfalls komme auch eine Klage in Betracht – bis auf diesem Weg eine Entscheidung falle, könnten jedoch viele Jahre ins Land ziehen. Seine Hoffnung setzt er auf die Politik: Hier will er jetzt verstärkt auf die Nullretax-Problematik aufmerksam machen.

In Westfalen-Lippe, erläutert Rochell, habe der Verband einen wichtigen Trumpf in der Hand: Im Liefervertrag mit den Krankenkassen sei eine Nullretaxation explizit ausgeschlossen, wenn der Krankenkasse durch die Abweichung kein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist. Allein deshalb schon hält er die Kürzung auf Null bei fehlender Dosierangabe für rechtswidrig.

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Für einen wichtigen Trumpf hält Thomas Rochell, Vorsitzender des Apothekerverbands Westfalen-Lippe (2.v.l.), dass im hiesigen Liefervertrag eine Nullretaxation explizit ausgeschlossen sei, wenn der Krankenkasse durch die Abweichung kein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist.

Die Politik wird aufmerksam

Um die Politik für dieses Problem zu sensibilisieren, stehen die Sterne günstig, meint der Vorstandsvorsitzende: Inzwischen sei auch Berlin auf die Praktiken der Krankenkassen aufmerksam geworden, allen voran Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). In einem Schreiben an den Präsidenten der Apothekerkammer Schleswig-Holstein, Kai Christiansen, kündigte das Büro des Ministers an, Nullretaxationen wegen Formfehlern ein Ende setzen zu wollen.

Dass leider noch nicht allen klar sei, wie die Kassen mit den Apotheker­innen und Apothekern umspringen, sei Rochell erst neulich im Gespräch mit NRW-Gesundheitsminister Karl Josef Laumann (CDU) wieder klar geworden. „Ich habe zweimal versucht, ihm das Problem zu erklären, und nach fünf Minuten fragt er mich, was eigentlich Retaxationen sind“, sagte er merklich ernüchtert.

Verklärter Blick auf Finanzlage der Apotheken

Im Dialog mit dem Minister habe sich ein zweites Problem offenbart, mit dem die Apotheken derzeit zu kämpfen haben: Die wirtschaftliche Lage der Betriebe werde viel zu rosig wahrgenommen. Vor dem Hintergrund der Pandemie-Sondereffekte glaubten viele, dass die Betriebe die Erhöhung des Kassenabschlags problemlos stemmen könnten. Gegenüber Rochell ließ Laumann offenbar durchblicken, dass es den Apothekerinnen und Apothekern immerhin noch deutlich besser gehe als 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. „Ihr schafft das schon“, habe Laumann gesagt und Rochell auf die Schulter geklopft. Der AVWL-Vorsitzende hält das für eine fatale Fehleinschätzung. „Ich befürchte, die 2 Euro Kassenabschlag werden viele von uns finanziell überfordern.“ Gefährlich sei dabei auch die Aussage von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), A­potheken profitierten von der steigenden Zahl der Hochpreiser-Rezepte und könnten die Honorarkürzung damit ausgleichen. Eine „Milch­mädchenrechnung“ sei das, betonte Rochell und verwies diesbezüglich auf eine Analyse des DAZ-Wirtschaftsexperten Thomas Müller-Bohn. „Das kann wirtschaftlich nicht funktionieren – und wenn doch, dann gnade uns Gott, denn dann haben wir noch ganz andere Probleme.“

Denn damit diese (angebliche) Kompensation eintritt, müsste zum Beispiel nach Berechnungen Müller-Bohns der Rx-Arzneimittelumsatz um 8,6 Prozent steigen. Folglich müsste das Ministerium also milliardenschwere Mehrausgaben der GKV durch teurere Arzneimittel erwarten, obwohl 17 Milliarden Euro eingespart werden sollen. Bei Arzneimittel­ausgaben von 35,65 Milliarden Euro (für 2021, gemäß Apothekenwirtschaftsbericht, vor Rabattabzug) ginge es um gut 3 Milliarden Euro mehr. „Darüber sollte sich der Minister dann mehr Gedanken machen als über die Apotheken“, schreibt der Wirtschaftsexperte.

Können Dienstleistungen den erhöhten Kassenabschlag kompensieren?

Über die Hochpreiser wird sich die Erhöhung des Kassenabschlags also nicht kompensieren lassen. Und was ist mit den pharmazeutischen Dienstleistungen? Diese seien aus wirtschaftlicher Sicht aktuell eher eine Krücke als eine tragende Säule – dennoch betonte der AVWL-Chef ihre Bedeutung für die Zukunft der Präsenzapotheken. „Pharmazeutische Dienstleistungen, Präventionsange­bote wie Impfungen und neue digitale Dienstleistungen können bislang zwar weder die Kostenexplosion noch die Kürzung der Vergütung aufwiegen“, sagte er. „Wenn die Politik diese Felder aber weiter ausbaut und stärkt, könnten sich den Apotheken hier neue Chancen eröffnen.“

