Wirtschaft

Das fehlende „A“

Apothekenschließungen in NRW vor allem in sozial benachteiligten Stadtteilen

Foto: Axel Bueckert – stock.adobe.com
In den letzten Jahren sind in Deutschland viele Apotheken geschlossen worden. Die Zahl der Apotheken sank z. B. in Nordrhein-Westfalen von 4683 (Ende 2010) auf 4019 (Ende 2019), was einem Rückgang von etwa 14 Prozent entspricht. Eine Übersicht, an welchen Standorten genau die Schließungen erfolgten, ist bisher nicht veröffentlicht. Insofern ist auch nicht bekannt, welche Stadtteile von Apothekenschließungen besonders betroffen sind. Der Frage, inwiefern in sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen Apotheken häufiger schließen als in besser situierten Gegenden, hat sich nun eine Projektarbeit im Masterstudiengang Arzneimittelwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gewidmet.

Die Zahl der Apotheken in Deutschland geht nach Angaben der ABDA weiter zurück. Zum Jahresende 2020 ist sie demnach im Vergleich zu 2019 um 322 Betriebe auf aktuell 18.753 gesunken. Die Apothekendichte in Deutschland liegt nun bei 23 Apotheken pro 100.000 Einwohner und damit deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 32 auf 100.000 Einwohner. Diese Entwicklung zeigt sich auch im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Doch welche Gegenden und damit Bevölkerungsschichten genau von den Schließungen betroffen sind, darüber wurde bisher nicht systematisch geforscht und berichtet.

Ärztliche Über- und Unterversorgung

Bekannt ist, dass sich Ärztinnen und Ärzte lieber in privilegierten Stadtteilen niederlassen. So betrug bspw. die Zahl der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in Hamburg Blankenese im Jahr 2012 7,3 pro 1000 Einwohner, während für die gleiche Bevölkerungszahl im sozioökonomisch eher benachteiligten Hamburger Stadtteil Billstedt nur 1,2 Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung standen. Für Apotheken ist Ähnliches zu vermuten, aber darüber gibt es keine verlässliche Publikation.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben die gesetzlich festgelegte Aufgabe, mithilfe von Niederlassungsbeschränkungen und -steuerungen für eine gleichmäßige Versorgung mit Haus- und Fachärzten zu sorgen, jedoch konnte die ärztliche Über- und Unterversorgung bislang nicht ausreichend wirksam bekämpft werden. Teilweise wird berichtet, dass Stadtteile mit besonderer Problemlage ähnlich wie manche ländliche Gegenden unter einem Ärztemangel leiden. So wurde bspw. öffentlich gemacht, dass in Köln-Chorweiler mit über 12.000 Einwohnern nur noch ein Kinderarzt praktizierte.

Apotheken bieten Niederschwelligkeit

Wenn im ländlichen Raum Apotheken ohne Konkurrenz im Umkreis von 5 km schließen, wird regelmäßig infrage gestellt, ob die flächendeckende Arzneimittelversorgung über Präsenzapotheken noch gewährleistet ist. Wenn Apotheken dagegen in Städten geschlossen werden, wird dies bislang eher nicht diskutiert. Gerade aber in sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen kann die Schließung von Apotheken eine Versorgungslücke aufreißen, wenn beispielsweise für mobilitätseingeschränkte und sozioökonomisch benachteiligte Menschen der Weg zur nächsten Apotheke in der Stadt schwerfällt.

Auch die oftmals hohen Bevölkerungsanteile mit Migrationshintergrund sind in solchen Stadtteilen auf Apotheken angewiesen, in denen ihre Sprache gesprochen wird. Hinzu kommt, dass gerade in solchen Stadtteilen die Stadtbewohner unter einer höheren Krankheitslast leiden als in privilegierten Stadtteilen und insofern ein höherer Bedarf an Prävention und Gesundheitsförderung sowie an Krankenversorgung existiert.

