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Analytik

Vollblut, Serum oder Haare?

Wie sich der Mikronährstoffbedarf ermitteln lässt

Im Jahr 2012 erschien als Titel­story im „Spiegel“ der Artikel „Die Vitamin-Lüge – Milliarden-Geschäfte mit überflüssigen Pillen“, in dem die These aufgestellt wurde, dass die meisten Vitaminprä­parate keinen Nutzen hätten, in manchen Fällen sogar schädlich seien und die Sterblichkeit signifikant erhöhen könnten [1]. Sein Erscheinen hatte ein heftiges Medienecho und zahlreiche Leserbriefe und Gegendarstellungen zur Folge. Heute – fast zehn Jahre später – wächst der deutsche Markt mit Nahrungsergänzungsmitteln ungebrochen. | Von Kurt Grillenberger

Laut dem Marktforschungsunternehmen Mintel stieg der Umsatz in diesem Sektor im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 6% auf 1,35 Mrd. Euro. Man gehe davon aus, dass sich diese Nachfrage auch nach der Pandemie fortsetzt und der Spartenumsatz bis 2025 auf 1,7 Mrd. Euro steigt. Nach der veröffentlichten Marktanalyse sind die beliebtesten Vitamine der Deutschen Vitamin D (41% der Befragten) und Vit­amin C (34%). Deutschlands Top-Mineralstoffe sind Magnesium (65%), Eisen (29%), Calcium (29%) und Zink (26%) [2].

Makro und Mikro

Ohne Nährstoffe können unser Körper und alle seine Zellen und Gewebe ihre vielfältigen Aufgaben nicht wahrnehmen. Dabei werden die Nährstoffe bekanntermaßen eingeteilt in Makro- und Mikronährstoffe. Die Makronährstoffgruppen Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße sind unsere Haupt­energielieferanten und Bausteine und bilden quasi das Fundament aller Stoffwechselprozesse. Mikronährstoffe hingegen liefern in der Regel keine Energie, erfüllen aber im Körper vielfältige andere lebenswichtige Aufgaben. Neben den Vit­aminen und Mineralstoffen werden auch andere Stoffgruppen wie essenzielle Fettsäuren, Aminosäuren, Antioxidanzien oder bestimmte sekundäre Pflanzen­inhaltsstoffe zu den Mikronährstoffen gezählt.

Ein dauerhafter Mangel an den energieliefernden Makronährstoffen führt zum Tod. Aber auch eine Unterversorgung mit den meisten Mikronährstoffen kann zu körperlichen Beschwerden und langfristig auch zu ernsten Erkrankungen führen. Manche kann der Körper selber herstellen, bei den meisten sind wir auf eine ausreichende Zufuhr durch die Nahrung angewiesen. Wenige nennenswerte Mikronähr­stoffe können vom menschlichen Körper gespeichert werden, darunter beispielsweise die fettlöslichen Vitamine A, D und E. Wasserlösliche Vitamine können jedoch kaum gespeichert werden, weshalb es hier wichtig ist, den täglichen Bedarf regelmäßig zu decken. Dieser tägliche Bedarf bewegt sich bei den Mikronährstoffen im Milligramm- und teilweise Mikrogramm-Bereich. Grundlage für den Bedarf an den wichtigsten Mikronährstoffen sind die EU-weit geltenden Nährstoffbezugswerte (Nutrition Reference Values, NRV), die in der Lebensmittel-Informationsverordnung [3] festgelegt sind. Der Nährstoffbezugswert gibt die Menge der Vit­amine und Mineralstoffe an, die ein durchschnittlicher gesunder Erwachsener täglich zu sich nehmen sollte, um seinen Bedarf zu decken. Um den Vergleich von Nahrungsergänzungs­mitteln zu erleichtern, muss auf diesen die Tagesdosis der enthaltenen Mikronährstoffe nicht nur als absolute Menge, sondern immer auch in Prozent des NRV-Wertes angegeben werden. Gleichzeitig wird mithilfe der Nährstoffbezugswerte festgelegt, wie hoch die Menge eines beworbenen Nährstoffs pro Tagesdosis mindestens sein muss. NRV-Referenzmengen gibt es nur für Vitamine und Mineralstoffe (s. Tab. 1).

