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Praxis
Wann Ärzten Regresse drohen
Neben einzelnen Verordnungen werden auch statistische Auffälligkeiten geprüft
Alle medizinischen Leistungen, die über die gesetzliche Krankenversicherung abgerechnet werden, unterliegen dem Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 SGB V. Dieses besagt, dass eine Leistung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein muss und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf. Die Einhaltung dieser Vorgaben wird bei Ärzten im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen kontrolliert.
Bei Arzneimitteln sind grundsätzlich zwei unterschiedliche Prüfungen zu unterscheiden:
- Prüfung im Einzelfall (z. B. bei nicht erstattungsfähigen Arzneimitteln oder von den Kassen vermutetem Off-Label-Use)
- statistische Prüfungen (z. B. nach Richtgrößen, Durchschnittswerten oder Zielquoten)
Die Anzahl der Prüfanträge und Regresse ist bei den Prüfungen im Einzelfall deutlich höher als bei den statistischen Prüfungen. Beispielsweise gab es in Nordrhein pro Jahr (von 2017 bis 2019) 20.000 Prüfanträge der Krankenkassen [1]. Die hohe Zahl an Einzelfallprüfungen deckt sich mit einer Umfrage des DeutschenArztPortals: Demnach gaben 62 Prozent der 393 teilnehmenden Ärzte an, bereits im Einzelfall geprüft worden zu sein [2].
Die Rolle der Kassenärztlichen Vereinigungen und Prüfungsstellen
An den Prüfungen bei Ärzten sind nicht nur die Krankenkassen beteiligt, sondern auch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). In Deutschland gibt es 17 KVen – in jedem Bundesland eine sowie in Nordrhein-Westfalen die getrennten KVen Nordrhein und Westfalen-Lippe. Zu ihren Aufgaben zählt neben der Sicherstellung der flächendeckenden ambulanten ärztlichen Versorgung unter anderem auch die Vertretung der Rechte ihrer Mitglieder gegenüber den Krankenkassen und die Honorarverteilung. KVen beraten Ärzte zu Fragen rund um die Themen Abrechnung, Verordnung, Wirtschaftlichkeit und Praxisführung.
Die Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Ärzten ist gesetzlich vorgeschrieben und erfolgt anhand von Prüfvereinbarungen, die zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und der Ersatzkassen und den KVen getroffen werden.
Anders als bei Apotheken entscheiden bei Fragen zu Regressen, die mittlerweile Nachforderungen genannt werden, nicht die Krankenkassen selbst, sondern die eigens für diese Aufgabe geschaffenen Prüfungsstellen. Sie werden von den KVen und den Krankenkassen eingerichtet und finanziert. Diese Prüfungsstellen nehmen ihre Aufgaben eigenverantwortlich wahr. Dadurch soll die Unabhängigkeit der Prüfungseinrichtungen gestärkt werden. Legt ein Arzt gegen eine Entscheidung dieser Prüfungsstelle Widerspruch ein, wird dieser in der Regel vom Beschwerdeausschuss beurteilt, der dazu alle Beteiligten anhört.
Prüfungen im Einzelfall
Ähnlich wie bei der Abrechnungsprüfung in der Apotheke kann es bei Ärzten auch zur Prüfung von einzelnen unzulässigen oder unwirtschaftlichen Verordnungen kommen. Stellen die Krankenkassen bei der Verordnung Beanstandungen fest, wenden sie sich damit nicht direkt an den Arzt, sondern stellen einen Prüfantrag bei der Prüfungsstelle, die erst eine Stellungnahme des Arztes einholt und dann über den Antrag entscheidet.
Gründe für Prüfungen einzelner Verordnungen
Die Gründe für eine solche Einzelfallprüfung können sehr unterschiedlich sein, zum Beispiel Verstöße gegen die Arzneimittel-Richtlinie, Verordnungen unwirtschaftlicher Mengen, aber auch Verordnungen, die während eines stationären Aufenthaltes des Patienten oder nach dessen Todestag ausgestellt wurden. Auch Verordnungen im Sprechstundenbedarf können von solchen Prüfanträgen betroffen sein, zum Beispiel wenn bei der Verordnung die Regelungen der jeweiligen Sprechstundenbedarfsvereinbarung nicht eingehalten werden. Diese Vereinbarungen können sich in den einzelnen KVen regional unterscheiden, listen aber meist die Produkte oder Produktgruppen auf, die über den Sprechstundenbedarf bezogen werden können.
