Foto: noppawan09/AdobeStock

Wirtschaft

Hochpreiser gefährden Grundversorgung

Analyse zu Möglichkeiten und Grenzen der Finanzierung von Arzneimittelinnovationen

Die Ausgaben für neue Arzneimittel zur Behandlung immer seltenerer Krankheiten steigen. Zugleich wird immer weniger Geld für die Grundversorgung mit Generika und für das Apothekensystem aufgewendet. Diese Schere kann nicht immer weiter auseinandergehen. Diese Analyse zeigt, wie weit die Entwicklung vorangeschritten ist, wo die Grenzen des Systems liegen und wie es weitergehen könnte. | Von Thomas Müller-Bohn

Wie ist das Gesundheitssystem bisher mit hochpreisigen Arzneimitteln umgegangen? Die ersten Arzneimittel, deren Preise als außergewöhnlich hoch wahrgenommen wurden, gab es in den 1990er-Jahren. Die erste Reaktion traf die Apotheken, die an den hohen Preisen der Pharmaindustrie nicht „mitverdienen“ sollten. Darum wurde 2004 das Kombimodell für die Rx-Preisbildung eingeführt. Der preisabhängige Aufschlag der Apotheken beträgt seitdem nur drei Prozent, und die Apotheken stehen nur noch am Rande der Hochpreiserdiskussion, aber die Folgen treffen sie weiterhin. Bei extrem hohen Preisen können sogar drei Prozent ein interessanter Aufschlag sein, aber für das Verfall-, Bruch- und Retaxrisiko sind sie ein kümmerlicher Ausgleich. Hochpreiser sind daher für Apotheken betriebswirtschaftlich ambivalent (siehe dazu den Beitrag „Enorme Preise, geringe Erträge, zu hohes Risiko? Was Hochpreiser für die Apotheken bedeuten“ von Reinhard Herzog auf Seite 52).

Es gab weiterhin viel gesellschaftliche Kritik an „den hohen Arzneimittelpreisen“, aber bis 2011 trafen die Gegenmaßnahmen überwiegend die ohnehin eher preisgünstigen Generika. Dahinter stand und steht der Anspruch eines Industrielandes, das seiner Industrie innovationsfreundliche Rahmenbedingungen und seiner Bevölkerung eine Gesundheitsversorgung auf höchstem Niveau bieten will. Offenbar wurde einige Zeit lang versucht, das Problem der steigenden Arzneimittelkosten durch immer mehr Druck auf die Generikapreise zu lösen. Doch 2011 wurde die frühe Nutzenbewertung mit anschließenden Preis­verhandlungen für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen oder neuen Anwendungsgebieten eingeführt. Trotzdem steigt der Anteil der patentgeschützten Arzneimittel an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für Arzneimittel weiter.

Ungleichgewicht zwischen Generika und Innovationen

Nach Angaben von Progenerika wendeten die GKV-Patienten im Jahr 2021 insgesamt 45,9 Milliarden (Mrd.) Tagestherapiedosen (DDD) an. Davon waren 36,3 Mrd. DDD Generika, 6,9 Mrd. DDD patentfreie Erstanbieterprodukte (Altoriginale), 0,14 Mrd. DDD Biosimilars und 2,5 Mrd. DDD patentgeschützte Arzneimittel. Es entfielen also 79,1 Prozent der DDD auf Generika, aber nur 5,4 Prozent auf patentgeschützte Arzneimittel. Von den 33 Mrd. Euro Arzneimittelausgaben der GKV gingen vor Abzug von Rabatten aus Rabattverträgen 5,9 Mrd. Euro, also 17,9 Prozent an die Generikahersteller. Nach Abzug der Rabatte blieben den Generikaherstellern nur 2,02 Mrd. Euro von insgesamt 27,9 Mrd. realen Arzneimittelkosten nach Rabatten (Quelle: Progenerika und IGES-Berechnungen nach NVI [Insight Health], siehe [1]). Demnach wurden für 79,1 Prozent der Arzneimittelversorgung nur 7,2 Prozent der Finanzmittel eingesetzt. Unter Berücksichtigung der Altoriginale dürfte das Missverhältnis noch größer sein. Die obigen Zahlen bedeuten, dass die GKV 25,9 Mrd. Euro für patentgeschützte Arzneimittel, Biosimilars und Altoriginale ausgegeben hat, woran Letztere nur einen sehr geringen Anteil haben dürften, weil sie der gleichen Preisbildung wie Generika unterliegen. Das sind etwa 9,1 Prozent der GKV-Gesamtausgaben von 284,33 Mrd. Euro (siehe [2]). Für die Wertschöpfung der Apotheken zahlte die GKV 5,52 Mrd. Euro bzw. 1,9 Prozent ihrer Ausgaben [2].