Tab. 1: Nährstoffbezugswerte (NRV) und Referenzwerte der Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (D-A-CH-Referenzwerte) im Vergleich [3, 4]
NRV/Tag [3]
D-A-CH-Referenz­werte [4] für 25- bis 50-Jährige (m/w)
Vitamine
Vitamin A
800 µg
850 µg / 700 µg
Vitamin D
5 µg
20 µg
Vitamin E
12 mg
14 mg / 12 mg
Vitamin K
75 µg
70 µg/ 60 µg
Vitamin C
80 mg
110 mg / 95 mg
Thiamin/B1
1,1 mg
1,2 mg / 1 mg
Riboflavin/B2
1,4 mg
1,4 mg / 1,1 mg
Niacin/Vitamin B3
16 mg
15 mg /  12 mg
Vitamin B6
1,4 mg
1,6 mg / 1,4 mg
Folsäure
200 µg
300 µg
Vitamin B12
2,5 µg
4,0 µg
Biotin
50 µg
40 µg
Panthothen­säure/Vitamin B5
6 mg
6 mg
Mineralstoffe
Calcium
800 mg
1000 mg
Chlorid
800 mg
2300 mg
Chrom
40 µg
30 bis 100 µg
Eisen
14 mg
10 mg / 15 mg
Fluorid
3,5 mg
3,8 mg / 3,1 mg
Iod
150 µg
200 µg
Kalium
2000 mg
4000 mg
Kupfer
1 mg
1,0 bis 1,5 mg
Magnesium
375 mg
350 mg / 300 mg
Mangan
2 mg
2,0 bis 5,0 mg
Molybdän
50 µg
50 bis 100 µg
Phosphor
700 mg
700 mg
Selen
55 µg
70 µg / 60 µg
Zink
10 mg
11 bis 16 mg / 7 bis 10 mg

Darüber hinaus hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) zusammen mit den entsprechenden Fachgesellschaften von Österreich und der Schweiz die sogenannten D-A-CH-Referenzwerte für die empfohlene Nährstoffzufuhr herausgegeben [4]. Mit der Nährstoffzufuhr in Höhe der D-A-CH-Referenzwerte werden laut DGE „lebenswichtige physische und psychische Funktionen sichergestellt, Mangelkrankheiten ebenso wie eine Überversorgung verhindert, Körperreserven geschaffen und – wo möglich – … ein Beitrag zur Prävention chronischer ernährungsmitbedingter Krankheiten geleistet“. Im Gegensatz zu den undifferenzierten NRV werden die D-A-CH-Referenzwerte je nach Geschlecht, Altersgruppen, gegebenenfalls vorliegender Schwangerschaft oder Stillzeit differenziert (siehe Tab. 1). Vergleichbare Referenzwerte gibt es auch von internationalen Organisationen, wie z. B. Food and Agriculture Organization (FAO) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder der EFSA (European Food Safety Authority).

Die aufgeführten NRV- bzw. D-A-CH-Referenzwerte für den Tagesbedarf beziehen sich in der Regel auf gesunde Menschen. Bei verschiedenen Krankheitsbildern, Indikationen oder Körperzuständen (wie z. B. Schwangerschaft) können die empfohlenen Tagesdosen von diesen Normwerten zum Teil erheblich abweichen. So haben schwangere und stillende Frauen einen erhöhten Bedarf an Folsäure, aber auch auf eine ausreichende Versorgung mit Vitamin B12 und Vitamin E sowie den Mineralstoffen Eisen und Iod sollte hier besonders geachtet werden. Frauen, die Kontrazeptiva einnehmen, benötigen mehr Vitamin B6. Bei Rauchern ist der Bedarf an den Vitaminen C und E sowie an Zink deutlich höher als bei Nichtrauchern. Kinder und Jugendliche haben aufgrund des Wachstumsprozesses vor allem für den Knochenaufbau einen höheren Bedarf an Vitamin D, Calcium und Fluorid. Und auch Leistungssportler benötigen mehr von den Nerven- und Muskel-Mineralstoffen Magnesium und Calcium. Vegetarier und Veganer müssen besonders auf ausreichende Zufuhr an den sonst überwiegend in Nahrung auf tierischer Basis vorkommenden Mikronährstoffen Vitamin B12, Vitamin D, Eisen, Jod und Calcium achten. Für detailliertere Angaben siehe unter [5].

