Foto: Simon/AdobeStock

Berufsbild

Vor Ort, niederschwellig und vernetzt

Apotheken als Teil regionaler Gesundheitskonzepte

Reine Logistik wird nicht mehr ausreichen. Die Corona-Pandemie hat es erfordert, Apotheken haben gezeigt, dass sie es können, und das Konzept „Apotheke 2030“ der ABDA will es. Wo genau liegt aber das Potenzial der Apotheken als Gesundheitsdienstleister und wie kommen wir dahin? Regionale Gesundheitskonzepte zeigen schon heute, worauf es in Zukunft ankommt. | Von Helmut Hildebrandt und Harald Schmidt 

Nicht nur Apotheken spüren den Druck, unser gesamtes Gesundheitssystem fährt gegenwärtig mehr oder weniger gegen die Wand [1]. Sowohl im weltweit teuersten Gesundheitssystem der USA [2] als auch in Großbritannien sinkt mittlerweile die Lebenserwartung. Und Deutschland, Europas teuerstes Gesundheitssystem, rangiert auf Platz 19. Seit 1900 hat sich am Beispiel USA die Lebenserwartung zwar verbessert, aber ausschließlich durch die Verhinderung (Hygiene, Impfungen) und Behandlung (Antibiotika) von Infektionskrankheiten. Rechnet man diesen Anteil raus, bleibt kein Zugewinn übrig [3]. Immer mehr Ressourcen fließen dagegen in die Behandlung chronischer Erkrankungen und Pflege. Wir haben also eher ein Krankheits- und kein Gesundheitssystem.

Das eigentliche Potenzial eines neuen Gesundheitssystems liegt daher in der Verhinderung von Erkrankungen, also in der Prävention. Auch aus Sicht der Apotheken ist das Thema hochrelevant, denn allein durch die standardmäßige oder erweiterte Medikationsberatung sollen unerwünschte Arzneimittelwirkungen oder Wechselwirkungen und damit Komplikationen und Krankheitsprogression verhindert werden. Dass diese Leistung im Rahmen der pharmazeutischen Dienstleistungen inzwischen honoriert wird, ist ein längst überfälliger Schritt gewesen. In anderen Tätigkeitsbereichen der Apotheken ist solch ein innovativer Vergütungsansatz dagegen noch nicht zu finden. Denn raten wir von unnötiger Selbstmedikation mit OTC-Arzneimitteln, Nahrungsergänzungsmitteln oder Homöopathika ab, schneiden wir uns – finanziell gesehen – ins eigene Fleisch. An dieser Stelle scheinen wir nach wie vor zwiegespalten zu sein, da ja der Verkauf von Arzneimitteln und das Beliefern von Rezepten noch immer der wesentliche Einkommensfaktor für Apotheken ist. Da zukünftig aber vermehrt der Fokus auf der Verordnung von präziseren und damit weniger Arzneimitteln liegen wird, müssen die Apothekenleistungen vermehrt über andere Wege vergütet werden.

Die neue Wellbeing-/Wellness-Ökonomie

Das Potenzial wird bei einem Blick in die USA deutlich. Hier bildet sich aktuell die sogenannte Wellness-/Wellbeing-­Industrie, ein Markt der laut globalwellnessinstitute.org in 2017 auf 4200 Milliarden eingeschätzt wurde, was zumindest eine wirtschaftliche Perspektive unterstreicht.

Die Vermittlung und Implementierung effektiver Prävention benötigen neue Kompetenzen. Sie darf nicht nach Verzicht und Pflicht klingen, sondern nach Genuss, einem Produkt oder Angebot, das man gerne wahrnimmt und damit eher nebenbei etwas für seine Gesundheit tut. Zudem sollte nicht, wie gegenwärtig, allen Menschen nur zur Risikovermeidung geraten werden. Das überwältigt und demotiviert. Stattdessen fokussiert sich Präzisionsprävention auf die individuellen Gesundheitsrisiken.

Für Deutschland ist nicht die Frage, ob diese Entwicklung kommt, sondern wann und wie, das heißt allein auf Selbstzahler-Basis oder staatlich bzw. GKV-unterstützt. Gegenwärtig begnügen sich Krankenkassen noch mit Angeboten wie Fitness-Gutscheinen, die eher dem Marketing zuzurechnen sind als echter Prävention. Betrachtet man die neue Gesundheitsökonomie aus Sicht der Apotheken, fällt ein riesiges Potenzial auf. Sind Apotheken im Moment eher nachge­ordnete Rezeptbelieferer mit Ärzten als wesentlichen Entscheidern, bietet sich nun die Möglichkeit, in das Zentrum zu rücken. Apotheken eignen sich so hervorragend hierfür, da Präventionsangebote niederschwellig sein müssen.

