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Digitalisierung

Keine Angst vor künstlicher Intelligenz

Was Daten aus der Apotheke leisten könnten – und was nicht

Die Einführung des E-Rezeptes und einer elektronisch auswertbaren Patientenakte schürt erneut Ängste, dass die heutigen Apotheker durch den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) weitgehend entbehrlich werden könnten. Die Bewertung der Arzneimittelanwendung am Menschen ist aber ebenso wie die persönliche Beratung von Patienten ein höchst individueller und komplexer Vorgang. Der Entwicklung und Anwendung von Algorithmen, die diesen Prozess adäquat abbilden können, sind dadurch enge Grenzen gesetzt. | Von Marion Schaefer

Neue technologische Lösungen wie das E-Rezept verbessern theoretisch die Bedingungen, künstliche Intelligenz (KI) anwenden zu können. Denn sie erlauben nicht nur, dass Algorithmen Daten automatisiert erfassen, um Erkenntnisse einer rationalen Arzneimittelanwendung zu gewinnen. E-Rezept, elektronische Patientenakte und Co. generieren massenhaft Daten, mit denen Algorithmen trainiert werden könnten, Muster abzuleiten, um behandelnde Ärztinnen und Ärzte mit Entscheidungshilfen zu unterstützen.

„Mehr Daten“ führen nicht zwangsläufig zu praktisch verwertbaren Ergebnissen. Einerseits sind Datenverarbeitungsprozesse anfällig für Störungen und Manipulationen. Andererseits muss geklärt werden, welche Fragestellungen der Arzneimittelversorgung formuliert werden können, dass sie mithilfe von Algorithmen statistisch abgesicherte Aussagen ermöglichen. Der Hype um die KI basiert mehr auf vagen Erwartungen als auf nachprüfbarer Evidenz. In der nur teilweise öffentlich geführten Diskussion ist immer wieder zu hören, dass demnächst Algorithmen und KI Entscheidungen übernehmen, Empfehlungen geben, Prognosen stellen und somit Fachleute überflüssig machen. In der Realität lassen sich jedoch nur wenige Ansätze finden. Und wenn doch, dann sind sie methodisch diskussionswürdig, meist nicht im Routinegebrauch überprüft und schon gar nicht evaluiert. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass Algorithmen auch im Gesundheitsbereich nicht ohne Weiteres zugänglich bzw. verständlich sind und darüber hinaus von den Entwicklern als geistiges Eigentum betrachtet werden.

KI in der ­Arzneimittelversorgung

Ein Beispiel aus der Apotheke für Algorithmen, die Muster erkennen, sind die Zusatzempfehlungen bei der Arzneimittelabgabe. Diese ermittelt die Apothekensoftware aus frü­heren gleichzeitigen Abgaben von rezeptpflichtigen und rezeptfreien Arzneimitteln. Das gleiche Prinzip findet auch anderswo Anwendung (Google, Amazon, Hotelbuchungen usw.). Das hat relativ wenig mit „Intelligenz“ zu tun, sondern mit reinem Zählen.

Digitale Lösungen, die für Patienten und Vertreter der Heilberufe Nutzen stiften, sind bislang selten. Grundsätzlich lassen sich inhaltliche Anwendungsmöglichkeiten von Algorithmen im Gesundheits­bereich bzw. im engeren Sinne der Arzneimittelversorgungsforschung folgenden Bereichen zuordnen:

  • Unterstützung der Diagnostik
  • Unterstützung von Therapieentscheidungen, einschließlich Arzneimittelverordnung oder Arzneimittelauswahl in der Selbstmedikation
  • Unterstützung der Prognose von Krankheits­verlauf und Heilungsaussichten
  • einfache statistische Assoziationen aus dokumentierten Daten
  • Datenerfassung und -auswertung im Rahmen eines Medikationsmanagements
  • Ergebnisbewertung von therapeutischen Maßnahmen (Outcome Evaluation)

Vielfältige Datenbanken im Gesundheitswesen

Im Gesundheitswesen greift künstliche Intelligenz oft auf Datenbanken zurück, die nicht angelegt worden sind, um datengestützt Erkenntnisse zu gewinnen, sondern um Abläufe zu organisieren. Daher können Erkenntnisse nur bewertet oder genutzt werden, wenn die jeweiligen strukturellen oder methodischen Limitationen klar sind. Zudem sind alle Datenbanken anfällig für zufällige oder auch systematische Fehler – z. B. bei der Datenerfassung. Im Bereich der Arzneimittelanwendungsforschung gibt es folgende Grundtypen von Datenbanken:

Produktdatenbanken stellen die Basisdaten zugelassener Arzneimittel mit allen Zulassungskriterien bereit (z. B. ABDA-Datenbanken, MMI Pharm­index Arzneimitteldaten, Arzneimittel-Informationssystem AMIce). Wenn sie auf der behördlich zer­tifizierten Datenbasis beruhen, werden sie kontinuierlich aktualisiert. Für die künstliche Intelligenz sind sie nur insofern von Interesse, als sie die komplexen Informationen zu Arzneimitteln in einer strukturierten Weise abbilden. So kann im Bedarfsfall gezielt darauf zugegriffen werden. Ein bereits genutztes Beispiel: Die additive Berechnung der anticholinergen Last bei Polymedikation oder auch Alternativvorschläge von Arzneimitteln der gleichen Indikation, wenn das ursprünglich verordnete Arzneimittel als kontraindikativ gelistet ist.

