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Gesundheitspolitik
Gesundheit aus dem Kiosk?
Wie die Politik mit neuen Konzepten gegen medizinische Benachteiligungen vorgehen will
Bild oben: Im August 2022 besuchte der amtierende Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den Gesundheitskiosk im Hamburger Stadtteil Billstedt. Lauterbach will langfristig in ganz Deutschland rund 1000 Gesundheitskioske für Patientinnen und Patienten in sozial benachteiligten Regionen einrichten.
Die Hamburger Gesundheitskioske verstehen sich als Anlaufstellen für gesundheitliche und medizinische Fragen. Patienten und Angehörige können sich mit vielerlei Problemen an die Einrichtungen wenden: entweder in Eigeninitiative oder nach einer Überweisung durch den Arzt. Um Kunde werden zu können, muss der Interessent eine Teilnahmeerklärung unterschreiben und damit einverstanden sein, dass seine Gesundheitsdaten erfasst und gespeichert werden. Zum Angebot gehört die Beratung in acht verschiedenen Sprachen, wie Englisch, Türkisch, Russisch oder Arabisch. Bei der Einstellung der examinierten Pflegekräfte wird darauf geachtet, dass sie die in den Wohnvierteln verbreiteten Sprachen sprechen. Das hilft, auch Personen angemessen betreuen zu können, die weniger gut Deutsch können. Sowohl persönlich vor Ort als auch online per Videocall sind die Gespräche möglich. Gesundheitsberater und sogenannte Gesundheitslotsen bieten für unterschiedliche Themengebiete Hilfestellung an. Von der Ernährungsberatung über die Begleitung von Schwangeren und Krebspatienten bis hin zur Hilfe für Menschen mit psychischen Problemen sind zahlreiche gesundheitliche Fragestellungen abgedeckt. Neben dem medizinischen Aspekt beinhaltet der Service der Gesundheitskioske aber auch Hilfestellungen in sozialen Belangen. Kurse und Gruppen werden angeboten sowie Vorträge zur gesundheitlichen Prävention. Die Gesunderhaltung der Menschen ist ein zentraler Punkt bei den Aufgaben der Gesundheitskioske. Die Zielsetzung ist, durch die Vernetzung von Gesundheitskiosken, Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen, diversen Vereinen bis hin zu Schulen das Gesundheitsangebot für die Einwohner der jeweiligen Bezirke auszubauen. Die Eigenverantwortlichkeit und Gesundheitskompetenz der Patienten sollen verbessert und Ärzte entlastet werden. Letztendlich strebt man auch die Senkung der Gesundheitsausgaben an, indem man durch Prävention Krankheiten verhindert. Bei Bedarf vermitteln die Gesundheitskioske Patienten und Hilfesuchende an eine für sie geeignete Stelle weiter.
Wie kam es dazu?
In den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn leben überdurchschnittlich viele Sozialleistungsempfänger, Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund. Gleichzeitig sind dort aber weniger Haus- und Fachärzte ansässig als in anderen Hamburger Bezirken. Laut dem Morbiditätsatlas Hamburg sind die Bewohner der Ortsteile früher und öfter von chronischen Erkrankungen betroffen als ein durchschnittlicher Hamburger. Dies verdeutlicht vor allem in den Altersklassen ab 65 Jahren die Einjahresprävalenzrate bei den Diabetes-Diagnosen. In Billstedt/Horn liegt sie bei rund 30 Prozent, während sie sich in gesamt Hamburg bei etwa 24 Prozent befindet.
Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist für die Stadtteilbewohner schlechter als woanders. Um gegen dieses Ungleichgewicht vorzugehen und auch um eine engmaschigere Betreuung von chronischen Patienten zu gewährleisten, wurde die Idee der Gesundheitskioske geboren. Als einfach zugängliche Einrichtungen sollen sie das vorhandene medizinische Angebot sinnvoll ergänzen und medizinische Benachteiligung reduzieren. Weitere Gedanken hinter der Idee sind die Verknüpfung von medizinischen und sozialen Sektoren sowie der Ausbau von präventiven Gesundheitsmaßnahmen.
Hinter den Hamburger Gesundheitskiosken steht die „Gesundheit für Billstedt/Horn UG“. Kostenträger sind mehrere Krankenkassen, bei denen der Großteil der Anwohner versichert ist. Dabei ist etwa die AOK Rheinland/Hamburg, DAK, Barmer, Techniker und Mobil BKK.
