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Recht

Künstliche Engpässe durch Direktvertrieb?

Spannungsverhältnis zwischen Kontrahierungszwang und Kontingentierung

Dieser Beitrag nimmt einen Komplex von Anträgen, die beim Deutschen Apo­thekertag 2022 diskutiert werden sollen, zum Anlass um den Zusammenhang zwischen Direktvertrieb und Kontingentierungen von Arzneimitteln mit Arznei­mittel-Lieferengpässen und dem Zusammenwirken von pharmazeutischer Industrie und Arzneimittelgroßhandel bei der Bereitstellung von Arzneimitteln zu beleuchten. | Von Janna K. Schweim 

Der diesjährige Deutsche Apothekertag in München (14. bis 16. September 2022) sieht ein straffes Programm für die Delegierten vor, so soll insgesamt über 63 Einzelanträge und zwölf Leitanträge beraten und abgestimmt werden. Einige dieser Anträge aus demselben Kontext lauten [1]:

  • Die Kontingentierung von Arzneimitteln soll im Interesse der Versorgungssicherheit abgeschafft werden.
  • Die Lieferverpflichtung der pharmazeutischen Unternehmer gemäß § 52b Arzneimittelgesetz (AMG) soll auf die Belieferung von Krankenhausapotheken ausgedehnt werden, weil diese vielfach direkt beliefert werden.
  • Die nicht ordnungsgemäße Meldung von Lieferengpässen durch pharmazeutische Unternehmer gemäß § 52b AMG soll mit Sanktionen belegt werden.
  • Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte soll Meldungen aus Apotheken über Lieferengpässe nutzen können.

Ein großer Themenkomplex, der die deutschen Apotheker beschäftigt, befasst sich demnach mit Lieferengpässen und dem Direktvertrieb von Arzneimitteln. Für beide Problemstellungen findet sich eine gesetzliche Regelung in § 52b AMG bezüglich der Bereitstellung von Arzneimitteln. Demnach gehört es zu den Pflichten von pharmazeutischen Unternehmen (gemeinsam mit Arzneimittelgroßhandlungen) eine angemessene und kontinuierliche Bereitstellung von zugelassenen und in den Verkehr gebrachten Arzneimitteln sicherzustellen, damit der Bedarf von Patientinnen und Patienten in Deutschland gedeckt ist.

Die traditionelle Lieferkette und ihre Ausnahmen

Im Text des Arzneimittelgesetzes spiegelt sich die traditionelle Lieferkette Hersteller – Großhandel – Apotheke wider: Pharmazeutische Unternehmer müssen im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit eine bedarfsgerechte und kontinuier­liche Belieferung vollversorgender Arzneimittelgroßhandlungen gewährleisten, welche wiederum gleichermaßen eine Belieferung der mit ihnen in Geschäftsbeziehung stehenden Apotheken sicherstellen müssen. Das Gesetz sieht aber auch Ausnahmen von der Belieferungspflicht der Pharmaunternehmen gegenüber den Großhandelsunternehmen vor, z. B. für nicht dem Apothekenmonopol unterliegende Arzneimittel, Arzneimittel zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs oder Diamorphin-haltige Arzneimittel. Die wichtigste und zugleich auslegungsbedürftige Ausnahme betrifft solche Fälle, in denen Arzneimittel aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht über den Großhandel ausgeliefert werden können. Zu den rechtlichen Gründen zählen unter anderem die Rücknahme, der Widerruf oder das Ruhen der Zulassung oder der Herstellungserlaubnis [2]. Tatsächliche Hinderungsgründe können alle Umstände sein, die eine Lieferung eines Arzneimittels an den Großhandel faktisch unmöglich machen, darunter fallen auch Lieferengpässe oder Lieferausfälle aufgrund von Störungen im Herstellungsablauf, Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Ausgangsmaterialien, Streiks oder Fälle von höherer Gewalt [3]. In der Begründung der Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses aus dem Jahr 2009 heißt es dazu: „Die besonderen Gründe für einen abweichenden Vertriebsweg müssen objektiv vorliegen. Rein wirtschaftliche Erwägungen stellen keine besonderen Gründe im Sinne der Vorschrift dar. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ein bestimmtes Arzneimittel ausnahmsweise nicht über den Großhandel ausgeliefert werden kann, obliegt im Streitfall dem pharmazeutischen Unternehmer“ [4]. Damit ist eine rechtliche Grundlage geschaffen worden, die – zumindest im Wege der gerichtlichen Auseinandersetzung im Einzelfall – eine Klärung herbeiführen könnte und das jeweilige Pharmaunternehmen verpflichten würde, tatsächliche Gründe für die Nichteinhaltung der traditionellen Lieferkette vorzulegen.