Blutbilder und Nährstoffanalyse

Um einem Mangel an bestimmten Mikronährstoffen vorzubeugen oder die Mineralstoffversorgung zu verbessern, besteht die Möglichkeit der Supplementierung. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass bei manchen Mikronährstoffen auch eine Überversorgung eine unerwünschte Symptomatik zur Folge haben kann, weshalb eine Kontrolle des Mikronährstoff-Status zu empfehlen ist. Aufgrund der spezifischen Interaktionen bestimmter Mineralstoffe untereinander reicht oftmals die Bestimmung eines einzelnen Mineralstoffs nicht aus, um eine diagnostische Aussage treffen zu können, weshalb eine kombinierte Bestimmung – auch der antagonistischen Mineralstoffe – sinnvoll sein kann. Ein solcher Ant­agonismus ist für Cadmium und Zink, Nickel und Magnesium sowie für Blei und Calcium beschrieben. Quecksilber bindet Aluminium und Eisen mit hoher Affinität an Selen und blockiert dadurch seine Wirkung. Darüber hinaus fördert Arsen die Ausscheidung von Selen. Daher liefert die parallele Spiegelbestimmung toxischer Metalle gerade bei einer latenten Unterversorgung mit Mineralstoffen eine wichtige Zusatzinformation [6].

„Auf gut Glück“ zu supplementieren ist also meistens nicht anzuraten. Doch wie lässt sich nun die ausreichende Versorgung des Körpers mit Mikronährstoffen kontrollieren? Dazu bieten verschiedene Anbieter unterschiedliche Wege an.

Beim Vorliegen von Symptomen, die einen Mangel bestimmter (Mikro)Nährstoffe zur Ursache haben können, kann zunächst ein vom Arzt veranlasstes kleines oder großes Blutbild einen ersten Hinweis geben. Beides wird von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert, so dass auf den Patienten keine zusätzlichen Kosten zukommen. Diese Standard-Blutbilder geben zwar noch keinen Aufschluss über einen konkreten Nährstoffmangel, können aber ggf. andere Krankheiten ausschließen. So wird beim kleinen Blutbild vor allem die Anzahl der einzelnen Blutzellen (Erythrozyten, Leukozyten, Thrombozyten) gemessen. Außerdem werden über die Hämoglobinkonzentration und den Hämatokrit, also den Anteil der Zellbestandteile im Verhältnis zum gesamten Blutvolumen, weitere Werte bestimmt:

  • MCV (= mittleres zelluläres Volumen)
  • MCH (= mittlerer Hämoglobingehalt eines Erythrozyten)
  • MCHC (= mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentra­tion aller Erythrozyten).

Die Normalwerte des kleinen Blutbildes sind in Tabelle 2 aufgeführt.