Das ändere jedoch nichts daran, dass die Offizinen keine weiteren Belastungen mehr verkraften könnten. Rochell wies auch auf die versteckten Kosten hin, mit denen die Betriebe zu kämpfen hätten – neben Retaxationen seien dies etwa Bürokratie und Lieferengpässe, deren Bewältigung sich letztlich auch finanziell auswirke. Er warnte die Politik davor, den Apotheken bei der anstehenden Strukturreform noch mehr aufzubürden. „Wer dies tut, trägt die Verantwortung dafür, wenn die flächendeckende, wohnortnahe Versorgung der Menschen wegbricht“, unterstrich der Vorstandsvorsitzende. „Er wird den Patientinnen und Patienten dafür Rechenschaft ablegen müssen.“

Stattdessen fordert er den Gesetz­geber auf, die Gewichte zwischen Krankenkassen und Selbstverwaltung neu auszutarieren, damit Verträge endlich wieder zustande kämen, ohne dass jedes Mal die Schiedsstelle entscheiden müsse. „Wenn Schiedsverfahren die Regel werden, ist die Selbstverwaltung ad absurdum geführt.“ Auch diesbezüglich sei der Gesetzgeber inzwischen offenbar sensibilisiert: Im Pflege­bonusgesetz habe er einen klaren Zeitrahmen vorgegeben, innerhalb dessen GKV-Spitzenverband und DAV sich auf die Rahmenbedingungen, insbesondere die Vergütung für impfende Apotheken, einigen mussten.

Ausgaben im Griff, Einnahmen wackeln

Bei der Präsentation des Rechnungsabschlusses 2021 zeigte sich AVWL-Geschäftsführer Bernd Rademacher zunächst optimistisch. Während der Verband im Jahr 2020 noch eine Verminderung des Eigenkapitals in Höhe von knapp 380.000 Euro verzeichnete – unter anderem aufgrund einer Corona-bedingt verspäteten Beitragsanpassung –, waren es im Jahr 2021 nur rund 240.000 Euro. „Möglicherweise schreiben wir in diesem Jahr wieder schwarze Zahlen“, sagte Rademacher. „Die Ausgabenseite haben wir gut im Griff.“

Doch nur wenig später goss Rade­macher Wasser in den Wein – Sorge bereite ihm die Einnahmenseite, erläuterte er bei der Vorstellung des Haushalts für das Jahr 2023. Denn dem bundesweiten Trend folgend, schließen auch in Westfalen-Lippe immer mehr Apotheken. Diese Entwicklung habe sich in den vergangenen zwei Jahren weiter beschleunigt, ergänzte er gegenüber der DAZ. „Anfang 2016 hatten wir noch 1506 zahlende Mitglieder. Diese Zahl ist innerhalb von fünf Jahren bis Anfang 2021 auf 1321 gesunken.“ Zu Beginn des Jahres 2022 verzeichnete der Verband noch 1310 Mitglieder – gegen Jahresende, erwartet Rademacher, werden es lediglich noch 1280 sein.

Weniger zahlende Mitglieder bedeuten letztlich auch weniger Mitgliedsbeiträge für einen Verband. In diesem Jahr wird der AVWL seine Beiträge nicht erhöhen – perspektivisch müsse man sich aber Gedanken machen, ob das aktuelle Modell noch trägt. Rademacher appellierte an die anwesenden Mitglieder, sich diesbezüglich aktiv einzubringen und Ideen zu entwickeln. „Es ist mir wichtig, das im Dialog mit unseren Mitgliedern zu lösen“, betonte Rademacher. „Wir freuen uns, wenn Sie auf uns zukommen und Vorschläge einbringen.“

Foto: AVWL

Apotheker Jens Kosmiky wurde neu in den Vorstand gewählt.

Kosmiky löst Pesch im Vorstand ab

Überdies vollzog der AVWL einen Wechsel im Vorstand: Jörg Pesch zog sich nach nunmehr elf Jahren standespolitischer Arbeit aus persönlichen Gründen aus dem Gremium zurück. Er dankte seinen Vorstandskolleginnen und -kollegen für die vertrauensvolle und konstruktive Zusammen­arbeit – die Mitgliederversammlung honorierte seinen Einsatz mit stehenden Ovationen.

Für Pesch rückt Apotheker Jens Kosmiky nach. Der 45-jährige Inhaber von vier Apotheken im Kreis Herford wurde einstimmig in den Vorstand gewählt. Bereits seit dem Frühjahr 2022 ergänzte er den siebenköpfigen Vorstand als kooptiertes Mitglied und sammelte so erste Erfahrungen in der Vorstandsarbeit. „Ich weiß also, was auf mich zukommt“, sagt Kosmiky. Die Zeiten seien herausfordernd für die Apotheken vor Ort: viele neue Aufgaben, Fachkräftemangel, Bürokratie, die Einführung des E-Rezepts und zugleich seit Jahren keine Anpassung der Vergütung – trotz galoppierender Inflation und explodierender Kosten. „Es gibt also viel zu tun“, so Kosmiky, „und ich freue mich darauf.“ |

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