Immer mehr Geld für Nischenindikationen

Auch unter den patentgeschützten Arzneimitteln gibt es mehr oder weniger hochpreisige Produkte. So lässt sich die Betrachtung weiter zuspitzen. Gemäß Angaben der ABDA hatten 0,6 Prozent der im Jahr 2020 in Apotheken zulasten der GKV abgegebenen Arzneimittel einen Verkaufspreis über 1500 Euro (vor Abzug von Rabatten). Der Umsatzanteil dieser Arzneimittel betrug hingegen 34,9 Prozent [3].

Nach Angaben des Wissenschaftlichen Instituts der AOK machten im Jahr 2020 die 0,06 Prozent der Tagesdosen, die für besonders teure Orphan Drugs aufgewendet werden, im GKV-Gesamtmarkt 11,8 Prozent der Arzneimittelkosten aus [4]. Bei effektiven Arzneimittelgesamtkosten von 25,5 Mrd. Euro (nach Abzug von Rabatten, siehe [1]) wären das etwa 3 Mrd. Euro und damit weit mehr als die GKV-Ausgaben für alle Generika nach Rabattabzug von 2,15 Mrd. Euro im Jahr 2020 (siehe [1]).

Unterschiedliche Preisbildungssysteme

Die letztgenannten Vergleiche zeigen, wie weit sich die verschiedenen Segmente der Arzneimittelversorgung ausei­nanderbewegt haben. Grundsätzlich kann diese Entwicklung nicht überraschen. Denn sie ergibt sich zwangsläufig aus den grundlegenden Unterschieden zwischen den preissenkenden Eingriffen bei Generika und bei patentgeschützten Arzneimitteln. Im patentgeschützten Bereich verfolgen Politik und Krankenkassen insbesondere das Ziel, nur für einen nachgewiesenen Zusatznutzen im Vergleich zu etablierten Behandlungen zu zahlen. Die Bedeutung von Innovationen wird dabei grundsätzlich anerkannt. Die Frage ist nicht, ob Innovation honoriert wird, sondern wie dies geschieht und was als Innovation gilt. Dabei gibt es durchaus strittige Fragen, insbesondere zu mangelnden Anreizen für neue Arzneimittel gegen große Volkskrankheiten (siehe unten).

Doch das unterscheidet sich grundlegend von der Situation bei den nicht patentgeschützten Arzneimitteln. Deren Preise werden mit Instrumenten für praktisch beliebig auf dem Weltmarkt verfügbare Verbrauchsgüter gesteuert. Der Preisdruck ist dort viel stärker. Diese Produkte werden damit nicht mehr mit ihrer Besonderheit als Arzneimittel gewürdigt, deren Wirkstoffe in vielen Fällen ebenso wenig substituierbar sind wie bei patentgeschützten Arzneimitteln. Festbeträge, die seit Jahrzehnten tendenziell sinken, und Rabattverträge, die sich primär am Preis orientieren, führen systembedingt zu immer geringeren Preisen. Versorgungssicherheit oder Sozial- und Umweltstandards bei der Produktion werden bestenfalls als zusätzliche Ziele ergänzt.

Grenzen des AMNOG-Verfahrens

Darum müssen die Ausgaben für patentfreie und patent­geschützte Arzneimittel immer weiter auseinandergehen. Die forschende Pharmaindustrie kann daher nach Patent­ablauf aus ihren Produkten keinen nennenswerten Ertrag mehr generieren und wird stärker als früher getrieben, immer wieder neue Arzneimittel anzubieten und dabei möglichst hohe Preise zu erzielen. Dies kann wie ein System kommunizierender Röhren interpretiert werden. Der hohe Druck im patentfreien Markt erhöht den Druck, im patent­geschützten Bereich die höchstmöglichen Preise durchzu­setzen. Anders als früher können Erträge aus etablierten Produkten nicht mehr zur Finanzierung von Innovationen beitragen. Dieses Phänomen haben die Volkswirtschafts-Professoren Cassel und Ulrich als „AMNOG-Paradoxon“ beschrieben [5]. So veranlasst die vergleichsweise erfolgreiche Preisregulierung in den Preisverhandlungen nach der frühen Nutzenbewertung die Hersteller dazu, in der nächsten Innovationsrunde die zunächst freien Preise noch höher anzusetzen. Langfristig treibt das die Preise weiter in die Höhe.