Tab. 2: Normalwerte im kleinen Blutbild (nach [7])
Blutparameter
Normalwerte
Erythrozyten
4,1 bis 5,2 Mio./µl (Frauen) bzw. 4,5 bis 5,9 Mio./µl (Männer)
Leukozyten
4000 bis 10.000/µl (Frauen und Männer)
Thrombozyten
150.000 bis 380.000/µl (Frauen und Männer)
Hämatokrit
37 bis 45% (Frauen) bzw. 42 bis 50% (Männer)
Hämoglobin
12 bis 16 g/dl (Frauen) bzw. 13 bis 17 g/dl (Männer)
mittleres zelluläres Volumen (MCV)
85 bis 98 fl (Frauen und Männer)
mittlerer Hämoglobin­gehalt eines Erythrozyten (MCH)
27 bis 34 pg/Zelle (Frauen und Männer)
mittlere korpusku­läre Hämoglobinkonzentration aller Erythrozyten (MCHC)
32 bis 36 g/dl (Frauen und Männer)

Zusätzlich findet im großen Blutbild eine Differenzierung der Leukozyten nach ihren verschiedenen Zelltypen in Granulozyten (Neutrophile, Eosinophile, Basophile), Monozyten und Lymphozyten statt.

Über diese „Standard“-Blutbilder hinaus liefert die Mikronährstoffdiagnostik individuelle Blutspiegel von Vitaminen, Spurenelementen, Mineralstoffen, essenziellen Fettsäuren und Aminosäuren. Zahlreiche klinische Laboratorien und Anbieter von Medizinischer Labordiagnostik bieten dies als sog. Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) an, die überwiegend nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören und daher vom Patienten selbst zu tragen sind.

Für die Mikronährstoffdiagnostik können sowohl Proben aus Vollblut als auch aus dem zellfreien Blutserum analysiert werden. Da zahlreiche Mikronährstoffe wie z. B. Magnesium, Mangan oder Zink jedoch in hoher Konzentration intrazellulär vorliegen, würde hier die Untersuchung von Serum zu verfälschten Ergebnissen führen, so dass in diesen Fällen die Analyse aus dem Vollblut erfolgen sollte. So ist das Mineral Zink beispielsweise zu mehr als 90% an die roten Blutkörperchen gebunden, weshalb eine Bestimmung aus dem Serum nur eine Momentaufnahme darstellen würde (s. Abb. 1). Erst die Vollblut­analyse liefert einen Einblick auf die körpereigenen Zink-Speicher und damit den individuellen Versorgungszustand mit diesem Spurenelement. Die Mineralstoffanalyse im lysierten Heparin- oder EDTA-Vollblut bestimmt gleichzeitig die zellulär gebundenen wie auch die frei im Serum lokalisierten Metalle. Für andere, wenig an Zellen gebundene Mikronährstoffe wie z. B. Molybdän oder Vitamin D hingegen ist eine Gehaltsbestimmung aus dem Serum durchaus ausreichend.

Abb. 1: Extrazelluläre und intrazelluläre Verteilung ausgewählter Mineralstoffe im Blut (nach [6])

Durch Korrelation der gemessenen Mineralstoffkonzentrationen aus der Vollblutanalyse mit dem gleichzeitig ermittelten Hämatokrit, also dem prozentualen Anteil der Blutzellen, können die intrazellulären Konzentrationen errechnet werden (Hämatokrit-Korrelation) [8]. Während die Vollblut-Konzentrationen den Gesamtversorgungsstatus anzeigen, geben die extrazellulären Plasma- bzw. Serumkonzentrationen eine Momentaufnahme der Mineralstoffversorgung wieder und die intrazellulären Konzentrationen stellen einen homöostatischen Speicherpool dar. Aus dem Vergleich der Vollblut-Konzentrationen und der intrazellulären Konzentrationen der unterschiedlichen Mineralstoffe lassen sich somit differenziertere Aussagen über die Nährstoffversorgung treffen [6]:

  • Vollblutwert normal – intrazelluläre Konzentra­tion niedrig. Trotz in der aktuellen Situation normaler Vollblutwerte könnte ein Patient von einer Supplementierung profitieren, da die (intrazellulären) Speicher nicht ausreichend gefüllt sind.
  • Vollblutwert niedrig – intrazelluläre Konzentration normal. Diese Konstellation kann auf einen in der aktuellen Situation gesteigerten Bedarf bei ansonsten langfristig ausreichender Versorgung hindeuten. So könnte z. B. eine akute Entzündung zu einem vermehrten Transport von Mineralstoffen aus dem Blut ins Gewebe führen und damit den extrazellulären (und somit den Vollblut-) Wert senken.

