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Schwappt bald die Entschädigungswelle?

Opioidkrise in den USA: US-Apothekenketten müssen sich vor Gericht verantworten

hb | Zum ersten Mal stehen in den USA Apothekenunternehmen im ­Zusammenhang mit der dort seit Jahren grassierenden Opioid­epidemie vor Gericht. Sie werden beschuldigt, ihre Kontrolle bei der Rezept-Belieferung vernachlässigt und die Krise damit noch angeheizt zu haben. Sollten sie haftbar gemacht werden, müssen sie mit einer Welle von Rechtsstreitigkeiten und Entschädigungsforderungen in Milliardenhöhe rechnen, von Reputationsschäden ganz zu schweigen.

In den letzten Jahrzehnten sind in den USA Millionen von Amerikanern durch Überverschreibung und Missbrauch legaler Schmerzmittel auf Opiatbasis süchtig geworden oder sogar dadurch zu Tode gekommen. Arzneimittelherstellern und Händlern wird vorgeworfen, die Präparate aggressiv vermarket und vor den damit verbundenen Gefahren die Augen verschlossen zu haben. Dafür sollen sie nun geradestehen.

Foto: steheap/AdobeStock

Ein amerikanisches Problem Durch Überverschreibung und Missbrauch sind in den USA in den vergangenen Jahrzehnten Millionen von Menschen süchtig geworden oder sogar gestorben.

Apotheker sollen Kontrollen vernachlässigt haben

Zum ersten Mal müssen sich auch Apotheken vor Gericht verantworten. Eine Klage der Landkreise Lake und Trumbull in Ohio konzentriert sich auf die Vertriebs- und Abgabepraktiken der Ketten-Unternehmen CVS, Walgreens, Walmart und Giant Eagle. Ursprünglich war auch Rite-Aid bei der Klage mit im Boot, aber das Unternehmen hatte sich im August mit den Counties geeinigt. An Trumbull County zahlte Rite Aid 1,5 Millionen US-Dollar. Wie viel an Lake County ging, wurde nicht bekannt­ge­geben. In dem Prozess, der in der ersten Oktoberwoche am US-Bundes­gericht in Cleveland begonnen hat, machten die Anwälte der Landkreise geltend, dass die Apotheken verpflichtet seien, Daten über Bestellungen zu sammeln und verdächtige Rezepte zu iden­tifizieren. Dem sollen sie jedoch nicht nachgekommen sein. Sie hätten es vielmehr versäumt, ihren Apothekern die notwendigen „Werkzeuge und Möglichkeiten“ zur Verfügung zu stellen, um den unsachgemäßen Verkauf von Opiaten zu stoppen, so der Vorwurf. Außerdem sollen sie Warnungen von Mitarbeitern über unzureichende Sicherheitsvorkehrungen ignoriert haben. Dadurch sollen große Mengen süchtig machender Schmerzmittel auf dem Schwarzmarkt gelandet sein. „Sie [die Apothekenketten] haben einfach wie ein Automat ausgegeben“, wird Mark Lanier, ein Anwalt der Counties aus seiner Eröffnungsrede zu Prozessbeginn in US-Medien zitiert. In Trumbull County sollen zwischen 2012 und 2016 rund 80 Millionen Dosen verschreibungspflichtiger Schmerzmittel abgegeben worden sein, 400 für jeden Landkreisbewohner. In Lake County waren es in dem Zeitraum 61 Millionen, 265 für jeden Bewohner.

Milliarden-Zahlungen drohen

Die Apotheken weisen die Vorwürfe vehement zurück. Sie hätten die Re­zepte lediglich ordnungsgemäß beliefert. „Apotheker kreieren keinen Bedarf“, meinte Kaspar Stoffelmayr, Anwalt von Walgreens, zum Prozess­beginn. „Sie sagen Ärzten nicht, was sie verschreiben sollen.“ Außerdem geben die Kettenunternehmen an, dass sie die Behörden durchaus über alle Warnsignale informiert hätten. Die Schuld für die Epidemie schieben sie stattdessen Pharmafirmen, korrupten Ärzten und Drogenhändlern zu, die Opioide illegal aus anderen Quellen beziehen.

