Aus den Ländern

Nachhaltigkeit in der Pharmazie

16. Europäisches Pharmazeutinnen-Treffen in Münster

Am 3. September 2022 fand in Münster das 16. Europäische Pharmazeutinnen-Treffen statt. Claudia Eimers, die Schatzmeisterin des Deutschen Akademikerinnenbundes (DAB) hieß die Teilnehmerinnen willkommen. Sie erinnerte an die Gründungszeit des DAB 1926. Damals waren für die Akademikerinnen die Förderung der Frauen und des Friedens die wichtigsten Themen. Im Mittelpunkt des diesjährigen Treffens stand jedoch das Thema Nachhaltigkeit.

„Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht“. Mit diesem Zitat der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach begrüßte die ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening in ihrer Videobotschaft die Teilnehmerinnen. Die zunehmenden Klimaänderungen machen sich auch im Gesundheitsbereich bemerkbar. Nachhaltigkeit sei daher in der Pharmazie zu einer dringenden Notwendigkeit geworden.

Warum Nachhaltigkeit im Gesundheitsbereich und damit auch in der Pharmazie eine bedeutende Rolle spielen soll, verdeutlichte Karina Witte, Doktorandin am Lehrstuhl für Pharmazeutische und Medizinische Chemie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, im Einleitungsvortrag.

Im Jahre 1987 hat die Brundtland Kommission den Begriff Nachhaltigkeit definiert: Nachhaltigkeit ist die Befriedigung der Bedürfnisse der Gegenwart, ohne die Fähigkeit künf­tiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Die UN hat 17 Ziele erarbeitet, die für die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeit notwendig sind (beschlossen mit der Agenda 2030 auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2015).

An dritter Stelle stehen die Gesundheit und das Wohlbefinden. Laut dem Deutschen Arzneimittelgesetz sind Arzneimittel „Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden“. Sie sind damit essenziell für das dritte Ziel, das wiederum mit allen anderen Zielen interagiert.

Unser Gesundheitssystem fokussiert auf das Individuum und steht damit in Konflikt mit dem Wohl der Allgemeinheit, welches beispielsweise durch Arzneimittel im Abwasser, durch Antibiotika-resistente Bakterien und Verschmutzung durch ungeeignete Beseitigung von Arzneimittelresten beein­trächtigt wird. Unser Wirtschafts­system, in dem die Wirtschaftlichkeit der Apotheken bisher vom Verkauf von Arzneimitteln abhängt, trägt nicht zum Erreichen der oben genannten Ziele bei.

Nachhaltigkeit ist ein sehr komplexes System. Witte: „So ist nachhaltige Pharmazie die gleichzeitige, gleich­berechtigte und dynamische Einbe­ziehung von pharmakologischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten mit dem Ziel einer wirksamen Behandlung für die jetzige und die zukünftige Generation“. Sie hat eine klare Botschaft für uns: „Um etwas zu ändern, muss man das System verstehen, zum Beispiel: Wie kommen Arzneimittel ins Abwasser und wie kann man dies verhindern? In Oberflächengewässern wurde Metformin nach Daten des Bundesumweltamtes Deutschland 2020 als zweithöchste Konzentration nachgewiesen. Mit steigender Zahl der Typ-2-Diabetiker wird dieses Problem weiter zunehmen.“

Planetary Health

Das Problem erkennen: Wie kommen die Arzneimittel in die Umwelt? Warum werden sie eingenommen? Wie sind Probleme miteinander verbunden? Um diese Zusammenhänge zu verstehen, eignet sich der Begriff „Planetary Health“ als Zusammenhang zwischen der Gesundheit der gesamten menschlichen Zivilisation und der Gesundheit des Planeten als System, der auch in zwei weiteren Vorträgen des EWPM zitiert wurde. Die Menschheit verändert die Welt, gleichzeitig ist sie abhängig von einer gesunden Erde. Schon 1993 hat Per Fugeli erkannt: „Die Erde ist krank; es wird Zeit, dass die Ärzte eine Diagnose erstellen und mit der Behandlung beginnen“.

Dr. Gabriela Pura, Chefapothekerin des Rettungsdienstes für Cluj-Napoca, Lehrerin an der UMF Cluj-Napoca (Universität für Medizin und Pharmazie) und Präsidentin der Rumänischen Organisation der Krankenhausapotheker (ANFSR), schockierte die Teilnehmer: innen mit Bildern des Tarnita-Sees, der seit 2019 nicht mehr zur Trinkwasserversorgung der Region Cluj-Napoca genutzt werden kann, da dort illegal entsorgte Medikamente gefunden wurden. Wasserproben wurden entnommen, Untersuchungen aufgenommen, doch die Ergebnisse und die möglichen Verursacher sind bis heute nicht bekannt.

Foto: pellini/AdobeStock

Trügerische Idylle. Der Tarnita-See in Rumänien soll 2019 wegen illegal entsorgter Medikamente für die Trinkwasserversorgung gesperrt worden sein.

In Rumänien sind Apotheken nicht am Prozess der Abfallverwertung oder Vernichtung von Medikamenten beteiligt. Für den Endverbrauch von Medikamenten gibt es keine gesetzlichen Regelungen zur sicheren Beseitigung von Medikamentenresten. Zur Ver­nichtung von Betäubungsmitteln und psychotropen Arzneimitteln werden Firmen beauftragt, die bestimmte Richtlinien einhalten müssen. Erstrebenswert sind laut Gabriela Pura Maßnahmen, die hierarchisch folgende Ziele beim Umgang mit Ressourcen (hier Arzneimittel) haben: 1. Prävention, 2. Minimierung, 3. Wiederverwendung, 4. Recycling, 5. Beseitigung.

