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Abgekaut!
Nägelbeißen ist oft mehr als ein optisches Problem
Nägelkauen – Onychophagie (von griech. Onychos = Nagel und phagein = essen) – ist bei Kindern ein weitverbreitetes Phänomen. Meist beginnt es nicht vor einem Alter von drei bis vier Jahren, gehäuft ist es zwischen vier und sechs Jahren zu beobachten, Sieben- bis Zehnjährige sind seltener betroffen. Ein erheblicher Anstieg ist dann wieder in der Pubertät zu beobachten, da dies für viele Jugendliche eine schwierige Zeit ist. In Studien konnten für diese Altersklasse Prävalenzen zwischen 25 bis 30% beobachtet werden. Während bei Kindern bis zehn Jahre beide Geschlechter gleichermaßen betroffen sind, wird danach das Nägelkauen bei Jungen deutlich häufiger als bei Mädchen beobachtet [1, 2]. Nur wenige Studien untersuchen die Häufigkeit des Nägelkauens bei Erwachsenen. Diese zeigen eine Prävalenz bei jungen Erwachsenen von ca. 20%, die Lebenszeitprävalenz liegt mit ca. 50% deutlich höher [3].
Wie kommt es zum Nägelkauen?
Die Ursache der Onychophagie ist unbekannt. Fraglich ist, ob Onychophagie nur eine Angewohnheit ist oder eine zugrunde liegende Psychodynamik hat. Gemäß ICD-10 Klassifikation gehört das Nägelkauen als stereotype Bewegungsform zu den Verhaltensstörungen, zusammen mit Daumenlutschen oder Nasebohren [4]. Bei manchen Menschen ist Nägelkauen ein automatisches Verhalten, wenn sie andere Aktivitäten ausüben, zum Beispiel ein Buch lesen oder Fernsehen. Erfolgt das Nägelkauen aus Langeweile oder während der Arbeit an schwierigen Problemen, spiegelt dies einen bestimmten emotionalen Zustand wider. Durch Verwicklung in soziale Interaktionen reduziert sich dann das Verhalten.
Bei anderen scheint Nägelkauen als Mechanismus zur Linderung von Stress oder Angst zu dienen. Stress in verschiedenen Stadien der psychischen Entwicklung eines Kindes kann zu unterschiedlichen psychiatrischen Störungen führen. Manche betrachten das Nägelkauen in der frühen Kindheit als Ersatz für das Daumenlutschen, welches bereits im Säuglingsalter beginnt. Zuletzt versuchen einige Menschen Unregelmäßigkeiten wegzubeißen, damit die Nägel perfekt aussehen. Irrationalerweise setzen sie das Verhalten auch fort, obwohl die Nägel danach schlechter aussehen. Höhere Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen sowie eine erhöhte Inzidenz bei Kindern, deren Eltern Onychophagie in der Vorgeschichte haben, lassen auf einen gewissen genetischen Anteil schließen [5, 6].
Warum ist Nägelkauen problematisch?
Das Abkauen der Nägel kann akute Infektionen des den Nagel umgebenden Gewebes auslösen (Paronychie), was schließlich zu einer chronischen Paronychie führen kann. Die Haut rings um die Nägel kann Erytheme, Entzündungen, tiefreichende Substanzdefekte, hängende Nägel, Narbenbildung bis hin zur Keloidbildung aufweisen. In seltenen Fällen kommt es zur Osteomyelitis des darunter liegenden Knochens. Aber nicht nur an den Fingern zeigen sich die negativen Folgen, auch die Zähne können unter dem Nägelkauen leiden. So können durch die Kraft des Nägelbeißens die Zahnwurzeln oder die Alveolaren (Zahnfach im Kieferknochen) Schaden nehmen. Ebenso kann es zu einer Malokklusion – also zu abnormalen Kontaktverhältnissen zwischen Unter- und Oberkiefer –, Kiefergelenkserkrankungen oder Zahnfleischverletzungen kommen. Bakterielle Infektionen im Bereich der Nägel können durch das Nägelbeißen auf den Mund übertragen werden, umgekehrt kann auch ein oraler Herpes zu einem herpetischen Nagelgeschwür führen [1, 6]. Nägelkauen ist außerdem einer der Hauptrisikofaktoren für Madenwurmbefall [7]. Neben den körperlichen Folgen kann Nägelkauen auch soziale Folgen haben. Nägelkauen gilt als unreifes Verhalten, und Personen, die an den Nägeln knabbern, gelten als nervös und unaufmerksam. Darüber hinaus werden Kinder, die an den Nägeln kauen, häufiger von ihren Freunden gemobbt [6].