Der Prozess wird voraussichtlich sieben Wochen dauern. Zwar nur von zwei Landkreisen eingeleitet, wird er einen Präzedenzfall für Tausende anderer anhängiger Klagen von lokalen Bundesstaaten und Regierungen schaffen, so die allgemeine Erwartung. Wenn die Unternehmen haftbar gemacht werden, müssen sie möglicherweise Milliarden von Dollar an die Kläger, darunter regionale Regierungen und Bevölkerungsgruppierungen auszahlen. Mit dem Geld sollen die Schäden durch die Opioid-Krise abgefedert werden, zum Beispiel durch die Finanzierung von Entzugsprogrammen für Betroffene, die Unterstützung von Pflege- und Notfalleinrichtungen oder auch zur Bekämpfung der Kriminalität, die durch Opioid-Abhängigkeit ausgelöst werden kann.

Über 3300 Klagen

Die Verantwortlichen für die Opioid-Krise zur Rechenschaft zu ziehen, ist in den USA ein Dauerthema. Zunächst lag der Fokus der Klagen hauptsächlich auf Arzneimittelherstellern und -händlern. Später gerieten auch die Apotheken ins Fadenkreuz der Justiz. Mittlerweile stehen mehr als 3300 Klagen an. Fast 3000, die bei Bundesgerichten eingereicht wurden, werden von dem US-Bezirksrichter Dan Aaron Polster in Cleveland in einer „Multidistrict Litigation“ konsolidiert. Polster drängt die Beteiligten mit Nachdruck dazu, sich außergerichtlich zu einigen und Vergleiche anzustreben.

Literaturtipp

Spannend wie ein Krimi: Die „Panama-Papers“ des globalen Drogenmarkts. Mit dem heutigen Wissen lassen sich beinahe unbegrenzt psychoaktive Sub­stanzen entwickeln, darunter auch das Schmerzmittel Fentanyl. Es ist etwa 100 Mal stärker als Morphin und führt jedes Jahr zu Tausenden Drogentodesfällen, vor allem in den USA, aber zunehmend auch in Europa. Ben Westhoff hat vier Jahre zum globalen Netzwerk der Produzenten und Profiteure der neuen Drogen recherchiert und erzählt darüber in einem packenden Bericht – ebenso wie über die meist erfolglosen Versuche, sich den Kartellen ent­gegenzustemmen. Westhoff ist überzeugt: Strafen und Repression helfen nicht, wichtig sind vielmehr Aufklärung, Unter­stützung und Angebote, um Schäden an Leib und Leben zu minimieren.

Von Ben Westhoff
Fentanyl
Neue Drogenkartelle und die tödliche Welle der Opioidkrise
Übersetzt von Astrid Gravert
264 S., Gebunden
ISBN 978-3-7776-2852-3
S. Hirzel Verlag 2021

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Spektakuläre Vergleiche

Einen solchen Vergleich hatten im Juli dieses Jahres die drei größten Arzneimittelgroßhändler McKesson, AmerisourceBergen und Cardinal Health sowie der Arzneimittelhersteller Johnson & Johnson akzeptiert. Danach könnten sie letztlich über einen Zeitraum von 18 Jahren bis zu 26 Milliarden US-Dollar für Hilfsprogramme und ähn­liche Maßnahmen zahlen. Insgesamt sollen durch den Vergleich fast 4000 Klagen und diverse Verfahren mit einem Schlag beigelegt werden.

Purdue Pharma, das durch die aggressive Vermarktung des Schmerzmittels Oxycontin maßgeblich zur Opioid-Krise in den USA beigetragen hat, scheint ebenfalls den Kopf aus der Schlinge gezogen zu haben. Anfang September genehmigte ein New Yorker Konkursrichter Purdues Reorganisationsplan, der auf einem 10-Milliarden-US-Dollar-Vergleich beruht. Nach dem Insolvenzplan soll die Firma in eine Stiftung überführt werden. Die Inhaberfamilie Sackler hat zugestimmt, in zehn Jahren 4,5 Milliarden US-Dollar zur Vergleichssumme beizusteuern, unter anderem für Präventions- und Behandlungsprogramme. In der Stiftung wird sie keine Rolle mehr spielen. Auf Kritik stößt, dass die Einigung eine Immunitätsklausel vorsieht, die die Familie vor gegenwärtigen und auch künftigen opioidbezogenen Klagen schützen soll.