Mit § 52b AMG wurde eine Regelung aus der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates fünf Jahre verspätet in deutsches Recht umgesetzt, welche schon im Vorfeld der 15. AMG-Novelle – und auch danach – zu Kontroversen zwischen Pharmaindustrie und Großhandel über die Tragweite der Belieferungspflicht des pharmazeutischen Unternehmers gegenüber den vollversorgenden pharmazeutischen Großhandlungen sowie über die Vereinbarkeit der Regelung mit Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht führte.

Direktvertrieb sollte Ausnahmefall bleiben

In der juristischen Auseinandersetzung mit dieser Vorschrift gibt es widerstreitende Positionen für [5] und gegen [6] einen Kontrahierungszwang, das heißt eine Verpflichtung des pharmazeutischen Unternehmens Belieferungsverträge mit allen vollversorgenden Arzneimittelgroßhandlungen zu schließen. Ebenso darüber, ob sich ein solcher Anspruch direkt aus dem Arzneimittelgesetz oder aus kartell- und wettbewerbsrechtlichen Vorschriften, z. B. bei einer marktbeherrschenden Stellung eines Pharma­unternehmens, herleiten und durchsetzen lassen würde. Ausdrücklich schließt der Wortlaut des § 52b AMG eine Direktbelieferung der Apotheken zwar nicht aus und lässt dem pharmazeutischen Unternehmer grundsätzlich die Wahl welche vollversorgenden Arzneimittelgroßhandlungen er beliefert, solange die einzelnen Belieferungen sicher­stellen, dass der Bedarf der Patienten in Deutschland gedeckt ist. Dennoch sollte die Vorschrift auch nicht so gedeutet werden, dass die grundsätzlich freie Wahl des Vertriebswegs durch den pharmazeutischen Unternehmer vollständig unter Ausschluss des vollversorgenden Großhandels erfolgen kann [7]. Stattdessen sollte die Bedarfsabdeckung der Apotheken durch den Direktvertrieb der Ausnahmefall bleiben.

Gesetzesverstoß durch Kontingentierung?

In der politischen Auseinandersetzung wurde im Rahmen einer Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke bereits im Jahr 2016 im Bundestag diskutiert [8], ob ein Gesetzesverstoß vorliegen könnte, wenn pharmazeutische Hersteller Präparate absichtsvoll nur in limitierter Zahl (sog. Kontingent-Arzneimittel) an den pharmazeutischen Großhandel – oder über Direktvertriebsgesellschaften direkt an die Apotheken – liefern. Diese Frage stellt sich berechtigterweise, wenn die Zahl der vom Hersteller gelieferten Packungen trotz Lieferfähigkeit nicht bedarfsdeckend ist und es dem Großhandel dadurch schwer oder unmöglich gemacht wird, seinen Teil des Sicherstellungsauftrags nach § 52b AMG zu erfüllen. Während die Direktbelieferung der Apotheken für die Pharmaunternehmen verschiedene Vorteile bietet, wie die Einsparung von Großhandelsrabatten und die Kontrolle über Parallel- und Reimporte, bedeutet der Direktbezug für die Patientinnen und Patienten oft längere Wartezeiten – ohne die beim Großhandel eingespielte schnelle Lieferung – bei bestellten Arzneimitteln, die unter Umständen dringend benötigt werden. Das Versorgungssystem über den Großhandel hat zum Ziel, die Arzneimittelversorgung der Patienten an sechs Tagen in der Woche sicherzustellen. Hingegen bedeutet die Abwicklung über den Direktvertrieb im konkreten Beispiel, dass ein am Freitagnachmittag übermitteltes Rezept frühestens am Dienstag beliefert werden könnte.