Positiver Nutzen der Gesundheitskioske
Ein positiver Nutzen der Gesundheitskioske geht aus einem Evaluationsbericht des Hamburg Center for Health Economics (HCHE) der Universität Hamburg von 2021 hervor. So legt der Bericht den Schluss nahe, dass sich der Zugang zu Angeboten der Gesundheitsversorgung und die gesundheitlichen Chancen durch die Kioske verbessert hatten. Zudem verdeutlicht die Evaluation, dass die Anwohner der jeweiligen Stadtteile öfter einen Arzt aufsuchten, die Patientenzufriedenheit erhöht wurde und sie weniger häufig in einem Krankenhaus behandelt werden mussten. Weiterhin wurde im Bericht empfohlen, ein derartiges Angebot in die Regelversorgung aufzunehmen.
Wie ein Kontakt in einem Gesundheitskiosk aussehen kann
Eine Frau mit Rückenproblemen sucht die Hilfe beim Aachener Gesundheitskiosk. In einem einstündigen Erstberatungsgespräch nimmt sich der Gesundheitsberater viel Zeit für sie. Er erfasst ebenfalls weitere Probleme, auch solche von sozialer Natur, mit einem Anamnesebogen. Dabei kommen weitere Probleme zum Vorschein, wie etwa ein arbeitsloser Ehemann und ein in der Schule gemobbtes Kind. Die Hilfestellung für die Kundin sieht in etwa folgendermaßen aus: Eine aktive Begleitung wird angestrebt, mit dem Angebot, den Gesundheitskiosk jederzeit wieder aufsuchen zu dürfen. Arzttermine werden vereinbart, Hilfsangebote bezüglich einer Zusammenarbeit mit anderen sozialen Stellen werden gemacht. Ziel ist es, neben der Herstellung ihrer Gesundheit und einer Verbesserung ihrer sozialen Situation, dass sich die Frau langfristig und selbstständig besser zurechtfindet und eigenständig nach weiteren Hilfsangeboten suchen kann, wenn sie erneut Unterstützung benötigt.
Hamburg als Beispiel für weitere Städte
Mittlerweile folgten auch andere Städte dem Hamburger Modell. So plant die Stadt Essen zwei Gesundheitskioske im Norden der Stadt in Altenessen und Katernberg. Der Standort in Altenessen wurde bereits im April 2022 eröffnet, und für den Standort Katernberg ist eine Eröffnung im Herbst 2022 geplant.
Auch in Aachen ist ein Gesundheitskiosk entstanden, der ebenfalls im April 2022 seine Tore geöffnet hat. Wie die anderen Kioske steht er in gesundheitlichen und sozialen Fragen beratend zur Seite. Er vernetzt dabei die gesamte Städteregion Aachen, zu der zehn Kommunen sowie die Stadt Aachen gehören. Zusätzlich zum Kiosk ist ein mobiles Angebot im Einsatz: der sogenannte Gesundheitsbus. Gemäß einem fixen Zeitplan macht er an bestimmten Orten innerhalb der Städteregion Aachen Station, wo ihn die Bürger aufsuchen können. In der Zukunft wird er auch im ländlichen Raum unterwegs sein, um dort älteren Menschen präventive Angebote nahezubringen und Versorgungslücken zu schließen.
Die Kostenübernahme für den Aachener Gesundheitskiosk erfolgt derzeit durch die AOK synergistisch mit der Sprungbrett gGmbH, unter welcher der Kiosk angesiedelt ist. Die gemeinnützige GmbH ist seit etwa 30 Jahren im Bereich der sozialen Arbeit aktiv, die sie nun um den gesundheitlichen Aspekt erweitert hat. Momentan ist sie mit weiteren Krankenkassen, als mögliche Kostenträger bezüglich der Kostenübernahmen, im Gespräch.
Wer sind die Gesundheitsberater?
