Aus den Ländern

Die Hölle in der Paradies-Apotheke

Apothekerin aus Altenahr kämpft gegen die Folgen der Hochwasserkatastrophe

ALTENAHR (eda) | Es war nicht viel los, und rückblickend war der 14. Juli 2021 sogar ein Tag mit trügerischer Ruhe im rheinland-pfälzischen Altenahr. Über Gabriele Wierzgalla und ihre traditionsreiche Paradies-Apotheke brachen jedoch in den Abendstunden desselben Tages die Wassermassen herein und veränderten das Leben von jetzt auf gleich. Die Offizin, das Labor und die Lagerräume wurden vollständig verwüstet. Wie es weitergeht, bleibt offen. Doch die Apothekerin hat Pläne, wie sie gegenüber der DAZ berichtet.

Für den Nachmittag des 14. Juli 2021 hat Gabriele Wierzgalla eine Vertretung organisiert. Die Apothekenin­haberin aus Altenahr im nördlichen Rheinland-Pfalz nimmt an einer vir­tuellen Fortbildung der Apothekerkammer zu Grippeimpfungen teil. Es ist nicht viel los an jenem Mittwoch, auch weil es ununterbrochen regnet. Im Backoffice beschäftigt sich Wierzgalla mit ihrem Seminar, während ihre Mitarbeiterinnen die Stellung in der traditionsreichen Paradies-Apotheke halten.

Doch die Vorboten des tragischen Ereignisses erreichen das Apothekenteam in Form von Fotos und Videos auf den Smartphones. Die Vertretungsapothekerin beginnt nervös zu werden: Schafft sie es mit dem Auto noch rechtzeitig nach Hause? Als plötzlich die Botin ihre Tour abbricht und in die Apotheke zurückkommt, kippt die Stimmung. Sie erzählt von überfluteten Grundstücken und Straßen. Auch die anderen Angestellten machen sich nun zunehmend Sorgen. Wierzgalla bleibt dagegen zunächst gelassen und schickt ihr Team eine Stunde vor Ladenschluss in den Feierabend. Nach der Kammerfortbildung begibt sie sich in ihre Wohnung direkt über der Apotheke zum Abendessen, um anschließend wieder zurück in der Offizin den Tagesabschluss an der Kasse zu machen.

Foto: privat

Die Paradies-Apotheke vor der Katastrophe...

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...und im Juli 2021, wenige Tage nach dem Hochwasser.

Plötzlich ist der Strom weg

Als sie das Bargeld zählen will, geht plötzlich das Licht aus. Es gibt keinen Strom mehr – weder in der Apotheke noch in der Straße. Unter einer Lichtkuppel zählt sie dann die restlichen Münzen und schließt die Tageseinnahmen im Tresor ein. Draußen hört sie die Mülltonnen klappern. Die Straße unmittelbar vor ihrer Offizin läuft allmählich voll mit Wasser. Die drohende Katastrophe nehmen zu diesem Zeitpunkt aber nur wenige Anwohner wirklich ernst. Es ist sogar eher eine lockere Atmosphäre auf der Straße. ­Eltern beobachten zusammen mit ihren Kindern, wie sich die Welt um sie herum verändert.

„Ich habe die ganze Zeit gedacht, das zieht an uns vorüber“, erklärt Gabriele Wierzgalla. Doch die Unwetterkatastrophe ist bereits in vollem Gange. Das Wasser in der Straße steigt. In die Paradies-Apotheken führen zwei Stufen. Für Wierzgalla bilden die beiden Stufen an diesem Tag den Pegelstand ab. Als die Offizin einen halben Meter unter Wasser steht und Autos am Schaufenster vorbeischwimmen, wird auch ihr die Gefahr immer präsenter.

Das Apothekenmobiliar beginnt sich nach einer Weile ebenfalls selbstständig zu machen. Wierzgalla bezeichnet es rückblickend als „tanzen“. Draußen auf der Straße werden die diversen Gegenstände, die das Wasser fortträgt, immer größer: Mülltonnen, Bäume, Wohnwagen.

In ihrer Wohnung im ersten Stock hält die Apothekerin Ausschau nach ihren beiden Katzen. Eine findet sie sofort, die andere bleibt bis heute verschwunden. Damit ihr die eine Katze nicht auch noch verloren geht, setzt sie das Haustier zwischenzeitlich sogar in die Waschmaschine im zweiten Stock, schließt die Tür und sucht weiter. „Das war mir sehr wichtig. Aber heute weiß ich, dass durch diese Aktion sehr viel Zeit verloren ging“, resümiert Wierzgalla.

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Die Apothekenräumlichkeiten sind völlig verwüstet. Feuerwehr und THW schafften es erst am Folgetag zu Gabriele Wierzgalla vorzudringen.

Zuflucht auf dem Dachboden

Ein lauter Knall draußen vor dem Balkonfenster erschreckt sie. Die Lichtkuppel der Apotheke ist explodiert und Wassermassen schießen wie ein Geysir in den Abendhimmel. Damit wird der Inhaberin bewusst, dass ihre Apotheke komplett unter Wasser steht. „Da wusste ich nicht mehr, was ich überhaupt noch versuchen soll zu retten, außer mich und meine Katze.“ Das Haustier greift sie aus der Waschmaschine, schnappt sich eine Decke und kämpft sich vor bis zur Leiter auf den Dachboden. Das Wasser steht ihr bereits bis zur Taille. Ölgeruch macht sich breit im Haus.