Die neue Wellbeing-/Wellness-Ökonomie und der Beginn eines echten Gesundheitssystems. Dunkelrot: Die klassische Medizin im Erkrankungs- und Verletzungsfall ist weiterhin Teil dieses Systems, aber ein eher kleiner Reparatur-Teil. Der Fokus liegt auf Prävention durch individuelle (humangenetisch ermittelte) attraktive und effektive Coaching-Angebote zu Ernährung, Gewichtsabnahme, Fitness, gesundem Wohnen und Arbeiten, Gesundheitstourismus bis hin zu Körperpflege. Die Zahlen beziffern das wirtschaftliche Potenzial in Milliarden US-Dollar.

Pharmaceutical-Care-Lösungen aus den USA und Großbritannien

Die Rollen und Aufgaben der unterschiedlichen Berufsgruppen und Einrichtungen im Gesundheitswesen verändern sich in allen entwickelten Ländern mit einem Trend zu neuen Formen der Integration der Gesundheitsversorgung. Stichwörter lauten Integrated Healthcare Delivery und Population Health Management (PHM), also Management der Bevölkerungsgesundheit. Dabei geht es um Versorgungsformen, die versuchen, drei Zieldimensionen zugleich zu erreichen: Verbesserung des Gesundheitsstatus der Bevölkerung, eine gute und patientennahe Organisation der Versorgung und möglichst geringe Gesamtkosten. Oft wird hierfür die Organisation der Versorgung durch eine regionale Managementstruktur verändert, die über ergebnisorientierte Verträge wie z. B. regionale Budgetmitverantwortung ein wirtschaftliches Interesse an den obigen drei Zielen erhält. International gibt es diverse innovative Ansätze von PHM durch Netzwerke von Apothekern, von denen hier einige vorgestellt werden.

Das Potenzial ist hoch, z. B. im Medikationsmanagement. In den USA sind bis zu 19 Prozent aller Krankenhauseinweisungen auf Medikamente zurückzuführen, in Großbritannien bis zu 11 Prozent; in Deutschland mindestens 5 Prozent. Die meisten davon entfallen auf Personen über 65 Jahre, die fünf oder mehr Medikamente einnehmen. Mindestens die Hälfte wäre vermeidbar. Neben den Firmenketten-Apotheken gibt es in den USA noch immer über 21.000 unabhängige Gemeindeapotheken (Community Pharmacists) [4]. Während chronisch kranke Patienten ihre Apotheke etwa 35 mal pro Jahr besuchen, sind dieselben Patienten durchschnittlich nur 3,5 mal pro Jahr in ihrer behandelnden Arztpraxis. Immer wieder wurde daher überlegt, ob Apotheken sich nicht sinnvoll mit integrierten Versorgungs­lösungen kombinieren lassen [5 – 8]. Das Center for Medicare and Medicaid Services des U. S. Department of Health and Human Services unterstützt dies, zum einen indem es sich für erweiterte pharmazeutische Dienstleistungen (Pharmaceutical Care Services) einsetzt, zum anderen indem Vereinbarungen über die Zusammenarbeit mit Ärzten (Collaborative Practice Agreements, CPAs) sowie andere Partnerschaften ermöglicht werden.

Ein besonders erfolgreiches Beispiel ist das Community Pharmacy Enhanced Services Network (CPESN® USA). In Großbritannien unterstützt der Aktionsplan „Prescription for Excellence“ eine verbesserte koordinierte Versorgung zwischen Apothekern, Ärzten und anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen sowie das Medikamentenmanagement von Mehrfacherkrankten. Apotheker können sich zu „Verschreibern“ ausbilden lassen, um Patienten mit Multimedikation und Multimorbidität zu übernehmen und ihre Arzneimittelversorgung zu managen, d. h. Arzneimittel zu verschreiben und zu ändern. Zusatzqualifizierte Gemeinde­apotheker fungieren nicht nur in Praxen oder Kliniken, sondern auch in der Apotheke selbst als erste Anlaufstelle für chronisch kranke und multimorbide Patienten im Hinblick auf Polypharmazie.

