Fehlermanagement

Darf’s ein bisschen mehr sein?

Tropfen, Messlöffel, Milliliter – der große Unterschied

Einnahmehäufigkeiten bei flüssigen oralen Arzneiformen lassen im bewährten Viererschema (z. B. 1-0-0-0) viel Interpretationsspielraum. Deswegen kommen hier zur Spezifizierung der Einzeldosen verschiedene Maßeinheiten wie mg, ml oder Tropfen zum Einsatz. Durch Übertragungsfehler und Verwechslungen der Einheiten kann es zu einer Vielzahl an Unter- und Überdosierungen kommen. Dies veranschaulicht sehr gut ein Fallbericht aus CIRS-NRW, bei dem Eltern ein Antibiotikum für ihr Kind mittels eines Schnapsglases statt einer Dosierspritze verabreichten und hiermit zehnfach überdosierten. | Von Oliver Schwalbe
Foto: DAZ/Alex Schelbert

Korrektes abmessen ist bei der Zubereitung von Antibiotika-Trockensäften ebenso wichtig wie bei der Dosierung. Liegt eine Dosierspritze bei, sollte sie auch verwendet werden!

Im vorliegenden Fallbericht führte die Verwendung eines Schnapsglases als Dosierungshilfe anstatt der beiliegenden Dosierspritze zu einer zehnfachen Überdosierung (6 cl = 60 ml als Einzeldosis) eines Antibiotikums. Nachdem die Antibiotika-Flasche fast leer war, suchten die Eltern die Apotheke auf. Dort wurden sie über die Überdosierung informiert und auf die richtige Dosierung (1 × 4 ml und 1 × 2 ml mit der beiliegenden Dosierspritze) hingewiesen. Recherchen in der ABDA-Datenbank und ein Anruf bei der Gift­notrufzentrale ergaben, dass größere Mengen an Cefaclor relativ untoxisch sind [1]. Eine Beobachtung des Kindes über Nacht zu Hause wurde empfohlen.

Was waren die beitragenden Faktoren?

Möglicherweise hat bei der Abgabe des Antibiotikums in der Apotheke eine unzureichende Aufklärung über die ­korrekte Applikation und Dosierung des Antibiotikums stattgefunden. Gerade bei erklärungsbedürftigen Arzneiformen, wie Antibiotika-Trockensäften, sollte eingehend beraten werden, da bei den Eltern kein pharmazeutisches Wissen über die richtigen Mengen und Verhältnisse vorausgesetzt werden darf. Grundsätzlich können bei der Anwendung eines antibiotikahaltigen Trockensaftes auch diverse andere Fehler z. B. bei der Herstellung der Suspension durch Laien, dem Umgang mit der Dosierhilfe oder der Lagerung entstehen [2].

Fall-Nr.: 213447: Anwendungsfehler durch die Eltern

Was ist passiert?
Altersgruppe des Patienten: 6 bis 10 Jahre. Anwendungsfehler durch die Eltern: Statt 6 ml mit der beiliegenden Dosierspritze zu geben, fanden sie es praktischer, mit einem Schnapsglas 6 cl zu dosieren. Das Ergebnis war eine zehnfache Überdosierung. Den Eltern fiel auf, dass die Flasche schon fast leer war und sie fragten in der Apotheke nach. Es wurde bei der Abgabe erklärt, zunächst 4 ml und dann 2 ml mit der beiliegenden 5-ml-Spritze zu geben.

Was war das Ergebnis?
Recherche in der ABDA-Datenbank, Information bei der Giftinfozentrale. Zum Glück war das Cefaclor relativ untoxisch.
Beruhigung der Eltern, das Kind sollte über Nacht zu Hause beobachtet werden.

Wo sehen Sie Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?
Sensibilisierung der Teammitglieder für mögliche Anwendungsfehler. Die Patienten bitten, ausschließlich die beiliegenden Dosierhilfen zu verwenden.

Welche Maßnahmen kann ich ableiten?

