Foto: H_Ko/AdobeStock

Praxis

Wann Ärzten Regresse drohen

Neben einzelnen Verordnungen werden auch statistische Auffälligkeiten geprüft

Nahezu jede Apotheke hat bereits Erfahrungen mit Retaxationen machen müssen. Auch von Ärzten hört man häufig, dass sie bestimmte Verordnungen aus Angst vor Regressen nicht tätigen. Aber was hat es mit diesen Regressen auf sich? Wie läuft die Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Ärzten ab, und was sind die Unterschiede zu der Abrechnungsprüfung bei Apotheken? | Von Timo Franke und Nadine Friederich

Alle medizinischen Leistungen, die über die gesetzliche Krankenversicherung abgerechnet werden, unterliegen dem Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 SGB V. Dieses besagt, dass eine Leistung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein muss und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf. Die Einhaltung dieser Vorgaben wird bei Ärzten im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen kontrolliert.

Bei Arzneimitteln sind grundsätzlich zwei unterschiedliche Prüfungen zu unterscheiden:

  • Prüfung im Einzelfall (z. B. bei nicht erstattungsfähigen Arzneimitteln oder von den Kassen vermutetem Off-­Label-Use)
  • statistische Prüfungen (z. B. nach Richtgrößen, Durchschnittswerten oder Zielquoten)

Die Anzahl der Prüfanträge und Regresse ist bei den Prüfungen im Einzelfall deutlich höher als bei den statistischen Prüfungen. Beispielsweise gab es in Nordrhein pro Jahr (von 2017 bis 2019) 20.000 Prüfanträge der Krankenkassen [1]. Die hohe Zahl an Einzelfallprüfungen deckt sich mit einer Umfrage des DeutschenArztPortals: Demnach gaben 62 Prozent der 393 teilnehmenden Ärzte an, bereits im Einzelfall geprüft worden zu sein [2].

Die Rolle der Kassenärztlichen Vereinigungen und Prüfungsstellen

An den Prüfungen bei Ärzten sind nicht nur die Krankenkassen beteiligt, sondern auch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). In Deutschland gibt es 17 KVen – in jedem Bundesland eine sowie in Nordrhein-Westfalen die getrennten KVen Nordrhein und Westfalen-Lippe. Zu ihren Aufgaben zählt neben der Sicherstellung der flächendeckenden ambulanten ärztlichen Versorgung unter anderem auch die Vertretung der Rechte ihrer Mitglieder gegenüber den Krankenkassen und die Honorarverteilung. KVen beraten Ärzte zu Fragen rund um die Themen Abrechnung, Verordnung, Wirtschaftlichkeit und Praxisführung.

Die Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Ärzten ist gesetzlich vorgeschrieben und erfolgt anhand von Prüfvereinbarungen, die zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und der Ersatzkassen und den KVen getroffen werden.

Anders als bei Apotheken entscheiden bei Fragen zu Regressen, die mittlerweile Nachforderungen genannt werden, nicht die Krankenkassen selbst, sondern die eigens für diese Aufgabe geschaffenen Prüfungsstellen. Sie werden von den KVen und den Krankenkassen eingerichtet und finanziert. Diese Prüfungsstellen nehmen ihre Aufgaben eigenverantwortlich wahr. Dadurch soll die Unabhängigkeit der Prüfungseinrichtungen gestärkt werden. Legt ein Arzt gegen eine Entscheidung dieser Prüfungsstelle Widerspruch ein, wird dieser in der Regel vom Beschwerdeausschuss beurteilt, der dazu alle Beteiligten anhört.

Prüfungen im Einzelfall

Ähnlich wie bei der Abrechnungsprüfung in der Apotheke kann es bei Ärzten auch zur Prüfung von einzelnen unzulässigen oder unwirtschaftlichen Verordnungen kommen. Stellen die Krankenkassen bei der Verordnung Beanstandungen fest, wenden sie sich damit nicht direkt an den Arzt, sondern stellen einen Prüfantrag bei der Prüfungsstelle, die erst eine Stellungnahme des Arztes einholt und dann über den Antrag entscheidet.

Gründe für Prüfungen einzelner Verordnungen

Die Gründe für eine solche Einzelfallprüfung können sehr unterschiedlich sein, zum Beispiel Verstöße gegen die Arzneimittel-Richtlinie, Verordnungen unwirtschaftlicher Mengen, aber auch Verordnungen, die während eines ­stationären Aufenthaltes des Patienten oder nach dessen Todestag ausgestellt wurden. Auch Verordnungen im Sprechstundenbedarf können von solchen Prüfanträgen betroffen sein, zum Beispiel wenn bei der Verordnung die Regelungen der jeweiligen Sprechstundenbedarfsvereinbarung nicht eingehalten werden. Diese Vereinbarungen können sich in den einzelnen KVen regional unterscheiden, listen aber meist die Produkte oder Produktgruppen auf, die über den Sprechstundenbedarf bezogen werden können.