Regionale Gesundheitskonzepte als deutsches Proof-of-Concept

Und Deutschland? Es tut sich was. Proof-of-Concept sind hier die regionalen Gesundheitskonzepte [9], zum Beispiel im Kinzigtal im Schwarzwald oder im Werra-Meißner-Kreis in Nordhessen oder rund um den geplanten Gesundheits-Kiosk in Wattenscheid/Bochum. Dort werden völlig neue Versorgungskonzepte erarbeitet und validiert, die Ärzte und Apotheker von den Zwängen der gegenwär­tigen Input-Medizin befreien. Ärzte sind nicht mehr darauf angewiesen, Fließband-Medizin im Schnelldurchgang und 7-Minuten-Takt pro Patienten durchzuführen, sondern bekommen für die Entwicklung von Gesundheitszielen und die Führung ihrer Patienten zur erfolgreichen Umsetzung eine feste Extrasumme für die bei Ihnen eingeschriebenen Patienten. Das Ziel ist jeweils, so frühzeitig die richtige Lebensstiländerung und die Vermeidung einer Progression der Erkrankungen zu erreichen und dabei eine bessere Versorgung zu erzielen. Im Ergebnis kommt es dann zu einer höheren Patientenzufriedenheit, einem niedrigeren Krankenstand, und – überraschenderweise – geringeren Kosten. Auf diese Weise wird plötzlich viel mehr Geld in Prävention investiert und interessanterweise spielen hierbei im Werra-Meißner-Kreis Apotheken mit Mitarbeitern, die als Gesundheits-Coach trainiert worden sind, eine wesentliche Rolle. Apotheken bieten ein niederschwelliges Entrée für Patienten oder Noch-Nicht-Patienten, um sich rechtzeitig über Präventions-Angebote informieren zu lassen und diese auch nachhaltig anzuwenden.

„Mich hat der Ansatz der nachhaltigen regionalen Gesundheitsversorgung von Anfang an begeistert und es bieten sich hier auch interessante Weiterbildungsangebote. Besonders die Ausbildung zur Gesundheitslotsin bzw. -coach erweitert den eigenen Horizont und zeigt viele neue Möglichkeiten für eine Patienteninteraktion auf. Daneben ist es sehr interessant, die anderen regionalen Gesundheitsakteure des Netzwerkes kennenzulernen. Es ist eine positive Erfahrung, losgelöst von der reinen Arzneimittellogistik in die kontinuierliche Gesundheitsbetreuung eines Patienten durch Setzen von Gesundheitszielen und einer motivierenden Gesprächsführung eingebunden zu sein. Ich bin froh, dass der Pharmazie hiermit eine Zukunft aufgezeigt werden kann. Allerdings braucht es für diese Zukunft noch mehr Pharmazeuten, die den Wert einer nachhaltigen Gesundheitsversorgung erkennen, um den bereits eingeschlagenen Weg der Bedeutungslosigkeit der Pharmazie wieder in eine zukunftsweisende Richtung zu führen.“

Dr. Tina von Thülen, Apothekerin, ­Gesundheits­lotsin beim Gesunden Werra-Meißner-Kreis

Im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftsbetrieb und Serviceleistungen bietet das Konzept der regionalen Gesundheitsversorgung durch Förderung von Präventionsangeboten und pharmazeutischen Dienstleistungen wie Medikationsanalysen die Chance auf einen gesundheitlichen Mehrwert. Die Zunahme von chronischen Erkrankungen erfordert eine Bewusstseinsbildung für Lebensstiländerungen. Das pharmazeutische Personal einer Apotheke kann aufgrund des Ihnen entgegengebrachten hohen Vertrauens seitens der Bevölkerung Brücken zu einer nachhaltigeren Gesundheitsversorgung bauen. In Zeiten knapper werdender Ressourcen sollte das Potenzial der Pharmazeuten nicht länger durch veraltete und verstaubte Studienfächer oder bürokratische Regelungen vergeudet werden, sondern durch ein richtiges Anreizsystem zielführend für den Aufbau einer nachhaltigen und sozial gerechten Gesundheitsversorgung eingesetzt werden. Durch Förderung gesünderer Lebensstile in Bezug auf Ernährung und aktive Mobilität (Fahrrad fahren, zu Fuß gehen) wird gleichzeitig auch ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz geleistet. Die durch den Klimawandel erzeugte Dringlichkeit zum Handeln bietet hier auch den Pharmazeuten eine Chance, durch eine klimasensible Gesundheitsberatung ihre Vorbildfunktion für einen nachhaltigen Beitrag zu nutzen. Ziel sollte es sein, nicht mehr länger Teil einer industriellen Versorgungslandschaft eines fragmentierten Gesundheitssystems zu sein, sondern durch Förderung einer aktiven Teilnahme an Gesundheitsprogrammen regionaler Netz­werke und einer damit einhergehenden Verbesserung der medizinischen Ergebnisqualität, ein nachhaltiges Zeichen zu setzen. Neben Kosteneinsparungen im Arzneimittel­bereich sind weitere positive synergistische Effekte wie eine höhere Arbeitszufriedenheit aufseiten des pharmazeutischen Personals, Patientenbindung und die Förderung von Bildung zu nennen.

