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Umweltschutz
Klimaschonend inhalieren
Erste S1-Handlungsempfehlung zu klimabewusster Arzneimittelverordnung veröffentlicht
Die globale Durchschnittstemperatur änderte sich über die letzten Jahrtausende immer wieder, aber nie so stark wie seit der Industrialisierung im frühen 20. Jahrhundert. Seitdem wird es immer wärmer, denn immer größere Mengen an Treibhausgasen strömen in die Atmosphäre. Der Hintergrund: Bestimmte Gase absorbieren Wärmestrahlung, die sonst zurück ins Weltall reflektiert worden wäre, zum Beispiel über die großen, schneebedeckten Polkappen. Diese Gase – zum Beispiel CO2 – tragen zum Treibhauseffekt bei. Individuen haben in ihrem alltäglichen Leben relativ wenig Einfluss auf die weltweiten Treibhausgas-Emissionen (s. Kasten „Der CO₂-Fußabdruck – wer hat‘s erfunden?“).
Der CO2-Fußabdruck – wer hat’s erfunden?
Viele Menschen versuchen heute, die Klimakrise aufzuhalten, indem sie ihren persönlichen CO2-Fußabdruck verringern. Was viele nicht wissen: Der erste Rechner, mit dem einzelne Individuen ihren CO2-Fußabdruck berechnen konnten, rief 2004 die Werbeabteilung des Ölkonzerns British Petroleum (BP) als PR-Maßnahme ins Leben [7].
Große Institutionen haben mehr Macht zur Veränderung: das Gesundheitssystem zum Beispiel. In Deutschland ist der Gesundheitssektor immerhin für 5% der Emissionen verantwortlich. Den größten Anteil macht im ambulanten Bereich die Verordnung von Arzneimitteln aus [1].
Flurane sind starke Treibhausgase
Einerseits werden bei der Arzneimittelherstellung größere Mengen Treibhausgase in die Atmosphäre abgegeben. Manche Arzneimittel beeinflussen das Klima zudem direkt bei ihrer Anwendung – zum Beispiel Dosieraerosole. Sie enthalten Treibmittel, die Arzneimittelpartikel auch bei Patienten mit schlechter Lungenfunktion in tiefe Bronchienabschnitte katapultieren können. In Deutschland sind 48% aller verordneten Inhalativa Dosieraerosole. Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) dürfen seit 1989 nicht mehr als Treibmittel eingesetzt werden, weil sie die Ozonschicht schädigen. Die seitdem angewendeten Alternativen, die Hydrofluoroalkane (bzw. Flurane), sind jedoch starke Treibhausgase. Sie tragen tausendmal stärker zum Klimawandel bei als Kohlenstoffdioxid. Norfluran bestärkt den Treibhauseffekt um das 1430-Fache im Vergleich zu CO2. Apafluran (z. B. in Allergospasmin®, Flutiform® oder Symbicort®) bestärkt die Erderwärmung sogar 3220-mal so stark wie CO₂. Im Vergleich dazu beeinflussen Pulverinhalatoren kaum den Treibhauseffekt. Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen leiden darunter, dass die globale Temperatur steigt. Hitzewellen können das tägliche Sterberisiko von Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) bis zu 43% steigern [2]. Zugleich steigt die Prävalenz von Asthma und COPD kontinuierlich.
Erste klimabewusste Leitlinie in Deutschland
Diese Tatsachen nahmen Dr. Guido Schmiemann und Dr. Michael Dörks von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) zum Anlass, die S1-Handlungsempfehlung „Klimabewusste Verordnung von inhalativen Arzneimitteln“ zu verfassen. Sie ist die erste deutsche Leitlinie überhaupt, die bei der Arzneimittelauswahl Auswirkungen auf das Klima berücksichtigt. Im Zentrum steht dabei die Frage, bei welchen Patienten ein Wechsel vom Dosieraerosol zum Pulverinhalator sinnvoll sein kann und wo sich Alternativen ergeben.
Initiator und Co-Autor der Leitlinie Guido Schmiemann erklärt im Gespräch mit der DAZ-Redaktion, dass der Anstoß für die Leitlinie der „Green Inhaler Guide“ war, den Mitarbeitende des englischen Gesundheitssystems NHS (National Health Service) erstellten. Das NHS hat sich als erstes Gesundheitssystem der Welt das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2040 klimaneutral zu sein.
Abrufbar ist die deutsche Handlungsempfehlung zur Inhaler-Verordnung seit Frühsommer 2022. Sie trägt die niedrigste Entwicklungsstufe einer Leitlinie (S1), das bedeutet, dass sie eine Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet hat. Derzeit läuft der Antrag auf die Entwicklungsstufe S2k. Dafür bemüht sich Schmiemann, den formalen Konsens mit weiteren Fachgesellschaften voranzubringen. Die Handlungsempfehlung richtet sich nicht nur an Ärzte, sondern explizit auch an Apotheker und andere Vertreter von Gesundheitsfachberufen.
