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Arzneimittel und Therapie
Stein des Anstoßes
Gendefekt kann zur Bildung von Cystinsteinen führen
In der Europäischen Union gelten Erkrankungen als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Damit zählt auch die Cystinurie (auch Zystinurie), für die in der Literatur Prävalenzen zwischen 0,1 bis 5 pro 100.000 angegeben werden, dazu. Unter den erwachsenen Urolithiasis-Patienten haben nur ein bis zwei Prozent Cystinsteine, bei Kindern liegt der Anteil zwischen sechs und acht Prozent.
Genetische Ursachen
Die Cystinurie ist eine autosomal-rezessiv vererbte, renale Rückresorptionsstörung von Cystin sowie den dibasischen Aminosäuren Arginin, Lysin und Ornithin. Als Hauptursache gelten Mutationen in den Genen SLC3A1 und SLC7A9-auf Chromosom 2, die für Untereinheiten des Aminosäure-Transportkomplexes b[0,+]AT1-rBAT codieren. Dieser Komplex ist für die Rückresorption der genannten Aminosäuren im proximalen Tubulus sowie im Dünndarm verantwortlich. Während man seine Bedeutung schon sehr lange kennt, wurde die Struktur erst kürzlich von Wissenschaftlern der Abteilung für Molekulare Membranbiologie am Max-Planck-Institut für Biophysik in Frankfurt/Mail mithilfe der Elektronenmikroskopie aufgeklärt.
Durch die verminderte Rückresorption von Cystin, Arginin, Lysin und Ornithin liegen deren Urinkonzentrationen weit über den Normalwerten, bei Cystin bis zu 20- bis 30-mal höher als bei Gesunden. Der Gendefekt ist jedoch nur für Cystin klinisch relevant, da sie als einzige der vier Aminosäuren im physiologischen pH-Bereich des Urins (5,0 bis 7,5) sehr schwer löslich ist. Bereits ab einer Konzentration von 300 mg/l kommt es zur Ausfällung und zur Bildung von Cystin-Kristallen. Bei pH-Werten ab 7,5 nimmt die Löslichkeit von Cystin wieder deutlich zu.
Symptome ähneln anderen Steinleiden
Etwa jeder zweite Cystinurie-Patient bildet im Laufe des Lebens Harnsteine. Beim überwiegenden Teil der Betroffenen hat sich die Erkrankung bereits bis zum 20. Lebensjahr manifestiert. Am häufigsten werden reine Cystinsteine gebildet, es kommen aber auch gemischte Steine mit Anteilen von Calcium-Salzen wie Calciumoxalat oder -phosphat vor. Die Steine verursachen typische Symptome wie Schmerzen im Rücken, in den Flanken und Leisten, oft kombiniert mit Übelkeit und Erbrechen, Koliken und Blut im Urin. Als Komplikationen kann es zu Nieren- und Harnwegsinfektionen, Harnstau durch Verlegung der Harnwege, zur Abnahme der Nierenleistung bis hin zu Sepsis und Nierenversagen kommen [2, 4].
Späte Symptome erschweren die Diagnostik
Erschwerend für die Diagnostik ist, dass die Cystinurie erst dann Symptome verursacht, wenn sich Kristalle oder ein Stein gebildet haben. Vor allem bei kleinen Kindern sind die Beschwerden dann sehr unspezifisch. Es kann zu Gereiztheit, unspezifischen Bauchschmerzen in der Nabelgegend, Erbrechen, Mikrohämaturie und Harnwegsinfektionen kommen. Mittel der ersten Wahl ist bei Kindern der Ultraschall der Nieren und ableitenden Harnwege. Auch bei Erwachsenen ist die Sonografie Teil der Untersuchungen beim Urologen, wobei zur Sicherung der Diagnose neben der Bildgebung zahlreiche weitere Verfahren angewendet werden. Dazu zählen vor allem die (Familien)-Anamnese, Laboruntersuchungen von Blut und Urin inklusive 24-Stunden-Sammelurin sowie mikroskopische Untersuchungen des Harnsediments, um Cystin-Kristalle zu identifizieren. Absolute Klarheit bringt eine molekulargenetische Untersuchung. Als qualitative Nachweismethode für Cystin kann der Zyanid-Nitroprussid-Test eingesetzt werden. Er beruht auf der Reduktion von Cystin zu Cystein und dessen Bindung an Nitroprussid, was bei Cystin-Konzentrationen über 75 mg/l innerhalb weniger Minuten zur einer Rotfärbung der Lösung führt [2].
Cystinurie bei Hunden
Eine Cystinurie kann auch bei Tieren auftreten. Bekannt ist die Erkrankung bisher bei Hunden und Katzen. Bei manchen Hunderassen wie Irish Terrier, Kromfohrländer, Mastiff oder Neufundländer scheint die Cystinurie häufiger vorzukommen, jedoch nur bei Rüden. Die Steinbildung kann lebensbedrohliche Zustände verursachen. In Zusammenarbeit mit der School of Veterinary Medicine der Universität Pennsylvania (USA) wird am Institut für Genetik der Universität Bern (Schweiz) die Erkrankung näher erforscht. Ziel ist es, einen Gentest zu entwickeln, mit dem Tiere identifiziert werden können, bevor sie Steine bilden. Außerdem sollen klinisch unauffällige Anlageträger erkannt werden, die den Gendefekt weiterverbreiten können. Für das laufende Projekt zur Erforschung der Cystinurie beim Irish Terrier und beim Kromfohrländer bittet das Institut um die Einsendung von Blutproben. Nähere Informationen dazu finden Sie, indem Sie den Webcode C4HV8 in die Suchfunktion auf DAZ.online eingeben.
