Arzneimittel und Therapie

Dringend gesucht: Stummtaste bei Tinnitus

Welche Bedeutung haben hirnaktive Pharmaka?

mab | Ein chronischer Tinnitus stellt eine enorme Belastung für Betroffene dar. Psychologische Unterstützung kann helfen, ist aber mit hohen Kosten verbunden. Vergleichsweise günstig wäre dagegen der Einsatz von Pharmaka. Welchen Nutzen man sich von diesen erhoffen kann, haben Wissenschaftler in einer Netzwerk-Metaanalyse versucht ausfindig zu machen.

Neben verschiedenen anderen Hypothesen werden auch ein erhöhter oxidativer Stress oder ein Ungleichgewicht an antioxidativen Enzymen als mögliche Ursachen eines chronischen Tinnitus diskutiert. Zudem zeigten sich bei Betroffenen in bildgebenden Verfahren abnorme Hyperreaktivitäten bestimmter Gehirnregionen. Verschiedene Studien, in denen Antioxidanzien wie Ginkgo biloba, Vitamin C und Melatonin untersucht wurden, konnten keinen sicheren Wirksamkeitsnachweis erbringen. Daher werden solche pharmakologische Interventionen und Nahrungsergänzungsmittel auch in den Leitlinien bislang nicht empfohlen (s. auch Kommentar von Prof. Dr. Hesse auf S. 19). Um den Nutzen verschiedener Pharmaka bei Tinnitus besser vergleichen zu können, hat eine Arbeitsgruppe eine Netzwerk-Metaanalyse durchgeführt (s. Kasten). Eingeschlossen wurden alle Patienten mit einem Tinnitus ohne spezifische Ursache. Im Vergleich zu Placebo sollte die Verbesserung der Schwere der Tinnitus-­Symptomatik nach der Anwendung verschiedener Pharmaka bewertet werden.

Foto: Bluejayy/AdobeStock

Regulation der Gehirnaktivität

Von 87 aus verschiedenen Datenbanken (u. a. Embase, Cochrane CENTRAL, ClinicalKey, Pubmed) entnommenen Publikationen analysierten drei unabhängige Wissenschaftler schlussendlich 36 randomisierte kontrollierte Studien mit 2761 Probanden (durchschnittliches Alter 52,3 Jahre, 45,5%). Die mittlere Behandlungsdauer betrug 11,9 Jahre. Vor allem unter Einnahme von Wirkstoffen, die die Gehirnaktivität regulieren sollen, verbesserte sich die Schwere der Tinnitus-Symptomatik signifikant. Die Studienautoren nennen hier mit abnehmendem Effekt insbesondere oral eingenommenes Amitriptylin, den zur Rückfallprophylaxe bei Patienten mit Alkoholkrankheit eingesetzten Glutamatmodulator Acamprosat oder Gabapentin. Aber auch unter der antientzündlich und antioxidativ wirkenden Kombination aus einer Dexamethason-Injektion und oral eingenommen Melatonin verbesserte sich die Symptomatik der Patienten im Vergleich zu Placebo. Kein Effekt ließ sich allerdings im sekundären Endpunkt, der Verbesserung der Lebensqualität, feststellen.

Was ist eine Netzwerk-Metaanalyse?

Anders als in einer klassischen Metaanalyse werden in einer Netzwerk-Analyse nicht nur zwei, sondern mehrere verschiedene Therapieoptionen miteinander verglichen. So kann im Anschluss eine Rangliste von der „besten” bis zur „schlechtesten” Intervention erstellt werden. Bei der Analyse erfolgen sowohl direkte Vergleiche (also eine Studie, in der Therapie A mit Therapie B direkt miteinander verglichen wird) als auch indirekte Vergleiche. Bei Letzterem erfolgte für jede Therapieform A und B lediglich ein Vergleich mit Placebo, nicht jedoch ein Vergleich miteinander. In der Netzwerk-Metaanalyse lässt sich dann über statistische Berechnungen die relative Wirksamkeit von A verglichen mit B abschätzen.

Die Autoren verweisen darauf, dass ein paar der Interventionsvergleiche nur auf einigen wenigen randomisierten klinischen Studien basieren. Sie empfehlen jedoch aufgrund der Ergebnisse, in der zukünftigen Forschungsarbeit den Fokus mehr auf Pharmaka zu legen, die in die abnormale Hyperreaktivität des Gehirns und den oxidativen Stress eingreifen. |

Literatur

Chen JJ et al. Efficacy of pharmacologic treatment in tinnitus patients without specific or treatable origin: A network meta-analysis of randomised controlled trials. EClinicalMedicine. 2021;39:101080

Sommer H, Rücker G, Labonté V. Netzwerkmetaanalysen: Wie man vergleichen kann, was nie verglichen wurde. Informationen der Cochrane Deutschland Stiftung (CDS), https://wissenwaswirkt.org/netzwerkmetaanalysen-wie-man-vergleichen-kann-was-nie-verglichen-wurde, Abruf am 15. Dezember 2021

Zweifelhafte Auswertung

Ein Kommentar zur Pharmakotherapie bei chronischem Tinnitus

Der Wunsch nach einer wirksamen Pharmakotherapie ist bei Tinnitus-Patienten ungebrochen. Doch bis heute spricht sich keine Leitlinie für eine solche aus. Ob sich das mit den Ergebnissen der kürzlich publizierten Netzwerk-Metaanalyse ändern könnte, das erläutert Prof. Dr. Gerhard Hesse, Klinikleiter der Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen und einer der federführenden Autoren der Leit­linie in seinem Kommentar.