Am Rande bemerkt
Bei allen negativen Auswirkungen des Nägelkauens, könnte es auch einen positiven Effekt geben. Einer Studie der Universität Otago zufolge haben Kinder, die Daumenlutschen und/oder Nägelkauen eine verminderte atopische Sensibilisierung. Dieser protektive Effekt ließ sich selbst im Erwachsenenalter noch nachweisen. Eine Erklärung für diese Beobachtung könnte die Hygienehypothese sein, nach der die Exposition mit Antigenen in den ersten Lebensjahren Allergien vorbeugen kann. Allerdings empfehlen die Studienautoren dennoch nicht, Kinder zum Nägelkauen zu ermutigen, da unklar ist, ob ein echter Nutzen für die Gesundheit besteht. So konnte, obwohl Daumenlutscher und Nagelbeißer bei Hauttests weniger Allergien hatten, kein Unterschied im Risiko für die Entwicklung allergischer Erkrankungen wie Asthma oder Heuschnupfen nachgewiesen werden [8].
Was tun gegen Nägelkauen?
Oft ist Nägelkauen bei Kindern eine zeitlich begrenzte, harmlose Angewohnheit, die von allein wieder abgelegt wird. Eltern sollten also zunächst Ruhe bewahren. Sinnvoll ist es, das Kind zu beobachten, um herauszufinden in welchen Situationen und wie oft es an den Nägeln kaut. Kauen die Kinder regelmäßig an den Nägeln, kann dies ein Hinweis auf psychische Belastungen sein, wie z. B. Notenstress, Mobbing in der Schule oder Konflikte in der Familie. In solchen Fällen hilft nur das Angehen des Grundproblems. Auf Dauer kann sonst aus der anfänglich harmlosen Beschäftigung eine ritualisierte Handlung werden. Tritt das Nägelkauen als dermatologische Kormorbidität bei einer Zwangsstörung auf, erfolgt die Behandlung durch psychotherapeutische Maßnahmen, die entsprechend auf den Patienten abgestimmt gewählt werden und Psychopharmaka, wie selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) [9].
Beißen Kinder ihre Nägel so weit ab, dass sie bluten, sollte ein Arzt aufgesucht werden. In harmloseren Fällen können Eltern jedoch selbst einiges tun. Auf keinen Fall sollte das Kind für das Nägelkauen bestraft werden. Denn durch diesen zusätzlichen Stress könnte sich die Problematik eher verstärken. Vielmehr sollten Eltern mit dem Kind gemeinsam überlegen, wie das Aufhören am besten erreicht werden kann. Dabei hilft es, kleine Erfolgsmomente lobend hervorzuheben. Am besten werden die Nägel kurz geschnitten und glatt gefeilt, auch das Eincremen von Händen und Nägeln kann sinnvoll sein. Durch diese Maßnahmen sinkt die Versuchung an den Nägeln zu kauen [10, 11]. Unterstützend können Bitterstoffe zur Abschreckung auf die Nägel aufgetragen werden. Rezeptfreie Präparate (z. B. Raylex® Lack, Stop ‘n Grow® Flüssigkeit, Ecrinal® bitterer Lack gegen Nägelkauen, Mavala Stop flüssig, Daum exol® Nagel Schutzlack) enthalten Bitterstoffe wie Sucrose/-saccharoseoctaacetat oder das extrem bitter schmeckende Denatonium, oder Inhaltsstoffe aus der Grapefruit, zum Teil ist zusätzlich eine scharfe Komponente wie Cayennepfeffer enthalten [12]. Um Rückfälle zu vermeiden, sollte die Behandlung nach dem ersten Erfolg noch etwa ein bis zwei Monate fortgeführt werden.