Drei Wellen von Todesfällen

Nach Angaben auf der Webseite der US-Centers for Disease Control and Prevention (CDC) starben in den USA von 1999 bis 2019 fast 500.000 Menschen an einer Überdosis eines Opioids, einschließlich verschreibungspflichtiger und illegaler Opioide. Der Anstieg der Todesfälle verlief laut CDC in drei verschiedenen Wellen: Die erste Welle begann mit der vermehrten Verschreibung von Opioiden in den 1990er-Jahren (natürliche und halbsynthetische Opioide und Methadon), die zweite 2010 mit einer raschen Zunahme der Todesfälle durch Heroin und die dritte 2013 mit einem signifikanten Anstieg der Todesfälle durch Überdosierung synthetischer Opioide, insbesondere solcher mit illegal hergestelltem Fentanyl.

Naloxon besser verfügbar machen

Kurz darauf hatte die Opioidkrise ein solches Ausmaß angenommen, dass der damalige US-Präsident Donald Trump am 26. Oktober 2017 deswegen einen nationalen Gesundheitsnotstand ausrief. Seit einigen Jahren wird nun vermehrt versucht, der Opioid-Epidemie gegenzusteuern. Unter anderem hat die nationale Gesundheitsbehörde strengere Richtlinien für die Verschreibung von Opioiden veröffentlicht. Bei der Verminderung von Todesfällen durch Überdosieren spielt die Verfügbarkeit des Antidots von Naloxon eine große Rolle. In Bundesstaaten, in denen Apotheker dieses direkt ohne Verschreibung verkaufen dürfen, sterben deutlich weniger Menschen an Über­dosen. Dies hat eine neuere US-Studie herausgefunden. |

Literatur

Abouk R, Pacula RL, Powell D. Association Between State Laws Facilitating Pharmacy Distribution of Naloxone and Risk of Fatal Overdose. JAMA Intern Med. 2019 Jun 1;179(6):805-811. doi: 10.1001/jamainternmed.2019.0272.

Ahlheim C. Vergleich im Opioid-Streit. US-Pharmahändler zu Milliardenzahlungen bereit. AZ 2021, Nr. 30, S. 4, 26.07.2021

Ahlheim C. Opioidkrise: Purdue wird zerschlagen. AZ 2021, Nr. 36, S. 4, 06.09.2021

Blasius H. Klagen gegen CVS, Walgreens, Rite Aid. Heftige Vorwürfe gegen US-Apothekenketten in der Opioidkrise. DAZ.online vom 8. Juni 2020

Blasius H. Opioid-Abhängigkeit. Gesundheitsnotstand in den USA, Entwarnung in Deutschland. DAZ.online vom 7. November 2017

Blasius H. USA. Opioidkrise: Jetzt werden auch Apotheken angeklagt. DAZ.online vom 14. Januar 2020

Blasius H. Opioid-Missbrauch in den USA. Weniger Tote, wenn Apotheker Naloxon abgeben dürfen. DAZ.online vom 28.05.2019

Caniglia J. Lake, Trumbull counties set for nation’s first opioid trial against pharmacy chains. 24. September 2021. https://www.cleveland.com/court-justice/2021/09/lake-trumbull-counties-set-for-nations-first-opioid-trial-against-pharmacy-chains.html

Chutchian M. U.S. judge grants Purdue Pharma‘s $7 mln exec bonus plan, faces blunt criticism. VOm 13. September 2021. https://www.reuters.com/business/healthcare-pharmaceuticals/bankruptcy-judge-approves-purdue-pharmas-7-mln-executive-bonus-plan-2021-09-13/

Gillispie M. Trial against pharmacy chains’ opioid sales begins. 5. Oktober 2021. https://apnews.com/article/business-health-trials-ohio-lawsuits-0ebf54b5eb09eb1ee787cf8f5ed5e160

Thomas D. Opioid crisis: US pharmacies face moment of truth as trial begins. 6 October. https://www.bbc.com/news/business-58820598

Segall G. Pharmacy chains failed to prevent opioid misuse, U.S. jury hears. 5. Oktober 2021. https://www.reuters.com/business/healthcare-pharmaceuticals/pharmacy-chains-face-first-trial-over-us-opioid-epidemic-2021-10-04/

Müller C. Opioidabhängigkeit. Amerikas Sucht nach Fentanyl. DAZ.online vom 2. Januar 2017

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