Prof. Dr. Gerhard Hesse

In einer netzwerkgestützten Metaanalyse untersuchen Chen und Mitarbeiter 36 randomisiert kontrollierte Studien (RCT) mit insgesamt 2761 Teilnehmern [1]. Alle hatten chronischen Tinnitus ohne „behandelbare Ursache“. In der statistischen Auswertung im Vergleich der Studien untereinander finden die Autoren, dass Therapien, die antientzündlich wirken (intratympanale Steroide in Kombination mit Melatonin), und direkt auf kortikale Strukturen zielende Substanzen (besonders Amitriptylin, Gabapentin und Acamprosat, kombiniert mit intradermaler Injektion von Lidocain) die Tinnitusbelastung mehr senken als die Placebokontrollen.

Komorbiditäten nicht berücksichtigt

In der Analyse wird auf Komorbiditäten (z. B. Depressionen, Ängste) und vor allem einen begleitenden Hör­verlust und/oder das Tragen von Hörgeräten nicht eingegangen. Auch werden Messinstrumente zur Erfassung der Reduktion des Tinnitus-Schweregrades nicht benannt. In allen aktuellen Leitlinien zur Behandlung des chronischen Tinnitus (USA, England und auch in der für Deutschland gerade aktualisierten S3-Leitlinie [2]) wird bestätigt, dass für eine medikamentöse Therapie keine Evidenz vorliegt. Der Terminus „Tinnitus ohne behandelbare Ursache“ ist etwas irreführend, da auch eine nicht organische Ursache natürlich behandelbar ist. Wenn nach der Analyse besonders „hirnaktive“ Substanzen wie z. B. das Amitriptylin positiv wirken sollen, dann kann das auch daran liegen, dass diese Substanz ja bekanntermaßen eine deutlich antidepressive Wirkung hat und daher vielleicht eher die Komorbidität behandelt. Die anderen in die Metaanalyse einbezogenen Studien unterstreichen die mangelnde Evidenz eher und sind in der Tinnitus-Leitlinie auch benannt und (negativ) bewertet worden. Das gilt sowohl für die Wirkung von Gabapentin [3, 4], Melatonin [5, 6] als auch für eine „antientzündliche” intratympanale Steroidtherapie. Die für dieses Therapieregime analysierten Studien [7, 8] belegen gerade eindeutig die Wirkungslosigkeit bei chronischem Tinnitus, wobei Cortison in diesem Zusammenhang eher wegen seiner antiapoptotischen als seiner antiinflammatorischen Wirkung eingesetzt wird.

Die in die Analyse einbezogenen Studien werden auch in der Publikation nicht näher benannt, sie müssen erst als elektronische Zusatzinformation heruntergeladen werden und werden dann, so jedenfalls die Erkenntnis aus der aktuellen Leitlinienarbeit, teilweise falsch bewertet. Leider liefert diese „Metaanalyse“ daher keine neuen und vor allem keine verlässlichen Daten und keine belastbare Evidenz für die Wirksamkeit einer medikamentösen Behandlung des Tinnitus.

Literatur

[1] Chen JJ et al. Efficacy of pharmacologic treatment in tinnitus patients without specific or treatable origin: A network meta-analysis of randomised controlled trials. EClinicalMedicine2021;39:101080

[2] Chronischer Tinnitus. S3-Leitlinie der Dt Ges f Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie. 2021.AWMF-Register-Nr. 017/064:1-108

[3] Ciodaro F et al. Oral gabapentin and intradermal injection of lidocaine: is there any role in the treatment of moderate/severe tinnitus? European archives of oto-rhino-laryngology: official journal of the European Federation of Oto-­Rhino-Laryngological Societies. 2015;272(10):2825-30

[4] Hosseinzadeh A et al. Molecular Aspects of Melatonin Treatment in Tinnitus; a Review. Curr Drug Targets. 2019

[5] Miroddi M et al. Clinical pharmacology of melatonin in the treatment of tinnitus: a review. European journal of clinical pharmacology. 2015;71(3):263-70

[6] Pirodda A, Raimondi M, Ferri G. Exploring the reasons why melatonin can improve tinnitus. Med Hypotheses. 2010;6:Epub ahead of print

[7] Lavigne P, Lavigne F, Saliba I. Intratympanic corticosteroids injections: a systematic review of literature. European archives of oto-rhino-laryngology : official journal of the European Federation of Oto-Rhino-Laryngological Societies. 2016;273(9):2271-8

[8] Yener HM et al. The Efficacy of Intratympanic Steroid Injection in Tinnitus Cases Unresponsive to Medical Treatment. The journal of international advanced otology. 2020;16(2):197-200

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