Asthmakontrolle bleibt erhalten
Die Leitlinie beruft sich auf Untersuchungen, die belegen: Wechselt ein Patient von einem Dosieraerosol zu einem Pulverinhalator, werden infolgedessen deutlich weniger CO₂-Äquivalente emittiert. Aufs Jahr hochgerechnet spart der Wechsel doppelt so viele Äquivalente des Kohlenstoffdioxids ein, wie bei einem Kurzstreckenflug von 1000 Kilometern in die Atmosphäre gelangen würden. Unter anderem beziehen sich die Autoren auf eine 2021 im „European Respiratory Journal“ publizierte randomisierte Studie [3]. In ihr wurde bei 2236 Patienten untersucht, wie sich der Wechsel vom Dosieraerosol auf die Asthmakontrolle auswirkt. Durch die Intervention verringerte sich der Ausstoß an Treibhausgasen, während sich keine Nachteile der Asthmakontrolle bemerkbar machten.
Wer für die Umstellung infrage kommt
Der Wechsel auf einen Pulverinhalator ist aber nicht für alle Patienten geeignet, so etwa nicht für Kinder unter fünf Jahren oder geriatrische Patienten. Das gilt auch für Patienten mit akuter Exazerbation, denen es nicht möglich ist, zwei bis drei Sekunden lang kräftig Luft zu holen und auszuatmen. Bei diesen Betroffenen könnte die Lungenfunktion zu schlecht sein, um mit einem Pulverinhalator genügend Wirkstoff ins Lungengewebe zu befördern. Auch für Patienten, die auf einen Spacer angewiesen sind oder Pulverinhalatoren aus anderen Gründen nicht handhaben können oder möchten, eignet sich der Abschied vom Dosieraerosol laut Handlungsempfehlung nicht. Ein Wechsel zum Pulverinhalator kommt hingegen bei den Patienten infrage, bei denen dies nicht zutrifft: Bei Kindern zwischen fünf und zwölf Jahren ist ein Dosieraerosol genauso effektiv wie jedes andere inhalative Arzneimittel. Gleiches gilt für Erwachsene mit stabilem Asthma. Aber wie wirkt sich ein Wechsel auf die Adhärenz aus? Gegenüber der DAZ-Redaktion sagt Autor Schmiemann: „Der Wechsel auf einen Pulverinhalator kann sogar förderlich für die Adhärenz sein. Viele Pulverinhalatoren sind einfacher zu handhaben.“ Anders als bei Dosieraerosolen muss die Atmung nicht mit der Inhalation abgestimmt werden. Vielmehr wird der Sprühstoß durch einen kräftigen Atemzug initiiert. Auch der integrierte Zähler, den viele Dosieraerosole nicht haben, verbessert das Feedback der Patienten über die korrekte und regelmäßige Inhalation.
Alternativen erwägen
Kommt bei Patienten trotzdem nur ein Dosieraerosol infrage, empfehlen die Autoren, eine Arzneiform ohne das Treibmittel Apafluran zu wählen, wenn die Alternative klinisch ähnlich ist. Von den verwendeten Treibmitteln trägt Apafluran am stärksten zur Erderwärmung bei. Anstelle von Flutiform® (Fluticason, Formoterol) könne ein anderes Präparat mit Formoterol in Kombination mit einem inhalativen Steroid eingesetzt werden, z. B. Relvar® Ellipta® (Fluticason, Vilanterol) oder Rolenium® bzw. Viani® Diskus (Fluticason, Salmeterol) [4]. Das Dosieraerosol Symbicort® (160 µg Budesonid/4,5 µg Formoterol pro Dosis) ist auch als Turbohaler (Pulverinhalator) verfügbar. Auch die regelmäßig von Lieferengpässen betroffene Dosieraerosole Aarane® und Allergospasmin® (Cromoglicinsäure, Reproterol) enthalten Apafluran. Hier bezieht sich die Handlungsempfehlung auf die nationale Versorgungsleitlinie Asthma [5]. Die Autoren dieser Leitlinie halten die Wirkstoffkombination für wenig sinnvoll.
