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Arzneimittel und Therapie

Kopfschmerzen durch zu viele Kopfschmerzmittel

Neue Leitlinie zum Medikamenten-Übergebrauch beschreibt Auswege aus dem Teufelskreis

In Deutschland leiden schätzungsweise bis zu einer Million Menschen unter einem Kopfschmerz als Folge eines Übergebrauchs von Schmerz- oder Migränemitteln. Die Patienten sind in aller Regel schwer betroffen. Damit ist dieses Krankheitsbild gesundheitspolitisch von hoher Bedeutung. Umso wich­tiger ist es, die Entwicklung dieser Kopfschmerzform durch Aufklärung zu verhindern und bei Bestehen evidenzbasiert zu therapieren. In diesem Kontext spielen Apothekerin und Apotheker sowie das Assistenzpersonal in Apotheken eine wichtige Rolle. Orientierung bietet die neue Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft zum Management des durch Medikamenten-Übergebrauch induzierten Kopfschmerzes [1]. | Von Hans Christoph Diener

Die häufige oder regelmäßige Einnahme von Schmerz- oder Migränemitteln kann bei Menschen mit einem primären Kopfschmerz wie einer Migräne oder einem Spannungs­kopfschmerz zu einer Zunahme der Kopfschmerztage und letztendlich zu einem chronischen Kopfschmerz führen.

Die Definition

Chronische Kopfschmerzen durch Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (Medication Overuse Headache = MOH) sind nach den Kriterien der inter­nationalen Kopfschmerzgesellschaft wie folgt definiert: Kopfschmerzen an 15 oder mehr Tagen pro Monat bestehend über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten, ausgelöst durch die regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln, die wegen symptomatischer Kopfschmerzen an mindestens 10 bis 15 Tagen/Monat eingenommen wurden [2]. Voraussetzung ist das Vorliegen eines primären Kopfschmerzes wie einer Migräne oder eines Spannungskopfschmerzes. In seltenen Fällen kann dieses Krankheitsbild auch bei sekundären Kopfschmerzen auftreten wie beispielsweise beim posttraumatischen Kopfschmerz. Die Diagnose wird gestellt, wenn an mindestens 15 Tagen im Monat einfache Anal­getika oder an mindestens zehn Tagen im Monat Kombinationsanalgetika, Triptane, Mutterkornalkaloide oder Opioide eingenommen worden sind.

Von einem Medikamenten-Übergebrauch (medication overuse = MO) wird gesprochen, wenn Schmerz- oder Migränemittel an zehn und mehr Tagen pro Monat über viele Jahre hinweg eingenommen werden, ohne dass es zu einer Zu­nahme der Kopfschmerzfrequenz kommt.

Ursache unklar

Der Zusammenhang zwischen häufiger Medikamenten­einnahme und Verschlechterung der primär bestehenden Kopfschmerzen ist bisher nicht endgültig geklärt. Möglicherweise wird durch den übermäßigen Gebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln das schmerzleitende System sensibilisiert, was wiederum zu häufigeren Kopfschmerzen führt. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass sich die zugrunde liegende Kopfschmerzerkrankung wie eine Migräne verschlechtert und deswegen häufiger Schmerz- oder Migränemittel eingenommen werden.

Die Prävalenz des MOH liegt weltweit bei 0,5 bis 2% der Bevölkerung, in Deutschland bei 0,7 bis 1%. Das Krank­heitsbild wird auch bei Jugendlichen beobachtet. Prospek­tive Studien in Kopfschmerzzentren in Deutschland zeigten, dass zwischen 3 und 14% aller Patienten mit einem primär episodischen Kopfschmerz innerhalb eines Jahres einen chronischen Kopfschmerz entwickeln. Bei den meisten dieser Patienten lässt sich ein Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln feststellen.

Die Diagnose des MOH wird rein klinisch und durch die Erfassung der eingenommenen Medikamente gestellt. Der Zeitrahmen, in dem sich ein MOH entwickelt, hängt von der eingenommenen Substanz ab. Ein MOH entwickelt sich deutlich schneller unter Triptanen, Opioiden und Kombinationsanalgetika als unter einfachen Analgetika.

Vorbeugung – wichtige Aufgabe für Apotheken

Das pharmazeutische Personal in der Apotheke spielt eine wichtige Rolle in der Vorbeugung des MOH. Apothekerinnen, Apotheker und PTA bemerken am ehesten, wenn Patienten immer häufiger mit Rezepten für verschreibungspflichtige Schmerz- oder Migränemittel die Apotheke auf­suchen und wenn sie zusätzlich nicht verschreibungspflichtige Analgetika erwerben. Sie müssen die Patienten auf das mögliche Risiko der zu häufigen Einnahme von Schmerz- oder Migränemitteln aufmerksam machen und gegebenenfalls dringend empfehlen, einen Arzt, nach Möglichkeit einen Neurologen, aufzusuchen.

