Recht

Doch nicht befreit?

Wie sich Probleme bei der Einziehung von Zuzahlungen lösen lassen

Von Semra Sevim | Beim Einlösen ärztlicher Verordnungen in den Apotheken müssen gesetzlich Versicherte meistens eine Zuzahlung in Höhe von fünf bis zehn Euro leisten. Das ist seit vielen Jahrzehnten die Realität im deutschen Gesundheitssystem und für alle Beteiligten „geübte Praxis“. Doch dieses alltägliche Prozedere kann mitunter auch zu Problemen und Konflikten führen. Denn was passiert, wenn zuzahlungspflichtige Versicherte nicht zahlen wollen oder können? Und wie müssen Apotheken im Falle von mehr oder weniger offensichtlich gefälschten Befreiungsausweisen ver­fahren?

Im Folgenden ein Fallbeispiel: Ein Kunde hat letztes Jahr eine gefälschte Befreiung vorgelegt und nun trudeln in der betroffenen Apotheke die „Retaxen“ ein. Daraus ergibt sich eine Summe von 300 Euro. Die Kasse ist untätig.

Hat die Apotheke das Recht, dem Kunden eine Rechnung zu stellen, die er höchstwahrscheinlich ohnehin nicht bezahlen kann bzw. wird? Oder lässt sich bei der Kasse gemäß § 43c Sozialgesetzbuch (SGB) V die fehlende Summe einfordern?

Die Apotheke ist mithin in der prekären Situation, dass sie einem Betrug zulasten der Krankenkasse erlegen ist und zugleich von der Kasse auch noch in Anspruch genommen zu wird. Es handelt sich also eigentlich um einen Anspruch der Krankenkasse gegenüber dem eigenen Versicherten, dessen Nichtzahlung auf die Apotheke ­abgewälzt werden soll. Schließlich stellt sich die Frage, ob eine Anzeige bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft Sinn macht.

Mögliche Lösungswege: Zunächst ist festzuhalten, dass es sich hier um ­verschiedene Konstellationen handeln kann. Diese sollen im Folgenden ­betrachtet werden und mit individuellen Ansätzen gelöst werden.

1. Fallkonstellation:

Die Zuzahlung kann nicht geleistet werden, da der Versicherte über nicht genügend Geld verfügt.

Hier kann es schon ausreichend sein, dass man den Kunden an seine Krankenkasse verweist. Dies sollte man mit der Bitte um Antragsstellung einer Zuzahlungsbefreiung tun. Auch kann es ratsam sein, dass man auf die Härtefallregelung des § 62 Absatz 2 Satz 5 SGB V verweist.

2. Fallkonstellation:

Es erfolgt eine Retaxation durch die Krankenkasse wegen eines gefälschten Befreiungsausweises.

Dabei wäre dem Kunden eine Zahlung theoretisch möglich gewesen, aber er fälschte stattdessen den Ausweis, weil er seiner Zuzahlungspflicht nicht nachkommen wollte.

Hier gilt es zu differenzieren:

a) Offensichtliche Fälschung:

Sollte es sich bei dem in der Apotheke vorgelegten Befreiungsausweis um eine offensichtliche Fälschung handeln, sollte keine Abgabe des Präparates erfolgen. Damit verstößt man nicht gegen den Kontrahierungszwang, der in § 17 Absatz 4 der Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) kodifiziert ist. Nach § 17 Absatz 5 Satz 3 ApBetrO darf das Arzneimittel nicht abgegeben werden, bevor die Unklarheit beseitigt ist, wenn eine Verschreibung einen für den Abgebenden erkennbaren Irrtum beinhaltet, nicht lesbar ist oder sonstige Bedenken vorhanden sind. Sollte dies bspw. durch Unachtsamkeit doch geschehen, so wird angeraten nach § 43c Absatz 1 Satz 2 SGB V eine schriftliche Aufforderung zuzusenden. Diese sollte per Einschreiben mit Rückschein versendet werden. Ferner sollte eine angemessene Frist zur Erstattung darin gesetzt werden. Dieses Schreiben sollte man in Kopie nach dem Verstreichen der Frist an die Krankenkasse zwecks Einziehung übermitteln. Sofern die Krankenkasse dem nicht nachkommt, erscheint ein Rechtsstreit unausweichlich. Dann ist allerdings eine Klage gegen die Krankenkasse notwendig, damit man diese zur Pflicht nach § 43c SGB V ­anhalten kann. Der Apotheker selbst kann den Anspruch nämlich nicht ­gegenüber dem Versicherten geltend machen, denn der Anspruch ist originär durch das Gesetz der Kranken­kasse zuzuordnen.