Häufigste Dosieraerosole Salbutamol-Monopräparate
Die Autoren der S1-Handlungsempfehlung entnahmen den Verordnungszahlen der gesetzlichen Krankenversicherung einen weiteren interessanten Punkt: 46,3% aller verordneten Dosieraerosole sind Inhalanda mit dem kurzwirksamen β2-Sympatomimetikum Salbutamol. Dabei empfiehlt die internationale Fachgesellschaft „Global Initiative for Asthma Strategy“ (GINA), auf Salbutamol zu verzichten, wenn inhalative Corticosteroid-Formoterol-Kombinationspräparate verfügbar sind. Denn Salbutamol allein verbessert nicht den Krankheitsverlauf. Die Anwendung ist mit einer erhöhten Asthmasterblichkeit verbunden – vermutlich weil einige Patienten das Notfallspray als primäre Therapie ansehen und inhalative Glucocorticoide nicht oder nicht korrekt einnehmen. Autoren einer aktuellen Studie erinnern an die State-of-the-Art-Asthmatherapie: Diese besteht darin, Patienten mit modernen Arzneimitteln eine gute Asthmakontrolle zu ermöglichen und das Rescue/Reliever-Paradigma wenn möglich zu meiden [6]. Dennoch gehen die Autoren der S1-Handlungsempfehlung nicht auf diesen Aspekt ein. Auch den Grund dafür erklärt Guido Schmiemann: „Wir wollten keine Leitlinie erstellen, die sich mit der Wirkstoffauswahl zur Asthma- oder COPD-Therapie auseinandersetzt. Dafür stehen die entsprechenden nationalen Versorgungsleitlinien.“ Der Fokus seiner Leitlinie liege eher auf der Auswahl der Applikationsform.
Inhaler-Schulung als pharmazeutische Dienstleistung
Pharmazeutisches Personal darf als pharmazeutische Dienstleistung anbieten, Patienten nach einem standardisierten Prozess qualitätsgesichert zu ihrer Inhalationstechnik zu schulen. Anspruch haben Patienten ab sechs Jahren mit einer Neuverordnung eines Inhalationsgeräts bzw. bei einem Gerätewechsel. Die Dienstleistung darf in Anspruch genommen werden, wenn laut Selbstauskunft innerhalb der letzten zwölf Monaten keine Einweisung mit praktischer Übung stattgefunden hat und die Patienten nicht in das Disease Management Programm Asthma und COPD eingeschrieben sind. 20 Euro sind dafür abrechenbar [8].
Mehr Spielraum für Apotheker
In der Leitlinie werden auch Apotheker explizit angesprochen. Guido Schmiemann erläutert genauer, was Pharmazeuten tun könnten. „Apothekerinnen und Apotheker sehen, welche inhalativen Arzneimittel die Ärzte verordneten. Sie könnten Patienten, bei denen ein Präparatewechsel infrage kommt, ansprechen: ‚Wussten Sie, dass die Auswahl Ihres inhalativen Arzneimittels einen Einfluss auf die globale Erwärmung hat? Falls Sie Ihr Präparat wechseln möchten, können Sie einen Unterschied ausmachen.‘“
Auch erwähnt Schmiemann, dass die neuen pharmazeutischen Dienstleistungen Apothekern mehr Spielraum bieten würden, Patienten über ihre Inhaler aufzuklären und zu schulen. Die „Demonstration der Anwendung des Inhalationsdevices nach einem standardisierten Prozess“ ist heute zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbringbar (s. Kasten „Inhaler-Schulung als pharmazeutische Dienstleistung“). Die Leistung könnte eine gute Gelegenheit bieten, einen Anfang zu machen. |
Literatur
[1] Klimabewusste Verordnung von inhalativen Arzneimitteln. S1-Handlungsempfehlung der deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. AWMF-Register-Nr. 053-059, Stand: März 2022
[2] Hitzestress erhöht Sterberisiko bei COPD Patienten. Ärzte Zeitung online vom 20. März 2017, ww.aerztezeitung.de/Medizin/Hitzestress-erhoeht-Sterberisiko-bei-COPD-Patienten-310188.html
[3] Woodcock A et al. Change from MDI to DPI in asthma: effects on climate emissions and disease control. Eur Clin Respir J 2021, doiDOI: 10.1183/13993003.congress-2021.PA3400
[4] Fischer S. Kombinationspräparate bei COPD und Asthma - Hält doppelt besser? Arzneimitteltherapie 2018;36(03):68-74
[5] Nationale Versorgungsleitlinie Asthma. Leitlinie der Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), Stand 2020, AWMF-Register-Nr.: nvl-002
[6] Quint JK et al. Short-Acting Beta-2-Agonist Exposure and Severe Asthma Exacerbations: SABINA Findings From Europe and North America. J Allergy Clin Immunol 2022, DOI:https://doi.org/doi: 10.1016/j.jaip.2022.02.047
[7] Fieber T, Konitzer F. Treibhausgase: Wie der CO2-Fußabdruck die Klima-Realität verschleiert. ARD alpha 2021, Beitrag vom 27. Oktober, www.ardalpha.de
[8] Borsch J. Einweisung in die Inhalationstechnik – was Apotheker wissen müssen. DAZ.online News vom 29. Juni 2022
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