Datenbanken zur Arzneimittelverordnung dienen in erster Linie der Abrechnung zwischen Leistungserbringer und Leistungsträger, meist den Krankenkassen (z. B. Apothekenrechenzentren/DAPI und Krankenkassen, MediPlus/IMS). Sie können aufzeigen, wie sich Verordnungsstrukturen entwickeln. Ob eine beobachtete Trendänderung auf eine bestimmte Intervention zurückzuführen ist, lässt sich aber nur dann mit Sicherheit bewerten, wenn man den Einfluss aller anderen möglichen Faktoren ausschließen kann. Dies dürfte unter Praxisbedingungen kaum möglich sein, wobei die Aussagesicherheit mit der Größe der Datenbank eher abnehmen dürfte.

Datenbanken zur Arzneimittelanwendung speichern Daten immer mit Bezug auf die jeweiligen Anwender (z. B. Cave-Checks der ABDA-Datenbank, Therafoxpro der ADKA). Von diesen werden zumindest Alter und Geschlecht erfasst. Dadurch können Algorithmen Aussagen darüber treffen, welche Patienten (nach Alter und Geschlecht) mit welcher Häufigkeit bestimmte Arzneimittel erhalten haben. Werden unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) und bekannte Kontraindikationen für individuelle Patienten dokumentiert, lassen sich deren Prävalenzraten berechnen. Werden solche Prävalenzraten innerhalb einer Indikationsgruppe verglichen, könnte dies zusätzliche Informationen für die Patientenberatung liefern. Datenbanken zur Arzneimittelanwendung könnten zahlreiche weitere Erkenntnisse bereitstellen. Die folgende Auflistung soll kein Vorschlag für eine routinemäßige Datenauswertung in der Apotheke sein. Es geht lediglich um Auswertungsoptionen, die mithilfe der dokumentierten Daten umgesetzt werden könnten, falls eine konkrete Fragestellung dies erforderlich macht. Auch bei den theoretisch denkbaren Auswertungen zur Arzneimittelanwendung sollte das Prinzip der Datensparsamkeit gelten.

Weitere Erkenntnisse, die durch Auswertung größerer Datenmengen zur Arzneimittelanwendung zu erwarten wären – vorausgesetzt die benötigten Merkmale und Ereignisse werden dokumentiert – sind zum Beispiel:

  • realistische UAW-Rate, gegebenenfalls differenziert nach Alter und Geschlecht
  • Prävalenz von UAW, Interaktionen, Therapieabbrüchen
  • Signalerkennung in der Pharmakovigilanz
  • Optimierung der individuellen Dosierung
  • Definition indikationsspezifischer Dosierungsbereiche
  • produktbezogener Adhärenzvergleich
  • Identifizierung von Auffälligkeiten bei neu eingeführten Arzneimitteln
  • Analyse des Interaktionsrisikos und dessen klinische Bewertung
  • Erkennung und Begleitung von suchtgefährdeten Patienten
  • Berechnung und Entwicklung von Therapiekosten
  • Abbildung von Behandlungsabläufen mit Arzneimitteln
  • Vorhersage von Krankheitsverläufen unter Arzneimitteltherapie (predictive analytics)
  • Korrelationen zwischen individuellen Merkmalen und Krankheitsverlauf
  • Nachverfolgung von Teilnehmern einer klinischen Prüfung

Datenbanken mit individuellen Betreuungsdaten: Bei Betreuungsdatenbanken erfolgt die Datenerfassung immer auf individuelle Personen bezogen. Sie unterscheiden sich jedoch in Umfang und Detailliertheit der dokumentierten Individualdaten. Da die Zahl der Einflussfaktoren auf individuelle Krankheitsverläufe groß ist und sie oft auch nicht eindeutig definiert sind, ist es von Vorteil, neben einer allgemeinen, möglichst umfassenden Datenerfassung (wie etwa bei den Krankenkassen) für häufig vorkommende und gut eingrenzbare Erkrankungen eigene Registerdatenbanken anzulegen und kontinuierlich auszuwerten.

Ihren vollen Nutzeffekt – auch im Sinne einer algorithmengesteuerten KI – können Betreuungsdatenbanken aber nur dann entfalten, wenn auch Behandlungsergebnisse systematisch bewertet und dokumentiert werden. Denn nur so kann eine validierte Nutzen-Risiko-Bewertung von Behandlungsstrategien vorgenommen und ggf. ver­glichen werden.

