Arzneimittel und Therapie

Mit Atropin länger in die Ferne sehen

Augentropfen können die Progression der Myopie verlangsamen

Aufgrund unseres modernen Lebensstils, geprägt von viel Zeit vor Bildschirmen statt im Freien, sind immer mehr junge Menschen kurzsichtig. Schon länger wird eine Therapie mit niedrigdosierten Atropin-Augentropfen diskutiert. Eine neue Studie aus China zeigt, dass Kinder von solchen Tropfen profitieren können. Das Belladonna-Alkaloid verminderte die Progression der Krankheit signifikant.

Die Kurzsichtigkeit (Myopie) ist eine der häufigsten Augenerkrankungen weltweit. Die Prävalenz ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich angestiegen. Besonders in urbanen Gesellschaften in Asien sind bis zu 80% aller Schulkinder betroffen [1]. Die Pathogenese ist komplex und von genetischen Einflüssen sowie Umweltfaktoren geprägt. Bildschirmarbeiten und intensives Lesen scheinen die Krankheit zu begünstigen [2]. Die Augen Betroffener fokussieren das einfallende Licht vor anstatt auf der Netzhaut. Der Augapfel wächst, um diesen Mangel auszugleichen, und verursacht dadurch die Kurzsichtigkeit. Auf lange Sicht erhöht sich das Risiko für ernsthafte Folgen, beispielsweise für eine Retinaablösung [2]. Um die Kurzsichtigkeit zu berichtigen, werden unter anderem korrektive Brillen verordnet und ein vermehrter Aufenthalt im Freien angeraten.

Foto: Anastassiya – stock.adobe.com

Myopie beginnt oft im Grundschulalter. Die Krankheit kann das Risiko für Netzhauterkrankungen erhöhen.

Positiver Effekt lange bekannt

In den letzten Jahren ist zunehmend die Behandlung mit Atropin-Augentropfen in den Fokus gerückt. Erste Berichte für den Einsatz des Belladonna-Alkaloids bei Kurzsichtigkeit finden sich bereits im Jahre 1874 [3]. Derzeit ist ungeklärt, wie genau Atropin in diesem Kontext wirkt. Ein anti­muskarinischer Effekt auf die Akkommodation scheint aber keine Rolle zu spielen [4]. Insbesondere sehr niedrige Dosen des Alkaloids sind vielversprechend, da in geringen Dosierungen die Nebenwirkungen erheblich reduziert sind. Allerdings gab es bis zuletzt nur wenige kontrollierte Studien zu dieser Fragestellung.

Fortschreiten signifikant verlangsamt

Eine randomisierte, doppelblinde und placebokontrollierte Interventionsstudie aus China untersuchte daher nun die Wirksamkeit und Sicherheit einer solchen niedrigdosierten Atropingabe [5]. Hierfür wurden 220 Kinder mit Kurzsichtigkeit (-1 bis -6 Dioptrien) im Alter von sechs bis zwölf Jahren rekrutiert. Sie bekamen ein Jahr lang abends entweder einen Tropfen Atropin- (0,01%) oder Placebo-Augentropfen appliziert. Unter der Atropin-Therapie schritt die Kurzsichtigkeit der Patienten durchschnittlich nur um 0,44 Dioptrien voran, während sie sich in der Placebogruppe um 0,77 Dioptrien verschlechterte. Damit verminderte das Alkaloid die Progression der Krankheit um 34,2%, der Unterschied war statistisch signifikant (p < 0,001). Mit Placebo-Tropfen verstärkte sich die Fehlsichtigkeit bei 69,9% der Patienten um mehr als 0,5 Dioptrien und bei 34,9% um mehr als 1 Dioptrie. Bei den Kindern, die Atropin appliziert bekommen hatten, geschah dies nur bei 51% bzw. 13,2%. Ebenso waren die Augen der Patienten der Verumgruppe um 22% weniger in ihrer axialen Länge gewachsen als in der Kontrollgruppe (Atropin: 0,32 mm; Placebo: 0,41 mm; p = 0,004). Die Atropin-Augentropfen waren insgesamt gut verträglich. In nur wenigen Fällen wurde eine erhöhte Lichtempfindlichkeit oder eine Bindehautentzündung beobachtet.

Zu viele Studienabbrecher

Von dieser Studie allein lässt sich noch keine eindeutige Empfehlung ableiten. Es fehlen hierfür Daten zur Langzeitwirkung bzw. zu einem möglichen Rebound-Effekt nach Absetzen der Augentropfen. Zudem schied gut ein Drittel aller Patienten beider Gruppen aus der Studie aus, ohne in der Auswertung berücksichtigt zu werden. Die Ergebnisse lassen sich so schwerlich generalisieren. Gleichwohl unterstreicht diese Untersuchung das Potenzial einer Therapie der Kurzsichtigkeit mit niedrigdosiertem Atropin. Eine frühere Studie aus Singapur kam zu dem Schluss, dass höhere Dosen zunächst stärker wirkten. Aufgrund eines geringeren Rebounds nach dem Absetzen war jedoch die geringste Dosis von 0,01% insgesamt am effektivsten [6]. Auch hierzulande werden niedrigdosierte Atropin-Tropfen bei Kurzsichtigkeit bereits off label eingesetzt [7]. |
 

Literatur

[1] Lin LLK et al. Prevalence of myopia in Taiwanese schoolchildren: 1983 to 2000. Ann Acad Med Singap 2004;33:27-33

[2] Cooper J und Tkatchenko AV. A Review of Current Concepts of the Etiology and Treatment of Myopia. Eye Contact Lens 2018;44:231–247

[3] Derbey H. On the Atropine Treatment of Acquired and Progressive Myopia. Trans Am Ophthalmol Soc 1874;2:139–154

[4] Lagrèze WA und Schaeffel F. Preventing Myopia. Dtsch Arztebl Int 2017;114:575-580

[5] Wei S et al. Safety and Efficacy of Low-Dose Atropine Eyedrops for the Treatment of Myopia Progression in Chinese Children – A Randomised Controlled Trial. JAMA Ophthalmol 2020;138:1178-1184

[6] Chia A et al. Atropine for the treatment of childhood myopia: changes after stopping atropine 0.01%, 0.1% and 0.5%. Am J Ophthalmol 2014;157:451–457

[7] Stellungnahme des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands, der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft. Empfehlungen bei progredienter Myopie im Kindes- und Jugendalter. Stand Dezember 2018

Apotheker Dr. Tony Daubitz

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