In diesem Zusammenhang könnte man tatsächlich davon sprechen, dass durch die Direktbelieferungspraxis – wie durch andauernde Auseinandersetzungen zwischen Großhandelsunternehmen und Herstellern bezüglich Lieferkonditionen – künstlich Lieferengpässe herbeigeführt werden. Bedauerlicherweise sah die Bundesregierung seinerzeit, trotz der geschilderten Problemstellung mangels belast­barer Hinweise, keinen Handlungsbedarf und verwies hinsichtlich des Vollzugs und der Überwachung des Arzneimittelverkehrs auf die Zuständigkeit der Bundesländer,

da die Prüfung der möglichen Rechtswidrigkeit einer Nichtbelieferung des Großhandels im Einzelfall zu er­folgen habe [9].

Literaturtipp

Einblick in verschlossene Welten – Umdenken gefragt?

„Ihr Arzneimittel ist leider nicht lieferbar.“ Dieser Satz gehört mittlerweile zum Standardrepertoire des deutschen Apothekenpersonals. Ein gravierendes, stetig wachsendes Problem. Plötzlich sind wichtige Güter nicht mehr selbstverständlich. Heute wird bewusst, dass Arzneimittel nicht aus deutschen Fabriken stammen, sondern Endprodukte globaler Handelsketten sind. Viele wichtige Arzneistoffe kommen längst aus Asien.

Die Globalisierung hat auch vor der Pharmazie nicht Halt gemacht. Vieles, was sich in fernen Märkten abspielt, beeinflusst die Verfügbarkeit eines bestimmten Fertig­arzneimittels in der Bundesrepublik.

Aber warum ist das so? Und vor allem, was kann dagegen getan werden?

Dieses Werk will Apothekenpersonal helfen, auf die täglichen Fragen von Kunden, Pflegediensten, Arztpraxen und Krankenkassen plausible Antworten zu geben.
 

Uwe Weidenauer

Nicht lieferbar!
Ausverkauf des Deutschen Arzneimittelmarkts

123 S., 19,80 Euro, 32 farb. Abb., 20 farb. Tab., 17,0 × 24,0 cm, Kartoniert

ISBN 978-3-7692-7613-8

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Engpässe im Blick des BfArM-Beirats

Mit dem Gesetz für einen fairen Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG) vom 22. März 2020 [10] wurden in den § 52b AMG zusätzliche Absätze eingefügt. Demnach wurde beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ein Beirat eingerichtet, um die Versorgungslage mit Humanarzneimitteln zu beobachten, zu bewerten und im Falle von drohenden oder bestehenden Lieferengpässen geeignete Maßnahmen zu deren Abwendung oder Abmilderung zu treffen. Neben verschiedenen Vertretungen der Patientinnen und Patienten, Verbänden und Organisationen (unter anderem Fachgesellschaften der Ärzte, Berufsvertretungen der Apotheker, Arzneimittelkommissionen, Spitzenverbände der pharmazeutischen Unternehmer, Verband der vollversorgenden Arzneimittelgroßhandlungen, Spitzenverband Bund der Krankenkassen) sind auch Vertreter der zuständigen Bundesoberbehörden und (Landes-)Behörden in diesen Beirat berufen [11]. Zu dessen Aufgaben gehört insbesondere die Unterstützung der Bundesoberbehörden bei der Bewertung der Versorgungsrelevanz eines Lieferengpasses unter Berücksichtigung möglicher bestehender Therapiealternativen sowie die Ausarbeitung von Empfehlungen zur Verbesserung der Versorgungssituation. Nach Anhörung des Beirats erstellt das BfArM eine aktuelle Liste versorgungsrelevanter und versorgungskritischer Wirkstoffe und macht diese auf seiner Internet­seite bekannt [12], zudem können aktuelle Lieferengpässe in einer Datenbank recherchiert werden [13]. Zur Klärung der Hintergründe von Lieferengpässen können sowohl Pharmaunternehmen als auch Arzneimittelgroßhandlungen verpflichtet werden, dem BfArM Daten zu verfügbaren Beständen, Produktion und Absatzmengen des betreffenden Arzneimittels mitzuteilen.