Die Analysenmethoden

Bestimmt wird die Mineralstoff-Konzentration aus Blutproben in der Regel mittels ICP-MS (inductively coupled plasma mass spectrometry), einer robusten und sehr empfindlichen massenspektrometrischen Analysenmethode in der anorganischen Spurenanalytik. Mit dieser Analysenmethode werden für die meisten Elemente Nachweisgrenzen im Bereich von ng/l oder besser erreicht. Alternativ können bei manchen Mineralstoffen auch photometrische Bestimmungsmethoden (z. B. bei Calcium, Magnesium oder Eisen), die Atomabsorptionsspektro­metrie (AAS) oder auch ionenselektive Elektroden (z. B. bei Kalium) zum Einsatz kommen. Die gängigsten Methoden zur Vitamin-Bestimmung sind HPLC, LC-MSMS oder Immunoassays (z. B. bei den Vitaminen B12 und D). Und auch die Quantifizierung der natürlichen Aminosäuren aus Blutproben erfolgt in der Regel durch Flüssigchromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung (LC/MS).

Alternative Anbieter, alternative Methoden

Neben der Untersuchung von Blutproben in klinischen Laboratorien auf ärztliche Veranlassung findet man auch noch andere Anbieter für Mikronährstoffanalysen im Internet und anderen Medien. So bieten durchaus auch manche Apotheken im Rahmen des § 1a Abs. 11 der Apothekenbetriebsordnung die Durchführung oder Vermittlung von Mikronährstoffanalysen oder – wie es dort auch manchmal genannt wird – von „Vitalstoffanalysen“ im Rahmen der Gesundheitsberatung als apothekenübliche Dienstleistung an. Die hier beworbenen bzw. angewendeten Methoden basieren häufig auf physikalischen Prinzipien wie der Bioresonanz-Diagnostik oder der Spektralphotometrie. Ein Bioresonanz-Gerät misst elektrochemische Schwingungen, wodurch auf biochemische Vorgänge im Körper geschlossen und die Auswahl der erforderlichen Nährstoffe erleichtert werden soll. Spektralphotometrische Methoden beruhen auf dem grundlegenden Prinzip, dass jede chemische Komponente Licht in einem substanzspezifischen Wellenlängen­bereich absorbiert bzw. reflektiert. Anerkannte wissenschaftliche Belege, dass diese alternativen Methoden zur Analyse von Mikronährstoffen geeignet sind, fehlen jedoch.

Gibt man im Internet bei Suchmaschinen den Begriff „Mikronährstoffanalyse“ ein, so findet man auf den ersten Plätzen der Ergebnisliste kommerzielle Anbieter für den Kauf solcher Tests, online und ganz bequem von zu Hause. Selbst beim Online-Versender Amazon wird man fündig. Zu Preisen zwischen 30 und 100 Euro kann man mit wenigen Mausklicks eine umfassende Mikronährstoffanalyse erwerben, die auf bis zu über 70 Parameter testet, darunter die wichtigsten Mineralstoffe, Vitamine, Aminosäuren sowie einige Enzyme. Das untersuchte Probenmaterial sind in der Regel die Haare – manchmal auch die Nägel – des Probanden. Und das Procedere ist meistens vergleichbar:

Nach dem Online-Kauf erhält der Käufer per E-Mail eine persönliche Identifikationsnummer und den Link zu einem online-Fragebogen. Dort werden neben der Abfrage von Geschlecht, Alter und Körpergröße zahlreiche Fragen zu bestehenden Begleiterkrankungen oder Krankheitssymptomen sowie zu eventuell eingenommenen Arzneimitteln gestellt. Nun soll eine Probe von 10 bis 20 Haaren entnommen werden, die dann – zusammen mit dem Anmeldebogen – im frankierten Briefumschlag an das Labor des Anbieters geschickt wird. Nach ein bis zwei Wochen erhält der Ein­sender per E-Mail einen Ergebnisbericht.