Im Apothekenteam sollte das Situationsbewusstsein im Hinblick auf Patientengefährdungen beim falschen Umgang mit Antibiotikasäften geschärft werden: Es empfiehlt sich, Eltern grundsätzlich den Hinweis zu geben, dass Dosierung und Anwendung des Arzneimittels ausschließlich über die mitgelieferte Dosierspritze erfolgt. Bei dieser Erklärung wird die Dosierspritze am besten aus der Packung herausgenommen und den Eltern die Skala erklärt. Individuell verordnete Volumina können auf der Dosierspritze mit einem wasserfesten Filzstift markiert werden (in diesem Fall: 1 × 4 ml und 1 × 2 ml). Weiter sollte der Vorteil erläutert werden, dass das flüssige Arzneimittel mittels Dosierspritze direkt in den Mund des Kindes gegeben werden kann. Dadurch, dass der Saft direkt in die Wangentasche appliziert wird und nicht die Zunge umspült, wird ein gegebenenfalls schlechter Geschmack nicht so wahrgenommen. Die auf dem Rezept angegebene Dosierung des Arztes ist nach der BAK-Leitlinie auf ihre Plausibilität zu überprüfen: Bei einem sechs bis zehn Jahre alten Kind beträgt die Normaldosierung für Cefaclor 30 mg/kg Körpergewicht pro Tag. Durch das Rechnen kann vielleicht auch mehr Sensibilität für die individuelle Dosierung des antibiotikahaltigen Saftes geschaffen werden. Durch eine ausführliche und fachgerechte Beratung von Eltern junger Patienten können Anwendungsfehler insgesamt reduziert und der Therapieerfolg mit flüssigen Antibiotika deutlich gesteigert werden. Die korrekte Zubereitung der Suspensionen durch pharmazeutisches Personal bietet sich als eine zusätzliche Serviceleistung der Apotheke an.

Plausibilität einer Verordnung

Bei der Abgabe von Arzneimitteln auf ärztliche Verordnung ist die Plausibilität zu prüfen. Neben der formalen Prüfung des Rezepts (Angaben über den Patienten, den verordnenden Arzt, die Krankenkasse und die Arzneimittel sowie Ausstellungsdatum und Gültigkeit der Verordnung) wird die Plausibilität der Verordnung geprüft in Hinblick auf

  • Arzneistoff bzw. Arzneistoffkombination schlüssig?
  • (individuelle) Dosierung bzw. Dosierungsintervall
  • Art und Dauer der Anwendung therapeutisch üblich?
  • Darreichungsform für den Patienten geeignet?
  • geeignete Packungsgröße für den Anwendungszeitraum?

Bei Unklarheiten ist Rücksprache mit dem verordnenden Arzt zu halten.

(nach [3])

Medikationsfehler bei flüssigen Arzneimitteln: Die Tücken unterschiedlicher Maßeinheiten

Einzeldosen bei flüssigen Arzneimitteln können in unterschiedlichen Einheiten ausgedrückt werden (z. B. mg, ml, mg/ml, IE). Hier kann es auch zu Übertragungsfehlern kommen, z. B. beim Übertragen der Dosierung von einem Rezept auf die Arzneimittelpackung. Am häufigsten werden die Einheiten ml und mg [4] verwechselt. Verschiedene Prozessschritte können bei diesen Fehlern betroffen sein. Diese reichen von der Verordnung, über die Abgabe, die Aktualisierung des Medikationsplanes bis zur Anwendung wie im oben ausgeführten Fallbericht. Nachfolgend aufgeführt sind einige weitere Beispiele aus CIRS-NRW:

  • Verordnung: Überdosierung Pipamperon durch Verwechslung der Einheiten mg und ml mit dem Ergebnis einer Vervierfachung der Pipamperon-Dosis (Fall-Nr. 201633, 200223)
  • Abgabe: Amoxicillin 500 mg Trockensaft statt Amoxicillin 5% Trockensaft (Fall-Nr. 200079)
  • Abgabe: 2 ml wird als Dosis auf die Verpackung des Antibiotika-Saftes statt der verordneten Dosis von 2 Messlöffeln übertragen (Fall-Nr. 177137)
  • Aktualisierung des Medikationsplanes: 5 ml statt der verordneten 5 Tropfen Amitriptylin-Lösung wurden auf den Medikationsplan übertragen. Ergebnis war eine zwanzigfache Amitriptylin-Dosis (Fall-Nr. 189074)