Die Arzneimittel-Richtlinie

Die allgemeinen Grundsätze für Verordnungen von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung sind in der Arzneimittel-Richtlinie festgelegt. Das Ziel ist eine wirtschaftliche und qualitätsgesicherte Versorgung mit Arzneimitteln. In den Anlagen der Arzneimittel-Richtlinie werden unter anderem Regelungen zu OTC- und Lifestyle-Arzneimitteln konkretisiert, Verordnungseinschränkungen und -ausschlüsse aufgelistet sowie Therapiehinweise gegeben. Auch die Beschlüsse zur frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln sind dort aufgeführt.

Auffälligkeitsprüfungen und Richtgrößenprüfung

Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Vertrags­ärzten spielt auch die statistische Auffälligkeitsprüfung bei Arzneimitteln eine Rolle. Diese Prüfungen waren in der Vergangenheit und sind teilweise auch heute noch der Grund für die Angst der Ärzte, ihr Budget zu überschreiten und deswegen einen Regress zu bekommen.

Unter den statistischen Auffälligkeitsprüfungen war die Richtgrößenprüfung lange Zeit die Regelprüfmethode, nach der in nahezu allen KVen geprüft wurde. Erst ab 2017 konnte jede KV eigene Prüfmethoden entwickeln, sodass diese inzwischen regional voneinander abweichen können. In einigen KV-Regionen wird aber weiterhin nach der Richtgrößensystematik geprüft.

Als Richtgröße wird der Eurobetrag bezeichnet, der für Arznei- und Verbandmittel pro Patient und Quartal im Durchschnitt rein rechnerisch zur Verfügung steht. Die Richt­größen werden von den Krankenkassen und KVen für die jeweilige KV-Region für ein Jahr vereinbart. Die Werte sind für Ärzte unterschiedlicher Fachgruppen unterschiedlich hoch (s. Tab. 1).

Tab. 1: Arzneimittel-Richtgrößen am Beispiel der KV Westfalen-Lippe (nach Altersgruppen der Patienten), nach [3]
Fachgruppe (nur zugelassene Ärzte)
bis 15 Jahre
16 – 49 Jahre
50 – 64 Jahre
65 Jahre und älter
Allgemeinmediziner, Praktische Ärzte, haus. Internisten
18,08 Euro
41,05 Euro
104,28 Euro
199,99 Euro
Anästhesisten
0,50 Euro
15,97 Euro
26,37 Euro
13,97 Euro
Anästhesisten mit Schmerztherapie
2,97 Euro
127,18 Euro
166,87 Euro
176,38 Euro
Augenärzte
2,29 Euro
10,30 Euro
16,20 Euro
21,22 Euro
Chirurgen
2,72 Euro
8,80 Euro
11,00 Euro
14,50 Euro
Frauenärzte
14,79 Euro
12,30 Euro
20,92 Euro
25,18 Euro
Gastroenterologen
8,11 Euro
528,10 Euro
208,37 Euro
122,42 Euro
Hautärzte
29,69 Euro
75,52 Euro
80,32 Euro
45,49 Euro
HNO-Ärzte
10,70 Euro
21,81 Euro
11,56 Euro
4,15 Euro

Anhand der Richtgrößen und der Anzahl der Patienten errechnet sich das Richtgrößenvolumen des Arztes. Dieses stellt einen Wert dar, den Ärzte häufig meinen, wenn sie in diesem Zusammenhang von „ihrem Budget“ sprechen. Überschreiten die tatsächlichen Verordnungskosten dieses Budget zu weit, kann der Arzt auffällig werden und es kann zu einem Regress kommen.

Aut-idem-Kreuz setzen, oder nicht?

Das Aut-idem-Kreuz zu setzen, ist nur aus medizinisch-therapeutischen Gründen möglich. Grundsätzlich ist der Arzt also dazu angehalten, einen Aut-idem-Austausch in der Apotheke zuzulassen. Der Arzt hat aber aufgrund des Setzens eines einzelnen Aut-idem-Kreuzes nicht sofort einen Regress zu befürchten. Die medizinischen Gründe sollten in der Patientenakte dokumentiert werden.