Hauptziel der Behandlung
Eine kausale Behandlung, das heißt die Beseitigung des Gendefekts, ist derzeit noch nicht möglich. Die extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL), eine verbreitete Methode bei Harnsteinen, ist weniger gut geeignet, da Cystinsteine härter sind als andere. Operative Verfahren werden beispielsweise dann angewendet, wenn ein Stein die ableitenden Harnwege verschließt und es zum lebensbedrohlichen Harnstau kommt.
Das Hauptaugenmerk der Cystinurie-Behandlung ist auf die Verhinderung der Steinbildung gerichtet. Die wichtigste Säule der konservativen Behandlung bildet daher eine hohe Flüssigkeitszufuhr, sodass möglichst Urinmengen von mindestens drei Litern produziert werden (s. Abb.). Angestrebt werden Cystin-Konzentrationen im Urin unter 250 mg/l. Dabei ist wichtig, die Trinkmenge (2,5 bis 3 l/Tag) möglichst gleichmäßig über 24 Stunden zu verteilen. Dies hat zur Folge, dass sich Patienten nachts zum Trinken wecken lassen müssen. Wenn bei Kindern, besonders Kleinkindern, die hohe Flüssigkeitszufuhr nicht gewährleistet werden kann, empfiehlt die aktuelle Urolithiasis-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Urologie eine perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) in Betracht zu ziehen.
Alle Cystinurie-Patienten sollen außerdem eine Alkalisierungstherapie erhalten (z. B. mit Kaliumcitrat, Natriumbikarbonat). Die Dosis richtet sich nach dem Urin-pH-Wert, er muss zu Therapiebeginn mehrmals täglich gemessen werden. Angestrebt werden pH-Werte über 7,5, die jedoch auch die Gefahr der Ausfällung von Calciumphosphatsteinen bergen.
Medikamentöse Therapie
Wenn diese konservativen Methoden nicht anschlagen oder eine sehr hohe Cystinausscheidung vorliegt, kann Tiopronin ((RS)-N-(2-Mercaptopropionyl)glycin, z. B. Thiola®) eingesetzt werden. Der Chelatbildner spaltet durch Reduktion die Disulfidbrücke im Zystin, es entstehen Cystein und ein gut löslicher Zystein-Chelatkomplex. Die Tabletten werden über den Tag verteilt (z. B. morgens, mittags oder abends) eingenommen. Die Initialdosis für Tiopronin liegt bei zweimal täglich 250 mg, sie kann bei Erwachsenen bis auf maximal 2 Gramm pro Tag gesteigert werden. Empfehlenswert ist eine Anwendung eine halbe Stunde vor einer Mahlzeit unzerkaut mit reichlich Flüssigkeit (z. B. einem Glas Trinkwasser). Während der Behandlung darf kein Alkohol konsumiert werden. Unter Tiopronin kann es zu einer Tachyphylaxie kommen, sodass ggf. die Dosis im Laufe der Behandlung gesteigert werden muss.
Rezidivprophylaxe
Wie bei anderen Harnsteinen auch gelten für die Vorbeugung der Bildung von Cystinsteinen allgemeine Maßnahmen. Neben einer hohen Flüssigkeitszufuhr (2,5 bis 3 l/Tag) sollte die Ernährung ausgewogen und ballaststoffreich sein, bestimmte Grenzen für Kalzium (1 bis 1,2 g/Tag) und Kochsalz (< 6 g/Tag ) sind empfohlen. Die Zufuhr von Proteinen sollte moderat sein (0,8 bis 1,0 g pro kg Körpergewicht/Tag). Wichtig für die Rezidivprophylaxe sind außerdem körperliche Aktivität, Gewichtsnormalisierung und Stressreduktion. Es wird empfohlen, Urolithiasis-Patienten, unabhängig von der Steinart, aktiv zu überwachen, das heißt einmal pro Jahr klinisch und mittels Bildgebung zu untersuchen. |
Literatur
Cystinurie. www.desitin.de, letzter Abruf am 16. August 2021
Fachinformation Thiola® 100 mg/250 mg überzogene Tabletten, Stand: Februar 2021
Leslie SW, Sajjad H, Nazzal L. Cystinuria., StatPearls Publishing LLC, Update 15. Juni 2021, www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK470527/?report=classic
Seltene Erkrankungen. Informationen des Bundesministeriums für Gesundheit, www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/seltene-erkrankungen.html
S2k-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis, Hrsg.: Arbeitskreis Harnsteine der Akademie der Deutschen Urologen und Deutsche Gesellschaft für Urologie e. V., Stand 2019, AWMF-Registernr. 043-025
Wu D et al. Structural basis for amino acid exchange by a human heteromeric amino acid transporter. PNAS 2020,117(35) 21281–21287
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