CIRS-NRW

CIRS-NRW steht für „Critical-Incident-Reporting-System Nordrhein-Westfalen“. Es handelt sich um ein internetgestütztes Berichts- und Lernsystem zur anonymen Meldung von kritischen Ereignissen in der Patientenversorgung. CIRS-NRW soll dazu beitragen, dass über kritische Ereignisse offen gesprochen und aus ihnen gelernt wird. Somit sollen Wege zur Vermeidung von Risiken diskutiert und Lösungsstrategien erarbeitet werden. Die Apothekerkammern Nordrhein und Westfalen-Lippe sind Partner von CIRS-NRW – gemeinsam mit den Ärztekammern, den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenhausgesellschaft NRW. Die Professionen Arzt und Apotheker treffen insbesondere im Medikationsprozess aufeinander. Die beidseitige Sensibilisierung für Medikationsfehler sowie die gegenseitige Kenntnis der organisatorischen Strukturen in Arztpraxis und Apotheke tragen zur Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit bei. Das sektoren- und professionsübergreifende Berichts- und Lernsystem CIRS-NRW ist in Deutschland einzigartig.

Mehrere internationale Standards bevorzugen die Angabe der Einzeldosis in einem standardisierten Mengenmaß (z. B. SI-Einheit) und bevorzugt in „mg“. Die Angabe in mg wird insbesondere auch für flüssige Arzneimittel wie perorale Säfte und Tropfen empfohlen, da diese in unterschiedlichen Konzentrationen verfügbar und Dosisangaben unter Bezugnahme auf „ml“ unklar sein können. Zusätzlich verkompliziert die generische Substitution die Situation, wenn die Austauschpräparate den Wirkstoff in einer anderen Konzentration enthalten. Die Angabe in ml oder Tropfen sollten eher bei der Arzneimittelabgabe nachträglich angegeben und dokumentiert werden, z. B. direkt auf dem Präparat oder dem Medikationsplan [5]. In Deutschland existieren bislang keine gesetzlichen Vorschriften, wie Dosierungen anzugeben sind. Eine gute Orientierung für die Entwicklung von Standards bietet die Handlungsempfehlung „Gute Verordnungspraxis in der Arzneimitteltherapie“ des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. |
 

Literatur

[1] Wirkstoffdossier Cefaclor. ABDA-Datenbank, Zugriff am 7. Dezember 2020

[2] Arzneimittelanwendung: Vom Trockensaft zum Heilmittel – (k)ein Kinderspiel. DAZ 2007;33:36, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2007/daz-33-2007/vom-trockensaft-zum-heilmittel-k-ein-kinderspiel

[3] Information und Beratung des Patienten bei der Abgabe von Arzneimitteln auf ärztliche Verordnung. Kommentar zur Leitlinie der Bundesapothekerkammer, Stand: 13. November 2019

[4] Kerker-Specker C, Brühwiler LD, Paula H, Schwappach D. Critical Incident Reporting zu Medikationsfehlern mit Maßeinheiten und Berechnungen. Qualität und Sicherheit in der Gesundheitsversorgung 2020;158:54-61, DOI: https://doi.org/10.1016/j.zefq.2020.10.004

[5] Gute Verordnungspraxis in der Arzneimitteltherapie. Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (APS) (Hrsg) Berlin, DOI: 10.21960/202002, 2. Auflage, September 2020

Autor

Dr. Oliver Schwalbe war nach einem Stu­dium der Pharmazie sieben Jahre als Versorgungsforscher tätig. Seit 2012 ist er Abteilungsleiter Ausbildung, Fortbildung und Arzneimitteltherapiesicherheit bei der Apothekerkammer West­falen-Lippe (AKWL). Seit 2020 ist er Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AKWL für Versorgungsforschung in der Apotheke.

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