Dies zeigt, dass bei einer Regulierung nicht nur die unmittelbare Wirkung auf die jeweils zu bewertenden Produkte zu beachten ist, sondern mit zunehmender Anwendungsdauer der Regeln auch die Anreizwirkung auf die Industrie. Dies gilt besonders für die Anforderungen an den Nachweis des Zusatznutzens. Dafür werden praktisch nur randomisierte kontrollierte Doppel-Blind-Studien akzeptiert. So ist es vergleichsweise einfach, eine kurze Lebensverlängerung in der Endphase einer Tumorerkrankung nachzuweisen, aber nahezu unmöglich, eine auf Jahrzehnte angelegte bessere Steuerbarkeit bei einer chronischen Volkskrankheit wie Diabetes mellitus oder Bluthochdruck zu belegen. Der zunächst verständliche Wunsch, nur „echte“ Innovationen zu honorieren, führt damit langfristig dazu, dass die Anreize zur Forschung bei langwierigen Volkskrankheiten schwinden und die Forschung sich eher auf kleinere, in Studien gut fassbare Zielgruppen ausrichtet. Dieses Problem wurde schon vielfach thematisiert (siehe z. B. [5]). In dem hier in­teressierenden Zusammenhang des hohen Anteils der patentgeschützten Arzneimittel an den Gesamtausgaben für Arzneimittel bewirkt dieses Phänomen, dass die hohen Beträge für neue Arzneimittel tendenziell immer weniger Menschen zugute kommen. Damit greift auch das wichtige ökonomische Argument, dass Innovationen die spätere teure Versorgung ungünstiger Krankheitsverläufe bei vielen Menschen verhindern, hier kaum noch.

Möglichkeiten und Grenzen des Systems

Viel Geld auch für ausgefallene Probleme und für wenige Patienten auszugeben, ist ein ethisch erstrebenswertes Ziel, solange die „normale“ Versorgung für das Gros der Gesellschaft gesichert ist. Volkswirtschaftlich ist es auch sinnvoll, dass Innovationen viel mehr als etablierte Produkte honoriert werden. Doch bei allem Fortschritt in der Spitzenmedizin dürfen die Notwendigkeiten der Grundversorgung nicht außer Acht gelassen werden. Wenn für die normale Versorgung angeblich oder tatsächlich nicht mehr genügend Geld vorhanden ist, erscheinen die Innovationen in einem neuen Licht. Die Ausgaben für diese Arzneimittel müssten dann nicht nur an ihrem Zusatznutzen, sondern auch an den Opportunitätskosten für die normale Versorgung gemessen werden. Die Frage wäre dann: Inwieweit könnte die normale Versorgung stabilisiert werden, wenn das Geld dorthin und nicht in diese Innovation fließen würde? – Doch ist das Gesundheitssystem in Deutschland an einem Punkt angekommen, an dem eine solche Frage gestellt werden muss?

Die Antwort ergibt sich möglicherweise aus einer weiteren Überlegung: Eine wesentliche Sorge der Krankenkassen ist stets, dass ein hochpreisiges innovatives Arzneimittel für eine große Bevölkerungsgruppe die Zahlungsfähigkeit des Systems überlastet. Dies wurde beispielsweise vor etwa zehn Jahren bei den damals neuen Therapien gegen Hepatitis C befürchtet, aber das System hat das gut verkraftet. Für diese Arzneimittel wurden zeitweilig Zusatzbudgets in Höhe von mehreren Milliarden Euro bereitgestellt. Für Arzneimittel, die offensichtlich einen hohen Nutzen haben, war also zusätzliches Geld verfügbar.