Alternative: Durchschnittswerteprüfung

Bei einigen KVen stellt statt der Richtgrößenprüfung die Prüfung nach Durchschnittswerten die vorrangig durch­geführte Auffälligkeitsprüfung dar. Hierbei werden die Verordnungskosten der Praxis nicht mit einem vorher errech­neten Richtgrößenvolumen, sondern mit den tatsächlich entstandenen durchschnittlichen Kosten der Fachgruppe verglichen. Das tatsächliche Verordnungsverhalten der Ärzte wird dadurch besser abgebildet (s. Abb. 1).

Abb. 1: Richtgrößenprüfung und Durchschnittswerte­prüfung im Vergleich, modifiziert nach dem Video „Richtgrößen-Ab­lösepaket der KVN“ der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen. Bei der Durchschnittswerte­prüfung ist nicht mehr die Richtgröße die entscheidende Bezugsgröße, sondern der Durchschnittswert der Fachgruppe. Seit ihrer Einführung wurden die Richtgrößen nur linear von Jahr zu Jahr angepasst. Wer mehr als 25 Prozent über seiner Höchstgrenze lag, erhielt einen Regress. Die tatsächlichen Arzneimittelausgaben lagen vor allem in den letzten Jahren zunehmend darüber. Die Folge: Viele Ärzte mussten in die Richtgrößenprüfung. Bei der Durchschnittswerteprüfung bilden die realen durchschnittlichen Ausgaben einer Fachgruppe den Ausgangswert. Nur wer mit seinen persönlichen Verordnungen um mehr als 50 Prozent (KV Hessen: 45 Prozent, KV Berlin: 40 Prozent) über seinem Fachgruppendurchschnitt liegt, kommt in die Prüfung.

Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven durch Verordnungsquoten

Die finanziellen Mittel in der gesetzlichen Krankenversicherung sind beschränkt. Zu Beginn eines Jahres wird daher im Bereich einer jeden KV vereinbart, wie hoch das Ausgabenvolumen für Arznei- und Verbandmittel sein darf. In Baden-Württemberg liegt dieses Ausgabenvolumen im Jahr 2022 zum Beispiel bei etwas mehr als 5 Milliarden Euro [4].

Durch eine wirtschaftliche Verordnungsweise sollen die Vertragsärzte dazu beitragen, dass das vereinbarte Ausgabenvolumen eingehalten wird. Um die Verordnungen der Ärzte in eine wirtschaftliche Richtung zu lenken, werden in allen KV-Regionen sogenannte Verordnungsquoten vereinbart. Für bestimmte Arzneimittelgruppen werden Leitsubstanzen festgelegt, für andere Verordnungshöchst- oder -mindestquoten. Was darunter zu verstehen ist, lässt sich am einfachsten an Beispielen erklären (s. Kasten „Beispiele für Verordnungsquoten“).

Beispiele für Verordnungsquoten

Beispiel für eine Leitsubstanzquote: Simvastatin, Pravastatin, Rosuvastatin und Atorvastatin gelten als Leitsubstanzen bei der Verordnung eines HMG-CoA-Reduktasehemmers und sollen zu einem festgelegten Anteil verordnet werden.

Beispiel für eine Höchstquote: Es wird ein Höchstanteil an getätigten Aut-idem-Kreuzen an allen Fertigarzneimittel-Verordnungen festgelegt.

Beispiel für eine Mindestquote: Es wird ein Mindestanteil an Biosimilars an der gesamten Gruppe eines biosimilar­fähigen Wirkstoffes festgelegt.

Welche Bedeutung die Verordnungsquoten haben, kann regional unterschiedlich sein. Im Rahmen von Richtgrößen- und Durchschnittswerteprüfungen kann die Erfüllung der Quoten damit belohnt werden, dass Ärzte ganz oder teilweise von der Prüfung befreit werden. In einigen KV-Bereichen wird eine Prüfung auf Grundlage von Verordnungsquoten durchgeführt. Dabei wird bei jedem Arzt individuell geprüft, ob die vereinbarten Verordnungsquoten eingehalten wurden. Ist dies nicht der Fall und kann der Arzt dies nicht durch Besonderheiten in der Struktur seiner Praxis (sogenannte Praxisbesonderheiten) begründen, so kann es zu einer Prüfung kommen.