Fazit

Mit den ergänzenden Absätzen des § 52 b AMG und der Einberufung des zuständigen Beirats dürften bereits alle benötigten Instrumente existieren, damit sich die kompetenten Fachverbände und Behörden auch mit den Konsequenzen von Arzneimittel-Kontingentierungen, die unter Umständen mit einer – auch nur vorübergehenden – Gefährdung der bedarfsgerechten Versorgung mit versorgungsrelevanten und versorgungskritischen Wirkstoffen einhergehen, befassen können. Solche Situationen haben Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit mit teilweise lebensrettenden Arzneimitteln und sollten quasi auch als eine Art Lieferengpass aufgefasst werden. Aus diesem Grund darf es nicht erst der Anstrengung von gerichtlichen Auseinandersetzungen überlassen bleiben, eine Klärung darüber herbeizuführen, ob die bedarfsgerechte und kontinuierliche Versorgung der Patienten mit Arzneimitteln sichergestellt ist. Insbesondere zu berücksichtigen ist, dass dem Direktvertrieb – wie dargestellt – ein systembedingter Mangel der verzögerten Arzneimittelbelieferung innewohnt, so dass eine Unter­sagung des ausschließlichen Direktvertriebs im Interesse der Versorgungssicherheit ernsthaft in Erwägung gezogen werden sollte. |

Literatur

 [1] Müller-Bohn T. Deutscher Apothekertag 2022: Ein ganz dickes Heft - Die Anträge zum Deutschen Apothekertag 2022. DAZ 2022;31:18-19

 [2] Kügel J W in: Kügel/Müller/Hofmann. Arzneimittelgesetz (AMG), 3. Auflage 2022, AMG § 52b Bereitstellung von Arzneimitteln, Rn. 40

 [3] Nawroth C. Lieferengpässe bei Arzneimitteln. PharmR 2020;4:181(184)

 [4] Bundestags-Drs. 16/13428 vom 17. Juni 2009, S. 85, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksachen 16/12256, 16/12677 – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften

 [5] Meyer H. Der Kontrahierungsanspruch der vollversorgenden Arzneimittelgroßhandlung gegenüber dem pharmazeutischen Unternehmer (Teil 1 und Teil 2). A&R 2010;2:66-75 und A&R 2010;3:115-123

 [6] Natz A, Zumdick U. Kontrahierungszwang oder Pflicht zur Bedarfsdeckung? A&R 2010;1:14-19

 [7] Rehmann W in: Rehmann, Arzneimittelgesetz (AMG), 5. Auflage 2020, AMG § 52b Bereitstellung von Arzneimitteln, Rn. 4

 [8] Bundestags-Drs. 18/9049 vom 6. Juli 2016, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke – Drucksache 18/8835 – Lieferengpässe wegen Kontingent-Arzneimitteln, S. 1/2

 [9] Bundestags-Drs. 18/9049 a.a.O., S. 3

[10] Gesetz für einen fairen Wettbewerb in der gesetzlichen Kranken­versicherung (Fairer-Kassenwettbewerb -Gesetz, GKV-FKG) vom 22. März 2020, Bundesgesetzblatt 2020;Teil I Nr. 15:604-605

[11] Beirat nach § 52b Abs. 3b AMG zu Liefer- und Versorgungsengpässen, www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelinformationen/Lieferengpaesse/Beirat/_node.html, Abruf am 20. August 2022

[12] Zusatzinformationen zu gemeldeten Lieferengpässen von Arzneimitteln und Wirkstoffen oder Wirkstoffkombinationen, www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelinformationen/Lieferengpaesse/Liste-Zusatzinformationen/_node.html, Abruf am 20. August 2022

[13] Veröffentlichte Lieferengpassmeldungen. Informationen des PharmNet.Bund, https://anwendungen.pharmnet-bund.de/lieferengpassmeldungen/faces/public/meldungen.xhtml, Abruf am 20. August 2022

Autorin

Dr. Janna K. Schweim, Rechtsanwältin, Köln

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