Klar und zweckmäßig strukturierte Betreuungsdaten­banken bilden demnach auch die Ausgangsbasis für so­genannte selbstlernende Systeme, die auf der Grundlage vorgegebener Algorithmen kontinuierlich neu generierte individuelle Daten für den fortlaufenden Erkenntnisgewinn nutzbar machen. Sie sind damit nicht nur für eine langfristige produktbezogene Risikobewertung von Arzneimitteln sondern auch für die langfristige patientenbezogene Nutzenbewertung der Arzneimittelanwendung von Bedeutung. Inwiefern auf Basis der jeweils aktuellen Datenlage zielführende Behandlungsempfehlungen nach einer gestellten Diagnose – die demzufolge auch so korrekt wie möglich durchgängig dokumentiert und gegebenenfalls korrigiert werden müsste – für den einzelnen Patienten abgeleitet werden können, bedarf weiterer Analysen. Auf jeden Fall können individualisierte Therapieempfehlungen, die auch die spezifischen Merkmale des jeweiligen Patienten berücksichtigen (vor­liegende Grunderkrankungen und deren Medikation, sich daraus ergebende potenzielle Wechselwirkungen, bereits bekannte Unverträglichkeiten, genetische Ausstattung des Cytochroms P 450 usw.), Unterstützung für die behandelnden Ärzte bieten, aus denen sie eine begründete Wahl treffen können.

Fazit für die Praxis

Künstliche Intelligenz ist – zumindest im äußerst komplexen Bereich der gesundheitlichen Betreuung, die stets die inter- und intraindividuelle Variabilität im Auge haben muss – ein zeit- und ressourcenaufwendiger Prozess, der an mehrere Voraussetzungen gebunden ist:

  • Die strukturierte Primärdatenerfassung muss (reproduzierbar) im täglichen Routineprozess erfolgen.
  • Jede potenzielle KI-Anwendung muss deshalb praktikabel und alltagstauglich sein.
  • Die verwendeten Algorithmen sind kontinuierlich mit Blick auf die generierten Ergebnisse zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen oder zu korrigieren.
  • Dies wiederum setzt voraus, dass auch jeweils zweck­mäßige Ergebnisparameter (Outcomes) patientenindi­viduell erhoben werden, die einen Abgleich mit den durch spezifische Behandlungsmaßnahmen erreichten Therapiezielen gestatten.
  • Gleichzeitig muss eine Nutzenbewertung aller oder einzelner Maßnahmen (auch in wirtschaftlichem Sinn) möglich sein, weil nur so der immense Aufwand zu rechtfertigen ist.
  • Nicht zuletzt muss gesichert sein, dass Hackerangriffe und Manipulationsversuche abgewehrt und stets ausreichende Rechner- und Speicherkapazität verfügbar sind.

Daher wird der Zeitaufwand, der mit der Analyse und Bewertung der Algorithmen verbunden ist, entscheiden, ob solche digitalen Anwendungen in der Praxis akzeptiert werden. Erkenntnisse, die auch für die Patientenberatung von Interesse sind, sollten deshalb regelmäßig in der einschlägigen Fachpresse publiziert werden.

Um therapeutischen Entscheidungen aus statistischen Ergebnissen der künstlichen Intelligenz abzuleiten, bedarf es der Erfahrung und Intuition der Experten. Daher sollten Fachexperten immer in die Entwicklung von Algorithmen eingebunden werden und eng mit IT-Experten kooperieren. Nur ausgerüstet mit diesem Wissen sind Algorithmen in der Lage, Ergebnisse für den individuellen Patienten zu bewerten. Denn statistisch ermittelte Ergebnisse weisen in der Regel eine Regression zur Mitte. Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse müssen deshalb für statistische Ausreißer nicht gelten. Diejenigen aber, die unmittelbar an der Betreuung von Patienten beteiligt sind und ihnen täglich gegenübersitzen, dürfen durch die Anforderungen der Gesundheits-IT nur so in Anspruch genommen werden, dass sie den Menschen, die ihre Hilfe brauchen auch ihre menschliche Zuwendung geben können. Denn ohne die interaktive Kommunikation, die von Bewertung begleitet und in Akzeptanz münden muss, bleiben algorithmengesteuerte Lösungen wirkungslos. |

Autorin

Marion Schaefer studierte Pharmazie in Halle und habilitierte 1984 an der Humboldt-Universität Berlin. Seit 1985 ist sie Dozentin für Arzneimittelepidemiologie und Sozialpharmazie. Von 2001 bis 2017 leitete sie den Masterstudiengang Consumer Health Care. Seit 2018 ist Schaefer als Gastwissenschaftlerin am Institut für Klinische Pharmakologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin tätig.

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