Diese Logik sollte auch für die Grundversorgung großer Bevölkerungsgruppen mit Generika und für die Sicherung des Apothekensystems gelten. Wenn für zentrale Säulen der Versorgung mehr Geld nötig ist, sollte dieses Geld auch eingesetzt werden. Der Preisdruck darf nicht soweit getrieben werden, dass die Versorgungssicherheit gefährdet wird. Spätestens die Inflation sollte hier zum Anlass für eine grundlegende Neuorientierung bei den Ausgaben für Generika und für das Apothekensystem werden. Denn bei steigenden Preisen in der gesamten Volkswirtschaft kann kein Versorgungssystem mit weniger Geld auskommen. Wenn allerdings nicht genug Geld vorhanden sein sollte, müsste das Verhältnis zwischen Innovationen und Basisversorgung neu austariert werden. Irgendwann wird das ohnehin nötig sein, weil die Schere zwischen beiden Bereichen systembedingt immer weiter auseinandergeht und dies nicht endlos so weitergehen kann. Damit ergeben sich auf kurze und auf lange Sicht unterschiedliche Konsequenzen.

Kurzfristig: Mehr Geld für die Grundversorgung

Auf kurze Sicht gilt es, den Blick für die finanziellen Relationen zu schärfen. Die Preise für Generika sind ausgereizt. Lieferengpässe beeinträchtigen auch die Versorgung bei patentfreien Arzneimitteln für die Grundversorgung. Die zu starke Konzentration von Herstellungskapazitäten kann bei neuen weltpolitischen Problemen eine existenzielle Krise auslösen. Doch wenn die ganze Generikaversorgung der GKV nur gut zwei Milliarden Euro pro Jahr kostet, könnten wohl schon wenige Milliarden Euro hier grundlegende Verbesserungen bringen. Es erstaunt, dass dabei gezögert wird, während der Umsatz eines einzigen hochpreisigen Arzneimittels in Deutschland durchaus eine Milliarde Euro betragen kann und insgesamt für innovative Arzneimittel ein Vielfaches der Gesamtausgaben für Generika aufgewendet wird. Die langfristige Versorgungssicherheit ist viel mehr wert. Sparen könnte hier sehr teuer werden, wie es derzeit bei der Gasversorgung schmerzhaft zu erleben ist.

Langfristig: Gesellschaftliche Zahlungs­bereitschaft ermitteln

Auf lange Sicht wird allerdings irgendwann die Frage unausweichlich sein, wie viel die Gesellschaft für Innovationen ausgeben will. In Deutschland gibt es keine institutionalisierte pharmakoökonomische Bewertung, aber die Wissenschaft und die Bewertungen in anderen Ländern zeigen, dass die hohen Preise vieler neuer Arzneimittel durchaus rational begründbar sind. Diese Argumentation kann jedoch an drei Grenzen stoßen:

  • Erstens betrifft die Bewertung immer nur den Zusatznutzen neuer Therapien. Dass die etablierten Therapien stattfinden, wird als selbstverständlich vorausgesetzt.
  • Zweitens hängt die Bewertung teilweise von der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft ab, die sich ändern kann. Möglicherweise ist daher ein Umdenken bei der Auswahl der Indikationen für die Forschung gefragt.
  • Drittens zielen alle wissenschaftlichen Instrumente der Pharmakoökonomie ausdrücklich auf das Konzept „value for money“. Der Einsatz finanzieller Mittel soll zusätzlichen Nutzen bringen. Diese Logik greift jedoch nicht mehr, wenn nicht mehr genügend Mittel vorhanden sind.

Die Grenze des Systems wäre demnach erreicht, wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Gesellschaft nicht mehr mit den pharmazeutischen Erfolgen der Industrie mithalten kann. Je schlechter die Konjunktur läuft, umso mehr wird diese Grenze wirksam. |
 

Literatur

[1] Progenerika. Generika in Zahlen. Zum Kalenderjahr 2021.

[2] ABDA. Apothekenwirtschaftsbericht 2022. DAV-Wirtschaftskonferenz, Berlin, 27. April 2022

[3] ABDA. Die Apotheke, Zahlen, Daten, Fakten 2021

[4] Telschow C et al. Der Arzneimittelmarkt 2020 im Überblick, in: Schröder H et al. (Hrsg.). Arzneimittel-Kompass 2021. Springer Verlag. verfügbar über Wissenschaftliches Institut der AOK

[5] Cassel D, Ulrich V, in: Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V. AMNOG-Daten 2019

Autor

Dr. Thomas Müller-Bohn, Apotheker und Dipl.-Kaufmann, DAZ-Redakteur

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.