Die Gesundheitsberater der Aachener Kioske haben alle eine medizinische Grundausbildung. Darunter sind Gesundheits- und Krankenpfleger, medizinische Fachangestellte, Gesundheitswissenschaftler oder Personen mit psychologischer Ausbildung. Durch die unterschiedlichen Ausbildungszweige wird eine große Bandbreite an medizinischen Hintergründen abgedeckt. Dazu kommen systemische Schulungen, die die Mitarbeiter regelmäßig durchlaufen müssen, beispielsweise mit dem Ziel, Krankheitsbilder zuverlässig zu erkennen. Die Schulungen beinhalten zusätzlich regelmäßige Gespräche mit Dr. Thomas Zimmermann, Diplom-Psychologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Hierbei werden alle zwei Wochen Fallbesprechungen und Supervisionen durchgeführt, um so aktiv einen Lernprozess zu gewährleisten.
Zusammenarbeit mit Apotheken?
Neben all der Vernetzung unterschiedlicher Akteure des Gesundheitswesens fällt eines auf: Die Rede ist nicht von Apothekern. Wie steht es also um eine Kooperation mit Apotheken? Ist pharmazeutisches Personal ebenfalls aktiv eingebunden im Netzwerk der Gesundheitskioske? Sowohl in Hamburg als auch in Aachen gibt es derzeit noch keine Zusammenarbeit mit Apotheken und pharmazeutischem Personal. In den Gesundheitskiosken wird jedoch festgehalten, welche Arzneimittel ein Hilfesuchender nimmt, und in einer Liste dokumentiert. Diese kann dann dem behandelnden Arzt zur Übersicht vorgelegt werden.
„Konkret gibt es noch keine Zusammenarbeit mit einer Apotheke, aber es gibt bereits Pläne“, so Elif Tunay-Çot, Leiterin des Gesundheitskiosks in Aachen. Da der Kiosk erst im April seine Tore geöffnet hat, ist naturgemäß noch einiges im Aufbau. Allerdings befindet sich eine Kooperation mit Apotheken bereits in der Planungsphase. Da der Aachener Gesundheitskiosk direkt dem Gesundheitsamt untergeordnet ist, werden die Ideen und Gedanken zur Zusammenarbeit mit Apotheken gemeinsam mit dem örtlichen Amtsapotheker besprochen. Er ist es auch, der derzeit Apotheken in der Städteregion Aachen anschreibt und sie über die Gesundheitskioske benachrichtigt. Die Apothekerkammer Nordrhein ist zudem eingebunden. Sie organisiert informierende Plakate, die an Apotheken verteilt werden.
Eine der möglichen Ideen, wie Apotheken in die Dienstleistungen der Gesundheitskioske eingebunden werden können, ist eine Medikamentensprechstunde. Dabei wäre es denkbar, dass jede Apotheke aus der nahen Umgebung rotierend an der Reihe ist. Ein pharmazeutischer Mitarbeiter der jeweiligen Apotheke würde dann den Kunden des Gesundheitskiosks zur Verfügung stehen, um Fragen zur Einnahme von Medikamenten zu beantworten.
Ersatzkassen kündigen Vertrag mit Hamburger Gesundheitskiosk
cm | In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass die Ersatzkassen den Versorgungsvertrag mit dem Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt gekündigt haben. Dies teilte der Virchowbund mit. Als Grund wird der Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) genannt, bundesweit 1000 Gesundheitskioske zu etablieren. Zudem spiele auch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz eine Rolle, das am vergangenen Freitag in erster Lesung im Bundestag beraten wurde. Mit dem Gesetz, das auch eine Erhöhung des Kassenabschlags von derzeit 1,77 Euro auf 2 Euro für die Dauer von zwei Jahren beinhaltet, soll ein drohendes Milliardenloch in den Kassen der GKV gestopft werden.
Der Virchowbund ist einer der Initiatoren des Projekts – der Vorsitzende des Verbands, Dirk Heinrich, findet drastische Worte zum Vorstoß des Ministers. „Lauterbach zerstört mit seiner erratischen und inkonsistenten Politik die gute Versorgung ausgerechnet in sozialen Brennpunkten.“ Die unausgegorenen Eckpunkte und ein Finanzierungsgesetz, das die Kassen unter erheblichen Druck bringt, seien die Ursache dafür, dass sich nun Kassen aus einem sozialen Projekt mit nachgewiesener Versorgungsverbesserung verabschieden. In der Folge müssten nun voraussichtlich gut eingearbeitete und hoch motivierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gesundheitskioskes entlassen werden. Das Schicksal des Projekts hänge jetzt an den Verträgen mit den verbliebenen Kassen.