Doch auch die Analyse von Mikronährstoffen mittels Haaranalyse wird von der Wissenschaft ganz überwiegend nicht als geeignet anerkannt. Es handelt sich dabei nicht um ein standardisiertes Verfahren. In der Fachliteratur sind keine Normwerte für diese Methode zu finden. Die Zuverlässigkeit der Messergebnisse sowie deren Aussagekraft werden von der Wissenschaft bezweifelt [9]. Unter anderem werden die folgenden Argumente als Basis zur Kritik heran­gezogen:

  • Es fehlt an belastbaren Daten, ob und in welchem Umfang die einzelnen Nährstoffe im Haar eingebaut werden.
  • Eine Korrelation zwischen den Ergebnissen der Haar­analyse und den Analysedaten der Blutanalyse ist nicht wirklich möglich.
  • Da die im Haar eingelagerten Substanzen in der Regel dem Stoffwechsel des Körpers nicht mehr zur Verfügung stehen, ist zu bezweifeln, inwieweit deren Konzentration im Haar mit möglichen gesundheitlichen Folgen in Zusammenhang stehen.
  • Auch wenn von den meisten Anbietern angegeben wird, dass Haarfärbungen und Haarbehandlungen keinen Einfluss auf den Test haben sollen, ist nicht auszuschließen, dass diese und andere Faktoren wie auch die Ernährung einen Ein­fluss auf die Stoffeinlagerung im Haar haben können.
  • Aus diesen Gründen werden die Haare von der anerkannten Wissenschaft nicht als Gewebe angesehen, das in irgendeiner Form den Mikronährstoff-Haushalt wider­spiegeln könnte.

Die Stiftung Warentest ist 2004 bei einem Vergleich mehrerer Anbieter von Haaranalysen zu dem Ergebnis gekommen, dass von Labor zu Labor teilweise erhebliche Schwankungen der Messergebnisse zu verzeichnen waren und teilweise bei ein und derselben anonymisierten Person deutlich unterschiedliche Resultate ausgewiesen wurden [10]. Und auch das Umweltbundesamt konstatiert in einer Stellungnahme der Kommission Human-Biomonitoring, dass Haaranalysen sich „nicht zur Beurteilung des individuellen Versorgungsstatus mit Spurenelementen und Mineralstoffen eignen. Die Ableitung von Therapie- oder Diätvorschlägen aus den Ergebnissen von Haaranalysen auf Mineralstoffe und Spurenelemente wie dies von Apotheken, Naturheilpraxen oder kommerziellen Haaranalyseinstituten vorgenommen wird, ist aus Sicht der Kommission grundsätzlich abzulehnen“ [11].

Erfahrungen eines Selbstversuchs

In Vorbereitung der Erstellung dieses Berichts wurde vom Autor eine eigene Haarprobe an einen prominent im Internet werbenden Anbieter derartiger Mikronährstoffanalysen eingesandt. Nach weniger als einer Woche wurde ein „Laborbericht“ als PDF-Datei in Form einer dreistufigen Zuordnung der untersuchten 70 Parameter zu den Kategorien „normal bis leichter Bedarf“, „starker Bedarf“ bzw. „sehr starker Bedarf“ per E-Mail zugestellt. Angegeben waren jeweils prozentuale „Abweichungen lt. feinstofflicher Messung“. Worauf sich diese Abweichungen beziehen, wurde nicht angegeben. Auch durch welche Messmethode die Ergebnisse erzielt wurden, blieb offen bis auf den kryptischen Verweis auf eine „professionell erprobte, komplementäre physikalische Methode“. Eine diesbezügliche konkrete Nachfrage bei dem Unternehmen blieb mit dem Hinweis auf „wettbewerbsrechtliche Nachteile“ ebenfalls ohne eine klärende Antwort [12].