Die Arzneimittel-Richtlinie
Die allgemeinen Grundsätze für Verordnungen von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung sind in der Arzneimittel-Richtlinie festgelegt. Das Ziel ist eine wirtschaftliche und qualitätsgesicherte Versorgung mit Arzneimitteln. In den Anlagen der Arzneimittel-Richtlinie werden unter anderem Regelungen zu OTC- und Lifestyle-Arzneimitteln konkretisiert, Verordnungseinschränkungen und -ausschlüsse aufgelistet sowie Therapiehinweise gegeben. Auch die Beschlüsse zur frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln sind dort aufgeführt.
Auffälligkeitsprüfungen und Richtgrößenprüfung
Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Vertragsärzten spielt auch die statistische Auffälligkeitsprüfung bei Arzneimitteln eine Rolle. Diese Prüfungen waren in der Vergangenheit und sind teilweise auch heute noch der Grund für die Angst der Ärzte, ihr Budget zu überschreiten und deswegen einen Regress zu bekommen.
Unter den statistischen Auffälligkeitsprüfungen war die Richtgrößenprüfung lange Zeit die Regelprüfmethode, nach der in nahezu allen KVen geprüft wurde. Erst ab 2017 konnte jede KV eigene Prüfmethoden entwickeln, sodass diese inzwischen regional voneinander abweichen können. In einigen KV-Regionen wird aber weiterhin nach der Richtgrößensystematik geprüft.
Als Richtgröße wird der Eurobetrag bezeichnet, der für Arznei- und Verbandmittel pro Patient und Quartal im Durchschnitt rein rechnerisch zur Verfügung steht. Die Richtgrößen werden von den Krankenkassen und KVen für die jeweilige KV-Region für ein Jahr vereinbart. Die Werte sind für Ärzte unterschiedlicher Fachgruppen unterschiedlich hoch (s. Tab. 1).
Fachgruppe (nur zugelassene Ärzte) | bis 15 Jahre | 16 – 49 Jahre | 50 – 64 Jahre | 65 Jahre und älter |
---|---|---|---|---|
Allgemeinmediziner, Praktische Ärzte, haus. Internisten | 18,08 Euro | 41,05 Euro | 104,28 Euro | 199,99 Euro |
Anästhesisten | 0,50 Euro | 15,97 Euro | 26,37 Euro | 13,97 Euro |
Anästhesisten mit Schmerztherapie | 2,97 Euro | 127,18 Euro | 166,87 Euro | 176,38 Euro |
Augenärzte | 2,29 Euro | 10,30 Euro | 16,20 Euro | 21,22 Euro |
Chirurgen | 2,72 Euro | 8,80 Euro | 11,00 Euro | 14,50 Euro |
Frauenärzte | 14,79 Euro | 12,30 Euro | 20,92 Euro | 25,18 Euro |
Gastroenterologen | 8,11 Euro | 528,10 Euro | 208,37 Euro | 122,42 Euro |
Hautärzte | 29,69 Euro | 75,52 Euro | 80,32 Euro | 45,49 Euro |
HNO-Ärzte | 10,70 Euro | 21,81 Euro | 11,56 Euro | 4,15 Euro |
Anhand der Richtgrößen und der Anzahl der Patienten errechnet sich das Richtgrößenvolumen des Arztes. Dieses stellt einen Wert dar, den Ärzte häufig meinen, wenn sie in diesem Zusammenhang von „ihrem Budget“ sprechen. Überschreiten die tatsächlichen Verordnungskosten dieses Budget zu weit, kann der Arzt auffällig werden und es kann zu einem Regress kommen.
Aut-idem-Kreuz setzen, oder nicht?