Deshalb können Apotheken aufgrund ihrer Niedrigschwelligkeit, ihrer Verankerung im Stadtteil und dem hohen Vertrauensverhältnis, das dem Apothekenpersonal durch die Wohnbevölkerung entgegengebracht wird, eine wichtige Anlaufstelle für Fragen zu Arzneimitteln und darüber hinaus für Fragen zur Gesundheit allgemein sein. Ein bedeutender Rückgang der Zahl der Apotheken in diesen Stadtteilen könnte von daher ein weiterer Baustein sein, wie sich die Schere bei der Gesundheit zwischen Stadtteilen mit sozioökonomischer Benachteiligung und den übrigen Stadtteilen, insbesondere denen mit einem hohen Anteil sozioökonomisch privilegierter Bewohner, öffnet. Zu dieser Fragestellung gibt es in Deutschland aber keine wissenschaftlichen Untersuchungen.

Wo genau schließen Stadt-Apotheken?

Vor diesem Hintergrund und ausgehend von der Frage, inwiefern sich die Entwicklung der Apothekenzahlen in sozioökonomisch verschieden situierten Stadtvierteln im Rhein-Ruhr-Gebiet darstellt, wurde die Lage im Rahmen einer Projektarbeit im Masterstudiengang Arzneimittelwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster näher analysiert. Zentral ging es dabei um den Aspekt, ob sozioökonomisch benachteiligte Stadtteile besonders von den Apothekenschließungen betroffen sind. Dazu wurden die Amtsapothekerinnen und Amtsapotheker der Großstädte in NRW gebeten, die Apothekenschließungen und -eröffnungen der Jahre 2010 bis 2019 und deren ungefähre Standorte in den Stadtteilen zu nennen. Die Apothekeneröffnungen und -schließungen wurden dann geografisch den offiziellen Stadtteilen zugeordnet. Gleichzeitig wurden die teilnehmenden Großstädte anhand soziodemografischer Daten genauer betrachtet, in welchem Stadtteil eine vorwiegend privilegierte und in welchem eine vorwiegend soziodemografisch benachteiligte Bevölkerungsstruktur, nämlich anhand der Zahl der SGB-II-Leistungsbezieher, anzutreffen ist.

Insgesamt nahmen die Amtsapotheker von zwölf Großstädten dieser Region an der Untersuchung teil, nämlich Bochum, Essen, Oberhausen, Bottrop, Hagen, Remscheid, Dortmund, Herne, Solingen, Duisburg, Mülheim sowie Wuppertal. In der Gesamtbilanz (Neueröffnungen minus Schließungen) verzeichneten alle zwölf untersuchten Großstädte einen Rückgang an Apotheken. Insbesondere in den Jahren 2013, 2015, 2017 und 2018 war der Rückgang der Apothekenzahlen am deutlichsten. Am größten war die Negativbilanz bezogen auf 100.000 Einwohner in den Städten Hagen, Dortmund und Bottrop, am niedrigsten in den Städten Solingen, Wuppertal und Oberhausen (Abb. 1).

Abb. 1: Summe aus Apothekenneueröffnungen und Apothekenschließungen in den Jahren 2010 bis 2019, sortiert nach einzelnen Städten und bezogen auf 100.000 Einwohner.

In der Gesamtbilanz von Neueröffnungen und Schließungen zeigt sich, dass zwar in allen näher betrachteten Stadtbezirken die Zahl der Schließung die Zahl der Neueröffnungen im untersuchten Zeitraum deutlich überstieg, dass die Differenz aber in den sozioökonomisch benachteiligten Stadt­teilen mehr als doppelt so hoch ausfiel (Abb. 2).

Abb. 2: Bilanz (Schließungen werden von Eröffnungen abgezogen) aller Neueröffnungen und Schließungen bezogen auf die 20 Prozent der Stadtteile mit dem höchsten bzw. niedrigsten Anteil an SGB-II-Leistungsbezieher, totale Zahlen und auf 100.000 Einwohner normiert.

Folgerungen und offene Fragen

Die Untersuchung bestätigt somit die Hypothese, dass in den letzten zehn Jahren (2010 bis 2019) die Zahl der Apotheken in sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen insgesamt deutlich stärker abgenommen hat als in privilegierten Stadtteilen.

Schaut man sich einzelne Städte genauer an, lassen sich jedoch Differenzierungen erkennen. So war das beschriebene Ergebnis in den Städten Bochum, Dortmund und Hagen besonders deutlich ausgefallen, während in Städten wie Bottrop, Solingen, Essen und Herne keine oder so gut wie keine Unterschiede festgestellt werden konnten. In den Städten Duisburg und Mülheim überstieg in der Gesamtbilanz die Zahl der Schließungen in den privilegierten Stadtteilen sogar leicht die Zahl der Schließungen in den sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen. Die genauen Gründe dieser Unterschiede bleiben unklar.