Dass Apotheken auch Funktionen der Quartiersentwicklung mit übernehmen können, zeigt auch ein anderes Beispiel. So hat die Osttor-Apotheke in Hiltrup-Ost im Rahmen eines Projekts „Altersgerechte Quartiersentwicklung“ die Aufgabe übernommen, für die älteren Menschen im Stadtteil als niedrigschwellige Anlaufstelle zu fungieren. Regelmäßige „Sprechstunden“ einer Mitarbeiterin des Sozialamtes in der Offizin der Apotheke haben so dazu geführt, dass ein gemeinsamer Mittagstisch im Stadtteil eingeführt wurde. Iris Bönning, die Inhaberin der Apotheke, berichtet, dass die Anwesenheit der Vertreterin des Sozialamtes von den Kunden als positiv erlebt wurde, der Betriebsablauf nicht gestört wurde und die Apotheke in gewisser Weise zu einem Knotenpunkt im Quartier geworden ist. Auch wenn durch Corona die Aktivitäten zurückgefahren worden sind, empfiehlt sie anderen Apotheken sehr, sich für ähnliche Projekte stark zu machen.

„Unsere tägliche Arbeit ist wichtig, keine Frage. Aber sehen wir nicht jeden Tag auch Patientinnen und Patienten, die bei frühzeitiger Intervention weniger Medikamente nehmen müssten, weniger krank wären und eine bessere Prognose hätten? Regionale Gesundheitskonzepte, wie wir sie aktuell in der Werra-Kali-Region rund um Heringen planen, sind eine Chance, uns als Berufsstand weiterzuentwickeln und durch präventive Angebote und durch die Optimierung der pharmazeutischen Versorgung gemeinsam mit den niedergelassenen Ärzten gleichzeitig das Leben vieler positiv zu beeinflussen. Dies stärkt nicht nur die Gesundheit vieler, sondern auch die öffentliche Apotheke.“

Stefan Göbel, Inhaber der Brücken Apotheke und Glückauf Apotheke in Heringen

Die Bayerische Landesapothekerkammer hat sich mit der Gründung des WIPIG – Wissenschaftliches Institut für Prävention im Gesundheitswesen schon vor eineinhalb Jahrzehnten auf den Weg gemacht, den Präventionsgedanken in Gesellschaft und Politik zu fördern sowie neue Präventionskonzepte unter Nutzung der Apotheken zu entwickeln. Eines der Projekte berührt das Thema einer beginnenden Demenzerkrankung und die damit entstehenden großen Verunsicherungen. Mittlerweile gibt es im Freistaat Bayern rund 200 „Demenzfreundliche Apotheken“ in 35 Städten und Landkreisen, die an einem spezifischen Logo erkennbar sind. Voraussetzung ist der Zusammenschluss mehrerer Apotheken einer Region, der Einbezug lokaler bzw. regionaler Netzwerkpartner, eine dreiteilige Schulung sowie ein fortwährender Austausch über den regionalen Qualitätszirkel Pharmazeutische Betreuung. Um als Ansprechpartner in den Apotheken auch ausreichend präsent zu sein, muss die an der Schulung teilnehmende Apothekerin bzw. der Apotheker regelmäßig in der Apotheke tätig sein und zudem zumindest einmal pro Jahr je einen Zirkelbesuch und eine Fortbildung zum Thema Demenz absolvieren.