Bis heute ist die Mikronährstoff-Haaranalyse kein anerkanntes diagnostisches Verfahren, das als alleinige Grundlage für therapeutische Entscheidungen dienen kann. Im besten Fall können wiederholte, nach gleichbleibenden Standards durchgeführte Analysen Veränderungen und Tendenzen in der Zufuhr von Mikronährstoffen über die Ernährung bzw. durch Supplementierung aufzeigen. Durch zeitlich versetzt durchgeführte Haaranalysen oder die Auswertung verschiedener Abschnitte derselben Haarprobe könnten prinzipielle Veränderungen von Mikronährstoff-Konzentrationen auf­gezeigt und vergleichbar gemacht werden. Anhand der Entwicklung der Analysenergebnisse nach standardisierten und wissenschaftlich anerkannten Verfahren und durch zertifizierte Laboratorien ist so eine Kontrolle von Therapieerfolgen oder -entwicklungen denkbar. |

 

Literatur

 [1] Grill M. Die Vitamin-Lüge – Milliarden-Geschäfte mit überflüssigen Pillen. Der Spiegel 2012;3

 [2] Deutscher Markt für Nahrungsergänzungsmittel erreicht 2020 Umsatz von 1,35 Mrd. Euro. Informationen der Mintel Germany GmbH vom 11. Februar 2021, https://de.mintel.com/pressestelle/deutscher-markt-fuer-nahrungsergaenzungsmittel-erreicht-2020-umsatz-von-135-mrd-e, Abruf am 1. September 2021

 [3] Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel (nichtamtliche Bezeichnung: Lebensmittel-Informationsverordnung LMIV). Anhang XIII. Fassung vom 1. Januar 2018

 [4] Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Österreichische Gesellschaft für Ernährung, Schweizerische Gesellschaft für Ernährungsforschung, Schweizerische Vereinigung für Ernährung (Hrsg.), 2. Auflage, 6. aktualisierte Ausgabe 2020

 [5] Gröber U. Mikronährstoffe. Wissenschaftliche Verlags­gesellschaft Stuttgart 2011

 [6] Die Vollblutmineralanalyse. Diagnostikinformation Nr. 298 der IMD Institut für Medizinische Diagnostik Berlin-Potsdam GbR (IMD Labor Berlin), www.imd-berlin.de/fileadmin/user_upload/Diag_Info/298_Vollblutmineralanalyse.pdf, Abruf am 3. September 2021

 [7] Das kleine und das große Blutbild. Informationen der München Klinik gGmbH, www.muenchen-klinik.de/blutkrankheiten/blutbild/, Abruf am 2. September 2021

 [8] Löffler et al. Optimierung der Vollblutmineralanalyse durch die Berechnung intrazellulärer Konzentrationen. OM & Ernährung 2020

 [9] Drexler H, Schaller KH. Haaranalysen in der klinischen Umweltmedizin: Eine kritische Betrachtung. Dtsch Arztebl 2002;99:A-3026/B-2557/C-2276

[10] An den Haaren herbeigezogen. Ein Test verschiedener Anbieter von Haaranalysen und die erschreckenden Ergebnisse. Stiftung Warentest, test 2004;10:86-90

[11] Bekanntmachung des Umweltbundesamtes: Haaranalyse in der Umweltmedizin. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2005;48:246-250

[12] Literatur beim Verfasser

Autor

Prof. Dr. Kurt Grillenberger, Pharmaziestudium und Promotion in Erlangen; Forschungstätigkeit in der Abteilung Nuklearmedizin des Universitätsklinikums Ulm; seit 1997 Dozent am Berufskolleg für PTA und an der Hochschule der Naturwissenschaftlich-technischen Akademie Prof. Dr. Grübler gGmbH; Lehrbeauftragter für Chemie an der Hochschule Kempten

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