Zusätzlich soll sondiert werden, welche Sprachen durch die Mitarbeiter teilnehmender Apotheken abgedeckt werden können. Ziel ist es, möglichst viele Sprachen von Kunden mit nur geringfügigen Deutschkenntnissen abzudecken. Hilfreich sind hier auch Kenntnisse über die Medikamenteneinnahme im religiösen Kontext. Wie sieht beispielsweise eine korrekte Einnahme während des Ramadans oder speziellen Fastenzeiten aus? Was kann man jemandem raten, der alkoholische Tropfen einnehmen muss, wegen seiner Religion aber auf Alkohol verzichtet?
Eine weitere Möglichkeit ist es, die Aufgaben des Gesundheitsbusses um einen pharmazeutischen Bereich zu erweitern, indem interessierte Apotheker die Möglichkeit erhalten mitzufahren.
Das Thema Gesundheitskioske beschäftigt auch die Apothekerschaft: Beim Deutschen Apothekertag vor zwei Wochen in München verabschiedeten die Delegierten unter anderem einen Antrag, in dem sie den Gesetzgeber auffordern, die ambulanten Strukturen der Gesundheitsversorgung, wie Praxen, Apotheken und ambulante Pflegeeinrichtungen, nachhaltig zu stärken. Dagegen sollen die „ohnehin knappen finanziellen Ressourcen gesetzlicher Krankenkassen und der Kommunen“ nicht für den Aufbau und den Unterhalt von Parallelstrukturen wie Gesundheitskioske eingesetzt werden.
Viele der Leistungen, die sich die Politik zukünftig in den Gesundheitskiosken vorstellt, würden schon heute durch die Leistungserbringer erbracht, heißt es zur Begründung. Dabei seien auch die Apotheken eingebunden. Darüber hinaus könnten neuartige Leistungen auch kurzfristig durch diese erbracht werden.
Elif Tunay-Çot ist dagegen zuversichtlich, dass sich mit Anlaufen der ersten Projekte und einer beginnenden Zusammenarbeit mit Apothekern weitere Ideen und Synergien ergeben werden: Alle mit dem Ziel, den Bürgern den Zugang zu Gesundheitsmaßnahmen langfristig zu erleichtern und zu gewährleisten, unabhängig von Krankenkassenzugehörigkeit, Geldbeutel oder sozialem Status. |
Literatur
Gesundheitskiosk wird Regierungsprogramm. Gesundheit für Billstedt/Horn UG (GfBH UG), https://gesundheit-bh.de/wp-content/uploads/2021/10/GfBH_Pressemitteilung_Koalitionsvereinbarung_20212411-scaled.jpg
Gesundheitskiosk. Heinrich-Böll Stiftung e. V. KommunalWiki, https://kommunalwiki.boell.de/index.php/Gesundheitskiosk
Erhart et al. Morbiditätsatlas Hamburg. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland rechtsfähige Stiftung, 2013, www.hamburg.de/contentblob/4133362/35bef19f920952a5b4bb098389834170/data/morbiditaetsatlas.pdf;jsessionid=51C1B0FDE68BE16C2864F87FD9F3C8C7.liveWorker2
Gesundheitskioske. Stadt Essen Presse- und Kommunikationsamt, https://www.essen.de/leben/gesundheit/gesundheit_im_essener_norden/gesundheit_im_essener_norden_gesundheitskioske.de.html
Wild E-M et al. Hamburg Billstedt/Horn als Prototyp für eine Integrierte gesundheitliche Vollversorgung in deprivierten großstädtischen Regionen. Gesundheit für Billstedt/Horn UG (GfBH UG), gefördert durch gemeinsamer Bundesausschuss Innovationsausschuss, 2020, www.hche.uni-hamburg.de/forschung/transfer/invest/2021-03-31-evaluationsbericht-langfassung.pdf
Habich I. Beratung, für die beim Arzt die Zeit fehlt. Daz.online, 17. März 2022, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2022/03/17/beratung-fuer-die-beim-arzt-die-zeit-fehlt/chapter:1
Gesundheitskiosk der Städteregion Aachen. StädteRegion Aachen, www.staedteregion-aachen.de/de/navigation/aemter/gesundheitsamt-a-53/gesundheitskiosk
Gesundheitsberatung in Ihrem Viertel. AOK Krankenkasse, https://gkinfo.de/wp-content/uploads/2022/03/220330_31_AOK_Gesundheitskiosk_Broschuere_OHNE_LOGO_DE.pdf
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