Drei Therapieschritte

Die MOH-Behandlung gliedert sich in drei Schritte:

  • Am Anfang stehen die Aufklärung der Patienten und gegebenenfalls eine strukturierte Schulung, um den Zusammenhang zwischen zu häufiger Medikamenten­einnahme und Verschlechterung der Kopfschmerzen zu vermitteln.
  • Der zweite Schritt ist dann die Einleitung einer medikamentösen und nichtmedikamentösen Prophylaxe der primären Kopfschmerzen, in den meisten Fällen eine Migräneprophylaxe.
  • Wenn diese Maßnahmen scheitern, wird eine Medikamentenpause eingelegt. Bei Patienten mit Übergebrauch von Opioiden oder gleichzeitigem Übergebrauch von anderen Arzneimitteln mit hohem Suchtpotenzial wie beispiels­weise Tranquilizern wird die Medikamentenpause in Form eines Medikamentenentzugs unter stationären Bedingungen durchgeführt.

Aufklärung und Schulung. Der erste Schritt der MOH-Therapie ist die Aufklärung der Patienten über den möglichen Zusammenhang einer zu häufigen Einnahme von Schmerz- oder Migränemitteln und der Zunahme der Kopfschmerzhäufigkeit. Die Betroffenen sollten ermutigt werden, die Einnahme von einfachen Analgetika auf unter 15 Tage im Monat zu reduzieren und die Einnahme von Kombinationsanalgetika, Triptanen oder Mutterkornalkaloiden auf unter 10 Tage im Monat. Der Erfolg dieses Konzeptes konnte mit randomisierten Studien untermauert werden.

Migräneprophylaxe. Wenn eine Aufklärung nicht zu einer Reduktion der Einnahmetage unter die kritische Grenze führt, sollte eine medikamentöse oder nichtmedikamentöse Migräneprophylaxe begonnen werden. Der Nutzen einer medikamentösen Prophylaxe bei MOH ließ sich in randomisierten placebokontrollierten Studien belegen, und zwar für Topiramat, Onabotulinumtoxin A und die monoklonalen Antikörper, die sich gegen das stark vasodilatatorisch wirkende Peptid CGRP (Calcitonin gene-related peptide) richten, also Galcanezumab (Emgality®), Eptinezumab (Vyepti®) und Fremanezumab (Ajovy®) – oder wie Erenumab (Aimovig®) an den CGRP-Rezeptor binden (Tab. 1, Tab. 2). Der therapeutische Nutzen der üblichen Migräneprophylaktika wie beispielsweise Betablocker, Flunarizin oder Amitriptylin beim MOH ist bisher nicht ausreichend durch placebokontrollierte Studien belegt. Die Erstattungsfähigkeit der monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor ist im Moment beschränkt auf Patientinnen und Patienten, bei denen alle bisher verfügbaren Migräneprophylaktika nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder kontraindiziert sind. Dies schließt auch solche Substanzen wie beispielsweise Betablocker ein, deren Nutzen in der Therapie des MOH nie belegt wurde.

Die medikamentöse Migräneprophylaxe sollte durch eine nichtmedikamentöse Prophylaxe ergänzt werden. Wirksam sind hier aerober Ausdauersport, Entspannungsverfahren wie die Muskelrelaxation nach Jacobsen oder Tai-Chi sowie ein Stressbewältigungstraining. Die Wirksamkeit der Akupunktur ist bei Patienten mit MOH nicht belegt. Ist der primäre Kopfschmerz ein Kopfschmerz vom Spannungstyp, wird die Prophylaxe mit trizyklischen Antidepressiva, beispielsweise Amitriptylin, durchgeführt.

 

Tab. 1: Wirksamkeit von Topiramat und Onabotulinumtoxin A bei Patienten mit MOH
Arzneimittel
Dosierung
Reduktion der Kopfschmerz- oder Migränetage / Monat
50% Responderrate für Migränetage (Abnahme der Tage mit Migräne pro Monat um mindestens 50%)
Topiramat
50 – 200 mg
- 3,5
37%
Placebo
+ 0,2
29%
Onabotulinumtoxin A
155 IE
- 8,2
47%
Placebo
- 6,2
32%
Tab. 2: Wirksamkeit der monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor bei Patienten mit MOH
Arzneimittel
Dosierung
Reduktion der Kopfschmerz- oder Migränetage / Monat
50% Responderrate für Migränetage (Abnahme der Tage mit Migräne pro Monat um mindestens 50%)
Fremanezumab
1 × / Quartal
- 4,7
35%
Fremanezumab
1 × / Monat
- 5,2
39%
Placebo
- 2,5
14%
Erenumab
70 mg
- 6,6
36%
Erenumab
140 mg
- 6,6
35%
Placebo
- 3,5
18%
Galcanezumab
120 mg
- 4,8
28%
Galcanezumab
240 mg
- 4,5
28%
Placebo
- 2,2
15%
Eptinezumab
100 mg
- 8,4
60%
Eptinezumab
300 mg
- 8,6
62%
Placebo
- 3,0
14%