Um dies herauszufinden, müssten beispielsweise die genauen Verhältnisse in den einzelnen Städten berücksichtigt werden, wie auch die Situationen in Einkaufsstraßen mit oftmals erhöhter Fluktuationsrate bei den Apotheken bzw. die bereits vor 2010 bestehende Situation der Apotheken in diesen Städten.

Tiefergehende Erkenntnisse könnten auch gewonnen werden, wenn jede einzelne Apothekenschließung bzw. -neueröffnung in Zusammenhang mit den jeweiligen vor Ort existierenden soziodemografischen Verhältnissen in Beziehung gesetzt werden könnte; denn aufgrund solcher Daten ließe sich sehr viel genauer herausarbeiten, warum Apotheken schließen und was das für die Vor-Ort-Bevölkerung bedeutet.

Ob die Bevölkerung gemessen an der Qualität der Distribution, der Information und Beratung oder hinsichtlich Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung in sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen aufgrund der vermehrten Apothekenschließungen heute schlechter als vor 2010 versorgt wird, kann auf der Grundlage dieser Zahlen natürlich nicht nachgewiesen werden.

Denkbar wäre, dass die übrig gebliebenen Apotheken eine gleichwertige Versorgung gewährleisten können und die Bedürfnisse der Vor-Ort-Bevölkerung berücksichtigen, indem sie beispielsweise das Personal mit Fremdsprachenkenntnissen aus den geschlossenen Betrieben übernommen haben. Als sicher kann dagegen angenommen werden, dass die z. T. geforderte „Pantoffelnähe“ der Apotheken zur Bevölkerung in gleichem Ausmaß wie früher heute nicht mehr vorhanden ist. Der soziodemografische Faktor korreliert offenbar deutlich mit der Abnahme der Zahl an Apotheken in den Jahren 2010 bis 2019. Zwar sinkt in allen zwölf nordrhein-westfälischen untersuchten Großstädten die Zahl der Apotheken – also sowohl in soziodemografisch privilegierten als auch benachteiligten Stadtteilen mit wenigen Ausnahmen –, in soziodemografisch benachteiligten Stadtvierteln ist der Anteil an Apothekenschließungen im Durchschnitt aber deutlich höher. |

Literatur

Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) Hrsg. Die Apotheke. Zahlen – Daten – Fakten, Berlin 2010 und Berlin 2020

2HM-Gutachten: Ermittlung der Erforderlichkeit und des Ausmaßes von Änderungen der in der Arzneimittelpreisverordnung geregelten Preise. 2016, S. 196

Gerlinger T. Regionale Ungleichheiten bei der Vorhaltung ambulanter medizinischer Versorgungseinrichtungen. Bundeszentrale für politisch Bildung. Dossier Gesundheitspolitik. 2013. Unter https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/153680/regionale-versorgungsungleichheit Abruf 30.01.2021 (Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE)

Steinert A. Länderreport: Der letzte Kinderarzt von Köln-Chorweiler. Ärzteflucht aus Problemvierteln. Sendung v. 09.12.2010. Deutschlandfunk, unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-letzte-kinderarzt-von-koeln-chorweiler.1001.de.html?dram:article_id=157195#:~:text=%C3%9Cber%202.000%20Kinder%20kommen%20jedes,sich%20in%20besseren%20Vierteln%20niederzulassen.

Lampert T, Kroll LE (2010). Armut und Gesundheit. Hrsg. Robert Koch-Institut Berlin. GBE kompakt 5/2010. www.rki.de/gbe-kompakt (Stand: 01.12.2010) Abruf 30.01.2021

Die ehemalige NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Bündnis 90/Die Grünen) auf dem 3. Westfälisch-Lippischen Apothekertag 2011 in Münster: Biermann D. Landesgesundheitsministerin: Apotheker müssen zum Heilberuf stehen. Pharm Ztg. online, 17.03.2011, unter https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-112011/apotheker-muessen-zum-heilberuf-stehen/. Abruf 30.01.2021

Florian Rausch, Westfälische Wilhelms-Universität Münster/eda

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