Ein schon lange geübter Brauch ist die lokale Unterstützung der Entwicklung von Selbsthilfegruppen in vielen Apotheken, so u. a. durch Information über Treffen, Weitergabe von Adressen und die konkrete Ansprache von Patienten. Dass dies auch in einer Weiterentwicklung auf digitalem Wege erfolgen kann, zeigt das Beispiel der von einem Apotheker mitgegründeten Website und Vernetzung „Patienten wie wir“.

Endlich weg mit dem veralteten Curriculum!

Bei all diesem Potenzial für zukünftige Apothekerinnen und Apotheker stellt sich noch eine entscheidende Frage. Können wir das? Zwar sind wir die wohl fortbildungshungrigsten Gesundheitsdienstleister überhaupt, aber unser universitäres Curriculum steckt noch fest im 20., wenn nicht 19. Jahrhundert. Auch der aktuelle Vorschlag des „Runden Tischs“ der Bundesapothekerkammer würde daran nichts verbessern. So kann das nicht bleiben! Die Zukunft der deutschen Apothekerschaft würde leichtsinnig aufs Spiel gesetzt. Stattdessen lohnt z. B. ein Blick über die Grenze in die Niederlande, wo die Innovation der Pharmazie durch versorgende Apotheker initiiert wurde, die nicht mehr produkt- sondern gesundheitsorientiert handeln wollten. Pionier war die Universität Leiden, die ein komplett neues Curriculum einführte, das nach dem grundlagenwissenschaftlichen Teil, dem Bachelor, einen eher medizinisch ausgerichteten Master beinhaltet. Hier sind Pharmazeuten mit Medizinern im direkten Kontakt gemeinsam eingebunden in die Arznei­mittelstrategie. Niederländische Apotheker haben Zugang zu wichtigen Laborparametern wie Nierenfunktion. Wer, außer den Institutsleitern der pharmazeutischen Chemie und Biologie, die eisern Ihre Stellen verteidigen, glaubt allen Ernstes noch, dass der Stas-Otto-Trennungsgang, Gravimetrie, Teekunde und das amateurhafte Nachkochen uralter Syntheseverfahren von Arzneistoffen noch irgendeine Bedeutung für die Zukunft der Pharmazie haben? Also braucht es einen großen Wurf bei der neuen Approbationsordnung für Apotheker; kein Klein-Klein und nicht einfach alte Hüte belassen und oben drauf packen.

Die Apotheke im Zentrum eines neuen Gesundheits-/Wellbeing-Systems. Neben der bestehenden Interaktion mit niedergelassenen und Klinik-Ärzten über die Belieferung von Rezepten (rechts) einschließlich Heimversorgung, und (entgegen dem Uhrzeigersinn) OTC-Beratung sowie Medikationsmanagement, sind neue Aufgaben wie Impfen und Testen hinzugekommen. Damit ist die Apotheke als bereits bestehender niederschwelliger Gesundheitsdienstleister ideal positioniert, nun auch weitere analoge wie digitale Unterstützungs- und Präventionsangebote wie körperliche Fitness- und Entspannungscoaching und Ernährungsberatung anzubieten oder in Kooperationen zu vermitteln. Eine ferne Zukunft? Nein. Beispiele gibt es viele, wie internationale Vorbilder aus den USA und Schottland sowie erste Pilotprojekte in Deutschland.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Der Trend zu Value-based Healthcare und damit zu Einspar-Verträgen und anderen Formen der Übernahme von Budgetmitverantwortung auf regionaler Ebene sind starke Strömungen, die die Entwicklung von Pharmaceutical-Care-Dienstleistungen fördern. Dass Apotheker derzeit international nach wie vor ihren Verdienst aus dem Umsatz an Arzneimitteln erzielen und dadurch immer dem Verdacht unterliegen, nur an dessen Mehrung ein Interesse zu haben, hat sich lange Zeit als Hemmnis für die Entwicklung von pharmazeutischen Dienstleistungen dargestellt. Erst mit der Entwicklung eines anderen Geschäftsmodells, das das bessere Gesundheitsergebnis für eine Bevölkerung zum Ausgangspunkt einer Vergütung macht, entsteht ein Ausweg aus diesem potenziellen Interessenkonflikt.