Kaum Regresse aufgrund der KV-Prüfungen

Die Anzahl der Regresse aufgrund der statistischen Prüfungen war in den vergangenen Jahren gering (Tab. 2). Trotzdem ist es für Ärzte wichtig, die Vorgaben zu kennen, da nicht erst ein Regress, sondern bereits ein eingeleitetes Prüfverfahren zeitraubend und mit Dokumentationspflichten verbunden sein kann. Auch der Grundsatz „Beratung vor Regress“ bietet einen Schutz vor Nachforderungen, der besagt, dass Ärzte im Rahmen einer statistischen Auffälligkeitsprüfung wie zum Beispiel der Richtgrößen- oder Durchschnittswerteprüfung bei einer erstmaligen statistischen Auffälligkeit keinen Regress befürchten müssen; stattdessen werden sie beraten. Erst bei einer erneuten Überschreitung droht dem Arzt tatsächlich eine finanzielle Rückforderung.

Tab. 2: Beispiele für Verordnungsregresse bei statistischen KV-Prüfungen
KV-Region
Anzahl der Verordnungsregresse
2016
2017
2018
Nordrhein
1
1
0
Rheinland-Pfalz
0
0
0
Hessen
8
4
0
Saarland
insgesamt 1 Regress für die Jahre 2015 – 2017
Sachsen
1
0
0
Thüringen
0
2
Berlin
0
Niedersachsen
10
Bremen
0
0
1

Hinweis: Alle Angaben ohne Gewähr. Nicht alle KVen haben in den vergangenen Jahren Angaben zu Regressen gemacht. Für die mit „–“ gekennzeichneten Einträge gilt: Für diesen Prüfzeitraum wurden keine Zahlen veröffentlicht oder die Prüfungen wurden noch nicht abgeschlossen. Aufgrund laufender Widerspruchsverfahren können sich die Zahlen noch verändern.

Einzelfallprüfungen betreffen eine Vielzahl von Ärzten

Einige der KVen haben angegeben, dass die Anzahl der Einzelfallprüfungen in den letzten Jahren zugenommen hat bzw. sich auf einem hohen Niveau befindet:

  • In Westfalen-Lippe ist die Zahl der Einzelfallprüfanträge zwischen 2017 und 2018 von 3660 auf 4670 gestiegen.
  • Pro Jahr (von 2017 bis 2019) gab es in Nordrhein 20.000 Prüfanträge der Krankenkassen.
  • Im Saarland wurden infolge einer Prüfung im Einzelfall im Jahr 2017 123 Regressforderungen in Höhe von insgesamt 114.337 Euro gestellt, im Jahr 2018 104 Regressforderungen in Höhe von insgesamt 56.535 Euro und 2019 110 Regressforderungen in Höhe von insgesamt 80.297 Euro [1].

Fazit

Ärzte werden durch die Wirtschaftlichkeitsprüfung und die damit verbundene Gefahr eines Regresses ebenso verun­sichert wie Apotheker durch drohende Retaxierungen. Während bei Apotheken vornehmlich einzelne Rezepte von einer solchen Retaxierung betroffen sein können, werden bei Ärzten neben den Prüfungen einzelner Arzneimittelverordnungen auch statistische Auffälligkeitsprüfungen durchgeführt. Bei diesen statistischen Auffälligkeitsprüfungen bietet der Grundsatz „Beratung vor Regress“ einen Schutz vor Nachforderungen. Bei den Prüfungen im Einzelfall sind Regresse jedoch häufig. Anders als bei Apotheken, bei denen die Krankenkassen selbst die Erstattung eines bereits abgegebenen Arzneimittels verweigern können, entscheiden bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Ärzten unabhängige Prüfungsstellen über mögliche Regresse. Diese Prüfungsstellen nehmen ihre Aufgabe eigenverantwortlich wahr. |

 

Literatur

[1] Deutsches Ärzteblatt: Große regionale Unterschiede bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen (vom 18. Juni 2018), online: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113630/Grosse-regionale-Unterschiede-bei-Wirtschaftlichkeitspruefungen

[2] Arztumfrage im Praxis-Newsletter des DeutschenArztPortals vom 05.11.2019 bis 12.11.2019

[3] Auszug aus der Richtgrößenvereinbarung 2022 der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe

[4] KV Baden-Württemberg, Arzneimittelvereinbarung für das Jahr 2022

Autoren

Timo Franke, Psychologe und Neurobiologe. In seiner Tätigkeit bei DAP ­Networks informiert er Ärzte zu den Themen wirtschaftliche Verordnung und Regressvermeidung. Zu diesen Problemstellungen gibt er auch regelmäßig Schulungen.

Nadine Friederich, Apothekerin. Bei DAP Networks aufgrund ihrer Berufserfahrung bei einer Prüfungsstelle sowie in öffentlichen Apotheken besonders für Fragen rund um die Verordnung und Erstattung von Arzneimitteln zuständig.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.