Das Aut-idem-Kreuz zu setzen, ist nur aus medizinisch-therapeutischen Gründen möglich. Grundsätzlich ist der Arzt also dazu angehalten, einen Aut-idem-Austausch in der Apotheke zuzulassen. Der Arzt hat aber aufgrund des Setzens eines einzelnen Aut-idem-Kreuzes nicht sofort einen Regress zu befürchten. Die medizinischen Gründe sollten in der Patientenakte dokumentiert werden.
Alternative: Durchschnittswerteprüfung
Bei einigen KVen stellt statt der Richtgrößenprüfung die Prüfung nach Durchschnittswerten die vorrangig durchgeführte Auffälligkeitsprüfung dar. Hierbei werden die Verordnungskosten der Praxis nicht mit einem vorher errechneten Richtgrößenvolumen, sondern mit den tatsächlich entstandenen durchschnittlichen Kosten der Fachgruppe verglichen. Das tatsächliche Verordnungsverhalten der Ärzte wird dadurch besser abgebildet (s. Abb. 1).
Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven durch Verordnungsquoten
Die finanziellen Mittel in der gesetzlichen Krankenversicherung sind beschränkt. Zu Beginn eines Jahres wird daher im Bereich einer jeden KV vereinbart, wie hoch das Ausgabenvolumen für Arznei- und Verbandmittel sein darf. In Baden-Württemberg liegt dieses Ausgabenvolumen im Jahr 2022 zum Beispiel bei etwas mehr als 5 Milliarden Euro [4].
Durch eine wirtschaftliche Verordnungsweise sollen die Vertragsärzte dazu beitragen, dass das vereinbarte Ausgabenvolumen eingehalten wird. Um die Verordnungen der Ärzte in eine wirtschaftliche Richtung zu lenken, werden in allen KV-Regionen sogenannte Verordnungsquoten vereinbart. Für bestimmte Arzneimittelgruppen werden Leitsubstanzen festgelegt, für andere Verordnungshöchst- oder -mindestquoten. Was darunter zu verstehen ist, lässt sich am einfachsten an Beispielen erklären (s. Kasten „Beispiele für Verordnungsquoten“).
Beispiele für Verordnungsquoten
Beispiel für eine Leitsubstanzquote: Simvastatin, Pravastatin, Rosuvastatin und Atorvastatin gelten als Leitsubstanzen bei der Verordnung eines HMG-CoA-Reduktasehemmers und sollen zu einem festgelegten Anteil verordnet werden.
Beispiel für eine Höchstquote: Es wird ein Höchstanteil an getätigten Aut-idem-Kreuzen an allen Fertigarzneimittel-Verordnungen festgelegt.
Beispiel für eine Mindestquote: Es wird ein Mindestanteil an Biosimilars an der gesamten Gruppe eines biosimilarfähigen Wirkstoffes festgelegt.
Welche Bedeutung die Verordnungsquoten haben, kann regional unterschiedlich sein. Im Rahmen von Richtgrößen- und Durchschnittswerteprüfungen kann die Erfüllung der Quoten damit belohnt werden, dass Ärzte ganz oder teilweise von der Prüfung befreit werden. In einigen KV-Bereichen wird eine Prüfung auf Grundlage von Verordnungsquoten durchgeführt. Dabei wird bei jedem Arzt individuell geprüft, ob die vereinbarten Verordnungsquoten eingehalten wurden. Ist dies nicht der Fall und kann der Arzt dies nicht durch Besonderheiten in der Struktur seiner Praxis (sogenannte Praxisbesonderheiten) begründen, so kann es zu einer Prüfung kommen.