§ 43c SGB V Zahlungsweg (Auszug)

(1) Leistungserbringer haben Zahlungen, die Versicherte zu entrichten haben, einzuziehen und mit ihrem Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse zu verrechnen. Zahlt der Versicherte trotz einer gesonderten schriftlichen Aufforderung durch den Leistungserbringer nicht, hat die Krankenkasse die Zahlung einzuziehen.

Es kann bei nicht geringwertigen Summen durchaus ratsam sein, ­diesen Schritt zu gehen, da die Situation nicht immer eindeutig sein wird und man so einem Verlust entgehen kann. Auch ein solches Vorgehen kann abschreckenden Charakter ­haben und dazu führen, dass eine ­Retaxation nicht ungerechtfertigt ausgesprochen wird.

Um dieses Problem zu lösen, muss man bestimmen, wann eine offensichtliche Fälschung vorlag. Eine ­offensichtliche Fälschung wird vor­liegen, wenn die Fälschung oder der Missbrauch bei Wahrung der erforderlichen Sorgfalt erkennbar war. Aber was bedeutet hier erforderliche Sorgfalt?

Unstreitig dürfte sein, dass ein Befreiungsausweis von einer nicht existenten Krankenkasse wohl als offenkundig falsch einzustufen sein wird.

Lösung bei einer offensichtlichen Fälschung: Richtig ist, dass niemand unfehlbar ist und auch dem erfahrensten HV-Personal Fehler unterlaufen. Mit oben aufgeführten Rechtsmitteln, ­namentlich einem Zahlungsaufforderungsschreiben an den Kunden und ggf. einer Klage gegen die Krankenkasse, kann auch in dieser Konstellation der betroffenen Apotheke geholfen werden. Fraglich ist nur, ob ihr ein Verschulden zuzurechnen ist. Dies könnte die Krankenkasse ihr evtl. in einem Prozess entgegenhalten. Da diese Konstellation vergleichsweise selten vorkommen wird, ist ein großer Verlust der Apotheke – wenn überhaupt – nicht anzunehmen.

b) Verdeckte Fälschung

Hier stellt sich die Frage, wie viel Nachforschung der Apotheke zugemutet werden kann. Bei einer verdeckten Fälschung ist die Fälschung nicht eindeutig zu erkennen. Hier kann es sein, dass es sich um eine unübliche Schreibweise handelt. Fraglich ist in diesem Kontext, welche Anforderungen an das HV-Personal zu stellen sind. Muss die Apotheke hier bei der Krankenkasse anrufen? Muss sie etwa den Ausweis scannen und mit anderen Ausweisen von derselben Krankenkasse vergleichen? Darf sie dies überhaupt vor dem Hintergrund des Datenschutzes? Wie sind die Anforderungen an eine schuldbefreiende Tätigkeit?

Zunächst sind die Graustufen in dieser Konstellation mannigfaltig. Es ist festzustellen, dass das HV-Personal keine „Fahnder“-Eigenschaft hat, somit erscheinen m. E. die oben genannten Nachforschungsmöglichkeiten im Alltag nicht durchführbar. Es ist richtig, dass man nicht „blind“ sein darf gegenüber Fälschungsversuchen. Auf der anderen Seite ist nicht ersichtlich, wie die Apotheke bei der jeweiligen Krankenkasse zeitnah eine Prüfung des einzelnen Ausweises veranlassen kann. Der Versicherte, sofern nicht Stammkunde, wird sein Arzneimittel direkt mitnehmen wollen. Damit handelt es sich oftmals um eine „Just-in-time-Konstella­tion“. Ihn jedes Mal zu vertrösten erscheint nicht nur willkürlich, sondern auch unangebracht. Die Vermutung sollte dahingehend erfolgen, dass die Richtigkeit des Befreiungsausweises angenommen wird und nicht dahin, dass jeder Kunde mit einem Befreiungsausweis ein ­potenzieller Straftäter ist.