Nach dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ können die Nägel verdeckt werden, z. B. mit Pflaster, Tape oder Handschuhen. Dies erschwert zeitgleich auch den Zugang zu den Nägeln. Ist man sich des Nägelkauens bewusst, kann eine alternative Beschäftigung gesucht werden. Tritt das Bedürfnis ein, an den Nägeln zu kauen, wird stattdessen ein Anti-Stress-Ball geknautscht. Auch gibt es Ketten, die einen weichen Beißanhänger aus Silikon haben. Dieser kann nun statt der Nägel mit den Zähnen bearbeitet werden. Gerade bei Kindern, die sich gerne hübsch machen, kann ein bunter Nagellack helfen. Sind die Fingernägel lackiert, zögern die Kinder eher, diesen durch das Beißen zu zerstören. Erwachsene können zur Maniküre gehen. Wurde dafür Geld ausgegeben, kann dies die Hemmschwelle erhöhen, an den Nägel zu kauen. Schafft der Betroffene es nicht, das Nägelkauen von einem Tag auf den anderen abzustellen, kann eine schrittweise Reduzierung versucht werden. Dazu kann ein Finger bestimmt werden, an dem nicht gekaut werden darf, z. B. der Daumen. Ist dies erfolgreich, kommen nach und nach immer mehr Finger dazu [13]. |
Literatur
[1] Sachan A et al. Onychophagia (Nail biting), anxiety, and malocclusion, Indian J Dent Res 2012;23(5):680-682, doi: 10.4103/0970-9290.107399
[2] Ghanizadeh A, Shekoohi H. Prevalence of nail biting and its association with mental health in a community sample of children. BMC Res Notes 2011;4:116, https://doi.org/10.1186/1756-0500-4-116
[3] Pacan P et al. Onychophagia and onychotillomania: prevalence, clinical picture and comorbidities, Acta Derm Venereol 2014;94(1):67-71
[4] ICD-10-GM Version 2019. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2019/block-f90-f98.htm
[5] Pacan P et al. Onychophagia is Associated with Impairment of Quality of Life. Acta Derm Venereol 2014;94:703–706
[6] Singal A et al. Nail tic disorders: Manifestations, pathogenesis and management. Indian J Dermatol Venereol Leprol 2017;83:19-26
[7] Speer C et al. Pädiatrie. 5. Auflage, Springer-Verlag 2019
[8] Lynch S. Thumb-sucking and nail-biting children show fewer allergies in later life. Pressemeldung der University of Otago (Neuseeland), vom 11. Juli 2016, www.otago.ac.nz/news/news/otago617082.html
[9] Zwangsstörungen. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Stand: Mai 2013, AWMF-Registernummer 038/017
[10] Nägelkauen selten bedenklich: Informationen des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte vom 15. Juli 2009, www.kinderaerzte-im-netz.de/news-archiv/meldung/article/naegelkauen-selten-bedenklich/
[11] Kinder fürs Nägelkauen nicht bestrafen. Informationen des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte vom 13. Juni 2011, www.kinderaerzte-im-netz.de/news-archiv/meldung/article/kinder-fuers-naegelkauen-nicht-bestrafen/
[12] Lauer-Taxe®, Abruf 7. August 2021
[13] Nägelkauen: Sieben Tipps, die beim Aufhören helfen. Informationen der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V. vom 10. September 2015, www.aponet.de/artikel/naegelkauen-sieben-tipps-die-beim-aufhoeren-helfen-13000
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