Kaum Regresse aufgrund der KV-Prüfungen
Die Anzahl der Regresse aufgrund der statistischen Prüfungen war in den vergangenen Jahren gering (Tab. 2). Trotzdem ist es für Ärzte wichtig, die Vorgaben zu kennen, da nicht erst ein Regress, sondern bereits ein eingeleitetes Prüfverfahren zeitraubend und mit Dokumentationspflichten verbunden sein kann. Auch der Grundsatz „Beratung vor Regress“ bietet einen Schutz vor Nachforderungen, der besagt, dass Ärzte im Rahmen einer statistischen Auffälligkeitsprüfung wie zum Beispiel der Richtgrößen- oder Durchschnittswerteprüfung bei einer erstmaligen statistischen Auffälligkeit keinen Regress befürchten müssen; stattdessen werden sie beraten. Erst bei einer erneuten Überschreitung droht dem Arzt tatsächlich eine finanzielle Rückforderung.
KV-Region | Anzahl der Verordnungsregresse | ||
---|---|---|---|
2016 | 2017 | 2018 | |
Nordrhein | 1 | 1 | 0 |
Rheinland-Pfalz | 0 | 0 | 0 |
Hessen | 8 | 4 | 0 |
Saarland | insgesamt 1 Regress für die Jahre 2015 – 2017 | ||
Sachsen | 1 | 0 | 0 |
Thüringen | 0 | 2 | – |
Berlin | 0 | – | – |
Niedersachsen | 10 | – | – |
Bremen | 0 | 0 | 1 |
Hinweis: Alle Angaben ohne Gewähr. Nicht alle KVen haben in den vergangenen Jahren Angaben zu Regressen gemacht. Für die mit „–“ gekennzeichneten Einträge gilt: Für diesen Prüfzeitraum wurden keine Zahlen veröffentlicht oder die Prüfungen wurden noch nicht abgeschlossen. Aufgrund laufender Widerspruchsverfahren können sich die Zahlen noch verändern. |
Einzelfallprüfungen betreffen eine Vielzahl von Ärzten
Einige der KVen haben angegeben, dass die Anzahl der Einzelfallprüfungen in den letzten Jahren zugenommen hat bzw. sich auf einem hohen Niveau befindet:
- In Westfalen-Lippe ist die Zahl der Einzelfallprüfanträge zwischen 2017 und 2018 von 3660 auf 4670 gestiegen.
- Pro Jahr (von 2017 bis 2019) gab es in Nordrhein 20.000 Prüfanträge der Krankenkassen.
- Im Saarland wurden infolge einer Prüfung im Einzelfall im Jahr 2017 123 Regressforderungen in Höhe von insgesamt 114.337 Euro gestellt, im Jahr 2018 104 Regressforderungen in Höhe von insgesamt 56.535 Euro und 2019 110 Regressforderungen in Höhe von insgesamt 80.297 Euro [1].
Fazit
Ärzte werden durch die Wirtschaftlichkeitsprüfung und die damit verbundene Gefahr eines Regresses ebenso verunsichert wie Apotheker durch drohende Retaxierungen. Während bei Apotheken vornehmlich einzelne Rezepte von einer solchen Retaxierung betroffen sein können, werden bei Ärzten neben den Prüfungen einzelner Arzneimittelverordnungen auch statistische Auffälligkeitsprüfungen durchgeführt. Bei diesen statistischen Auffälligkeitsprüfungen bietet der Grundsatz „Beratung vor Regress“ einen Schutz vor Nachforderungen. Bei den Prüfungen im Einzelfall sind Regresse jedoch häufig. Anders als bei Apotheken, bei denen die Krankenkassen selbst die Erstattung eines bereits abgegebenen Arzneimittels verweigern können, entscheiden bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Ärzten unabhängige Prüfungsstellen über mögliche Regresse. Diese Prüfungsstellen nehmen ihre Aufgabe eigenverantwortlich wahr. |
Literatur
[1] Deutsches Ärzteblatt: Große regionale Unterschiede bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen (vom 18. Juni 2018), online: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113630/Grosse-regionale-Unterschiede-bei-Wirtschaftlichkeitspruefungen
[2] Arztumfrage im Praxis-Newsletter des DeutschenArztPortals vom 05.11.2019 bis 12.11.2019
[3] Auszug aus der Richtgrößenvereinbarung 2022 der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe
[4] KV Baden-Württemberg, Arzneimittelvereinbarung für das Jahr 2022
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