Die Apotheke könnte ihrer schuldbefreienden Sorgfaltspflicht bereits mit einfachen Mitteln nachkommen. Hierzu kann man das Vier-Augen-Prinzip heranziehen, indem man alle Befreiungsausweise durch eine weitere kundige Person im HV durch Inaugenscheinnahme kontrollieren lässt. ­Lösung für den Fall, dass die Fälschung nicht erkennbar war:

Auch hier ist gemäß § 43c Absatz 1 Satz 2 SGB V eine schriftliche Aufforderung an den Kunden zu schicken. Diese sollte, wie oben beschrieben, per Einschreiben mit Rückschein versendet werden und eine angemessene Frist zur Erstattung enthalten. Man sollte dieses Schreiben in Kopie nach dem Verstreichen der Frist an die Krankenkasse zwecks Einziehung übermitteln. Sollte die Krankenkasse dem nicht nachkommen, so muss im Klagewege vorgegangen werden.

Eine Strafanzeige gegen den Kunden ist in solchen Konstellationen nicht ­nötig, da hier die Unrechtsbekämpfung wohl nicht im Vordergrund stehen wird. Die Apotheke will und muss zweckmäßig vorgehen und sich nicht mit Strafanzeigen im Geschäftsbetrieb befassen.

Fazit und Ausblick

In diesem sensiblen Bereich sollten einheitliche Regeln herrschen. Mittlerweile kommen solche Fälschungen ­leider öfter vor. Es ist zu erwarten, dass dies noch öfter geschehen wird. Dies zeigt auch die Fälschungspraxis von Impfausweisen im Rahmen der Corona-Pandemie.

Ein denkbarer Ansatz wäre, die Befreiungsausweise den heutigen ­Sicherheitsstandards anzupassen. ­Dabei könnte man über ein einheitliches Zertifikat oder ein Hologramm nachdenken. Dies sollte von den Krankenkassen einheitlich ausgegeben bzw. konzeptioniert werden, da ansonsten dem Gesundheitssystem hohe Summen entzogen werden. Es darf nicht zu einer Situation kommen, in denen sich der rechtstreue Bürger fragt, weshalb er rechtskonform handelt, wenn sich sonst keiner daran hält und offenbar auch keine Sanktion droht.

Ferner könnte der Deutsche Apothekerverband durch § 129 SGB V im Rahmenvertrag bzw. in ergänzenden Verträgen eine Richtlinie zum Umgang mit solchen Konstellationen mit den Krankenkassen vereinbaren. In diesem Vertrag müssen möglichst genaue Vorgaben enthalten sein, wann eine Fälschung als offensichtlich gilt und wann nicht. Hierzu können Praxisbeispiele gesammelt werden. Die Apotheken sollten mit diesen Anforderungen nicht allein gelassen werden. Dazu müssen die jeweiligen Interessenvertretungen im Dialog eine praktikable Lösung finden und vereinbaren, um den Apotheken eine ­Hilfestellung an die Hand zu geben. Denn es erscheint mehr als nicht sachgerecht, dass diese sich nicht mit originär eigenen Aufgaben beschäftigen sollen. |

Autorin

Dr. Semra Sevim, LL.M. (London), selbstständige Rechtsanwältin, Köln, spezialisiert auf Arzneimittel-, Lebensmittel- und Wettbewerbsrecht sowie Gewerblichen Rechtsschutz. Sie ist außergerichtlich wie forensisch aktiv und hat diverse Expertise in ihren Kernbereichen national wie international vorzuweisen. Zudem ist sie Autorin zahlreicher Fachaufsätze.

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