Gesundheitliche Folgen

Tracy Lyons, eine britische Apothekerin und Gründungsmitglied der Organisation „Pharmacy Declares“, beschrieb in ihrem Vortrag ausführlich die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels.

Die vier unmittelbaren Folgen des Temperaturanstieges führen zu mittelbaren gesundheitlichen Problemen:

  • Temperaturanstieg = Hitzetote, mehr Schlaganfälle, kardiovasku­läre Krankheiten
  • mehr extremes Wetter = Infektionen durch Insekten, die in Mitteleuropa nicht heimisch waren, Zunahme an Asthma und Allergien
  • Anstieg des Meeresspiegels = verunreinigtes und weniger Trinkwasser für alle
  • CO2-Anstieg = schlechtere Ernten und damit Mangelernährung in vielen Teilen der Welt = Zunahme der Migration.

Von diesen Folgen sind am meisten die vulnerablen Gruppen und Armen dieser Welt betroffen.

Pharmacy Declares stellt sich drei wichtigen Aufgaben:

  • den Klimanotstand auszurufen
  • zukünftig keine fossilen Brennstoffe zu verwenden und nachhaltig zu investieren
  • eine Führungsrolle in der Gesundheitserziehung bezüglich des Klimawandels zu übernehmen

Mittlerweile hat sich die Organisation über Großbritannien nach Irland, Spanien, Australien und die USA ausgedehnt und arbeitet mit anderen Organisationen des Gesundheitsbereiches wie dem National Health Service (NHS) und der Royal Pharmaceutical Society zusammen. Tracy Lyons freut sich über Unterstützung aus Deutschland; mehr Informationen über www.pharmacydeclares.co.uk

Ungenutzte Medikamente wiederverwenden

Die Wiederverwendung von ungenutzten, zurückgegebenen, teuren, oralen Medikamenten war das Thema von zwei weiteren Vorträgen.

Thoruun Gudmundsdottir vom Land­spitali, dem Nationalen Universitätskrankenhaus Islands, stellte die von ihrer Doktorandin und ihr durchgeführte Studie zur Akzeptanz von oralen Tumormedikamenten vor (Tyrosin-Kinase-Hemmstoffe und Thalidomid-verwandte Stoffe), die ungenutzt zurückgegeben wurden und an weitere Patienten verabreicht werden könnten. Die Ergebnisse der ersten Studie dieser Art in Island zeigen, dass die Bereitschaft sehr hoch ist, insbesondere angesichts der enormen Kosten- und Ressourcen­ersparnis. Voraussetzung für die Akzeptanz ist die garantierte Qualität der erneut eingesetzten Medikamente.

Dr. Charlotte Bekker, biomedizinische Wissenschaftlerin im Radboudumc Hospital in den Niederlanden, betonte, dass die Hierarchie der sinnvollen Nutzung von Medikamenten betrachtet werden sollte. Vorrangig seien eine rationale Verordnungsweise, eine gute Schulung der Patientinnen und Patienten im Umgang mit ihren Arzneimitteln, die Optimierung von Lieferketten: zum Nutzen für das Individuum, aber auch zum Nutzen für unseren Lebensraum im Zeichen des Klimawandels.

Planetary Health, in diesem Kontext sieht Bekker ihre Multicenter Studie, nicht verwendete orale Antitumormedikamente erneut zu verabreichen und dieses Verfahren im Radboudumc Hospital zu etablieren. Anschaulich zeigte sie, welche Schritte für ein solches Ansinnen im Regelbetrieb einer Klinik bedacht werden müssen. Die Qualität muss gewährleistet sein: Unversehrtheit der Packungen, Beachtung der Verfalldaten, Schutz vor Licht und Feuchtigkeit, Temperaturkontrolle (mittels Temperaturlogger). Für die Umsetzung ist eine enge Zusammenarbeit mit den berufsständischen Organisationen der Heilberufe, den Verbänden der pharmazeutischen Industrie und vor allem dem Gesetz­geber essenziell. Das Radboudumc Hospital hat eine schriftliche Genehmigung der Behörde für Volksgesundheit für diese Studie erhalten. Ambitioniert scheint Dr. Bekkers Ziel, bis 2023 die Wiederverwendung in allen niederländischen universitätsmedizinischen Zentren als Standard einzuführen.

Lösungsvorschläge erarbeitet

Im Anschluss an die Vorträge erarbeiteten die Teilnehmerinnen in einem Workshop Lösungsansätze zu den Themen: Sicherstellung der Qualität zurückgegebener Arzneimittel, Überwinden gesetzlicher Hürden und Fragen der Wirtschaftlichkeit und Honorierung bei Rückgabe von Arzneimitteln.

Die Teilnehmerinnen waren sich einig, dass die Qualitätskontrolle der zurückgegebenen Arzneimittel Aufgabe der Apothekerinnen und Apotheker ist. Dazu sind aber zusätzliche Angaben der Hersteller über Lagerungsbedingungen unerlässlich; außerdem muss die Rücknahme durch gesetzliche Grundlagen legitimiert sein. Momentan ist in allen europäischen Ländern die Rücknahme von Arzneimitteln untersagt.

Das nächste Europäische Pharmazeutinnen-Treffen findet am 23. September 2023 in den Niederlanden statt. |

Ulla Holtkamp und Antonie Marqwardt

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