Medikamentenpause und Medikamentenentzug. Durch mehrere randomisierte Studien ist belegt, dass eine Unter­brechung der Einnahme von Schmerz- oder Migränemitteln für einen Zeitraum von zehn bis 14 Tagen den Dauerkopfschmerz deutlich bessert. Es kommt allerdings zunächst zu Entzugssymptomen, die von der Art der eingenommenen Medikamente abhängen. Im Vordergrund steht eine vorübergehende deutliche Zunahme der Kopfschmerzintensität sowie Schlafstörungen, Schweißausbrüche, Unruhe und andere vegetative Störungen. Diese können durch eine kurzfristige Einnahme von Corticosteroiden und die intravenöse Gabe von Acetylsalicylsäure behandelt werden. Die Dauer der Entzugssymptome ist am kürzesten bei der zu häufigen Einnahme von Triptanen, etwas länger bei der Einnahme von Kombinationsanalgetika und am längsten nach der Einnahme von Opioiden.

Besteht eine erhebliche Komorbidität wie beispielsweise eine Depression oder eine Angst­erkrankung oder bestehen andere chronische Schmerzen wie beispielsweise chronische Rückenschmerzen, muss häufig ein formaler Medikamentenentzug durchgeführt werden. Dies kann entweder in einer Tagesklinik oder stationär erfolgen. Eine stationäre Entzugstherapie ist angezeigt, wenn die chronischen Kopfschmerzen durch einen Übergebrauch von Opioiden verursacht sind.

Verhinderung eines Rückfalls

Nach einer Medikamentenpause oder einem Medikamentenentzug haben 60 bis 70% der Patienten eine signifikante Reduktion ihrer Kopfschmerztage. Bei der Hälfte dieser Patienten kommt es allerdings innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre zu einem Rückfall. Dieser kann am besten verhindert werden durch eine wirksame Prophylaxe des primären Kopfschmerzes und regelmäßige Kontrollen bei Neurologen, in Kopfschmerzambulanzen oder Kopfschmerzzentren. Auch hier spielen Apothekerinnen und Apotheker eine wichtige Rolle, da sie sehr früh erfassen können, wenn das Problem der zu häufigen Medikamenteneinnahme wieder auftaucht.

Die wichtigsten MOH-Leitlinien-Empfehlungen

Die Behandlung des Kopfschmerzes durch Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln erfolgt in mehreren Stufen:

  • Patienten mit Übergebrauch von Medikamenten (Medication Overuse = MO) oder mit Kopfschmerzen durch Übergebrauch von Medikamenten (Medication Overuse Headache = MOH) sollten über die Beziehung zwischen häufiger symptomatischer Kopfschmerzmedikation und Chronifizierung der Kopfschmerzen aufgeklärt werden, mit dem Ziel, die Einnahme von Akutmedikation zu reduzieren und zu limitieren.
  • In einem zweiten Schritt sollte bei Patienten mit Migräne und Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (MOH) eine Prophylaxe initiiert werden. Topiramat, Onabotulinumtoxin A und die monoklonalen Antikörper gegen CGRP können auch während eines bestehenden Medikamenten-Übergebrauchs wirksam sein. Bei Patienten mit Kopfschmerz vom Spannungstyp erfolgt die medikamentöse Prophylaxe mit Amitriptylin. Die medikamentöse Prophylaxe soll durch nichtmedikamentöse Maßnahmen ergänzt werden.
  • Bei Patienten, bei denen Edukation und medikamentöse Prophylaxe nicht ausreichend sind, erfolgt alternativ eine Medikamentenpause, wobei diese je nach Konstellation ambulant, in einer Tagesklinik oder stationär durchgeführt werden sollte.
  • Bei Patienten mit Kopfschmerz durch Übergebrauch von Opioiden sollte eine stationäre Entzugsbehandlung durchgeführt werden.
  • Die Erfolgsrate der gestuften Therapie beträgt etwa 50 bis 70% nach sechs bis zwölf Monaten. Vor allem bei Patienten mit Opioid-Übergebrauch besteht eine hohe Rückfallrate.
  • Zur Behandlung von Entzugssymptomen oder Kopfschmerzen während der Medikamentenpause werden trizyklische Anti­depressiva, Neuroleptika (Antiemetika) und die Gabe von Steroiden empfohlen.
  • Konsequente Patientenedukation und weitere engmaschige Betreuung reduzieren das Risiko eines Rückfalls. |

Literatur

[1] Diener H, Kropp P, et al. Kopfschmerz bei Über­gebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (Medication Overuse Headache = MOH), S1-Leit­linie, 2022. In: DGN, editor. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. https://dgn.org/leitlinien/2022.

[2] Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS). The International Classification of Headache Disorders ICHD-3, 3rd edition. Cephalalgia. 2018;38(1):1-211.

Autor

Prof. Dr. Hans Christoph Diener leitet die Abteilung für Neuroepidemiologie am Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE), Medizinische Fakultät der Universität Duisburg-Essen

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