Apotheker sind aufgrund ihres pharmazeutisch-medizi­nischen Know-hows und ihrer niedrigschwelligen Zugänglichkeit für die Patienten ein wesentlicher Teil dieses neuen Gesundheitswesens. Sie wissen um die praktischen Bedürfnisse der Patienten oft unmittelbarer als manch andere Spezialisten. Gleichzeitig können sie aufgrund ihrer betriebswirtschaftlichen Kenntnisse mit den Modellen von Value-­based Healthcare und Einspar-Contracting-Verträgen auch Verantwortung für regionale Lösungen von Budgetmitverantwortung übernehmen. Qualifiziertes Personal in den Apotheken kann bei Gesundheitscoachings unterstützen. Für Deutschland könnten die Anreize aus dem Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken mit den darin vorgesehenen 150 Millionen Euro für pharmazeutische Dienstleistungen trotz der aktuellen juristischen Aufschübe einen Entwicklungsschub bieten. Die Beteiligung oder auch das Management von Verträgen zur Integrierten Versorgung steht Apothekern allerdings auch heute schon offen. So werden aktuell zusammen mit Apothekern als Start­gesellschafter in verschiedenen Regionen entsprechende Kooperationslösungen geplant. Diese bereits in der Initiierung konzipierte pharmazeutische Beteiligung könnte ein weiterer, wichtiger Schritt in der Entwicklung regionaler populationsorientierter Versorgung und damit beispiel­gebend für Deutschland sein. Eine „neue“ Pharmazie hat eine große, aufregend andere, evidenzbasierte und maximal patientenorientierte Zukunft und insofern könnte der Stellenwert der Apotheke neu justiert werden. Warten wir nicht länger, fordern wir diese Zukunft ein, Bottom-up (vonseiten der Studierenden und Apotheker) oder Top-down (vonseiten der Verbandsvertreter oder Gesundheitspolitiker)! Egal, wer den ersten Schritt macht, er muss gemacht werden. |

Die Autoren danken Ilias Essaida für die hilfreiche Diskussion.

Literatur

[1] Schmidt, H. Geheilt statt behandelt: Warum die Medizin am Ende ist und unsere Gesundheit eine Zukunft hat. (2021).

[2] Curtis, L. H., Hoffman, M. N., Califf, R. M. & Hammill, B. G. Life Expectancy and Voting Patterns in the 2020 U.S. Presidential Election. doi:10.1101/2020.10.26.20220111.

[3] Armstrong, G. L. Trends in Infectious Disease Mortality in the United States During the 20th Century. JAMA 281, 61 (1999).

[4] Chisholm-Burns, M. A. et al. US pharmacists’ effect as team members on patient care: systematic review and meta-analyses. Med. Care 48, 923–933 (2010).

[5] Bunting, B. A. & Cranor, C. W. The Asheville Project: long-term clinical, humanistic, and economic outcomes of a community-based medication therapy management program for asthma. J. Am. Pharm. Assoc. 46, 133–147 (2006).

[6] Bunting, B. A., Smith, B. H. & Sutherland, S. E. The Asheville Project: Clinical and economic outcomes of a community-based long-term medication therapy management program for hypertension and dyslipidemia. Journal of the American Pharmacists Association vol. 48 23–31 (2008).

[7] Cranor, C. W., Bunting, B. A. & Christensen, D. B. The Asheville Project: Long-Term Clinical and Economic Outcomes of a Community Pharmacy Diabetes Care Program. Journal of the American Pharmaceutical Association (1996) vol. 43 173–184 (2003).

[8] Fera, T., Bluml, B. M. & Ellis, W. M. Diabetes Ten City Challenge: final economic and clinical results. J. Am. Pharm. Assoc. 49, 383–391 (2009).

[9] Hildebrandt, H. & Stuppardt, R. Zukunft Gesundheit – regional, vernetzt, patientenorientiert. (2021).

Autoren

Dr. Helmut Hildebrandt, Apotheker und Medizinsoziologe, Vorstandsvorsitzender OptiMedis AG und Geschäfts­führer Gesunder Werra-Meißner-Kreis GmbH. Berater für Ministerien und Entwickler integrierter Versorgungslösungen zusammen mit lokalen Partnern.

 

Prof. Dr. med. Harald H. H. W. Schmidt, Apotheker und Arzt, Professor für Pharmakologie und Personalisierte Medizin an der Universität Maastricht, Podcaster und Autor des Buches „Geheilt statt behandelt“.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.