Als sie den Dachboden erreicht, versucht sie zunächst mit ihrer Mutter zu telefonieren. Als sie ihr berichtet, dass sie gerade versucht ihr eigenes Leben zu retten, beendet die Mutter das Gespräch, weil sie weitere Details nicht ertragen kann. Als Nächstes wählt sie den Notruf und meldet der Feuerwehrleitstelle, man müsse sie und ihre Katze mit einem Hubschrauber retten.

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Die Hilfsbereitschaft ist groß: Sowohl freiwillige Helfer aus Bürgerinitiativen bieten sich an, und auch die Bundeswehr ist mit mehreren Soldaten im Einsatz.

Doch die Hilfe lässt auf sich warten. Um ein Uhr nachts hat es längst aufgehört zu regnen. Gabriele Wierzgalla streckt ihren Kopf aus dem Dachfenster und erblickt viele weitere verängstigte Gesichter von Menschen, die in jener sternenklaren Nacht ebenfalls Ausschau nach Überlebenden und Helfern halten. Man kommuniziert miteinander. Viele stellen fest, dass der Pegel stagniert und in den Folgestunden sogar anfängt zu sinken.

Die Apothekerin findet im Dachzimmer ihres Hauses einige Stunden Schlaf. Um sechs Uhr morgens am nächsten Tag wacht sie auf und sondiert vom Fenster aus die Lage: Das Wasser um ihr Haus herum bildet einen ruhigen See, überall liegen Tonnen an Schlamm, Schutt und Trümmern. Möbel, Autos, Bäume sind verstreut über die Straße und Grundstücke. Sie geht in den ersten Stock zurück. Der Kühlschrank versperrt den Weg in ihre Wohnung, die voller Schlick ist. Im Pyjama beginnt sie aufzuräumen und versucht, die Schlammmassen wegzukehren – vor allem auch, weil sie wissen möchten, wo sich die zweite Katze befindet. Sie ist alleine und die Zeit vergeht wie im Flug. „Ich habe von sechs Uhr bis sechs Uhr praktisch ohne Pause versucht, mein Hab und Gut zu retten“, berichtet sie.

Und wahrscheinlich hätte sie das auch noch länger getan, wenn nicht abends die ersten Einsatzkräfte von Feuerwehr und THW zu ihr vorgedrungen wären. Die Helfer evakuieren sie aus dem Haus. Man befürchtet Ein­sturz­gefahr. Wierzgalla würde am liebsten bleiben, sie will in der Wohnung und Apotheke retten, was zu retten ist. Doch sie muss Altenahr verlassen und wird zusammen mit ihrer Katze für einen Tag in eine Aufnahmestation gebracht. Dort kann sie duschen, sich umziehen und von den Strapazen der Katastrophennacht erholen.

Auf Hoffnung folgen Rückschläge

Als sie zurückkehren darf, ist ihre Apotheke zum Betreten freigegeben. Freunde, Mitarbeiter und zahlreiche Menschen aus Nah und Fern bieten der Apothekerin ihre Hilfe an. Die Bürgerinitiative findet sie großartig. Eine ehemalige Kommilitonin kümmert sich um die Abrechnung der Rezepte. Fast 40 Bundeswehrsoldaten räumen die Offizin und weitere Räume der Apotheke aus. Retten kann Wierzgalla vor allem ein gerahmtes Bild, das die Historie ihrer Apotheke darstellt, darüber hinaus vier Aktenordner und einige wenige alte Standgefäße aus der Gründungszeit der Apotheke um 1903. „Diese Momente waren schlimmer als die Hochwasserkatastrophe selbst“, sagt sie. Die Apothekerin hängt sehr an der Apotheke und ihre Geschichte. Bei einer 88-jährigen Kundin findet sie eine vorübergehende Bleibe. Die Dame wäscht jeden Tag für sie und versorgt sie mit Essen.

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Laborgegenstände und Apothekenutensilien aus alten und neuen Tagen sind nicht mehr zu gebrauchen.

Der Tresor mit den Betäubungsmitteln wird polizeilich gesichert. Nach einer Woche darf sie ihn unter Aufsicht der Beamten öffnen. Darin befinden sich neben den Arzneimitteln auch die Tageseinnahmen des 14. Juli, ein Ordner mit Passwörtern, die letzte Daten­sicherung sowie Schlick.

Die zweite Apotheke in Altenahr schafft es, in der Zwischenzeit Container zu besorgen und ihren Betrieb darin wieder aufzunehmen. Mit jedem Tag, an dem die Container-Apotheke arbeitet, hat Wierzgalla das Gefühl, dass das Interesse für ihre Paradies-Apotheke vor Ort schwindet. Die Behörden weisen die Apothekeninhaberin an, ihre verschreibungspflichtigen Arzneimittel in Plastiksäcke zu füllen. Doch abholen tut sie keiner. Zwei bis drei weitere Tage vergehen. Auch aus dem Labor sollen die Chemikalien entsorgt werden. Doch niemand fühlt sich zunächst verantwortlich. Eine Müllabfuhr existiert nicht. Mobil ist Gabriele Wierzgalla nicht, weil ihre Privat- und Botendienstfahrzeuge zerstört sind.

Verschiedene Organisationen und Privatpersonen bieten immer wieder Hilfe an. Doch auf die Hoffnung folgen auch meist Rückschläge. Ihre Mit­arbeiterinnen sind größtenteils selbst betroffen und müssen auch im privaten Umfeld die Schäden beseitigen. Zum Teil verletzten sich die Angestellten sogar bei den Aufräumarbeiten und fallen aus. Auch Wierzgalla verletzt sich an der Hand. Die Wunde infiziert sich und schwillt an. Sie lässt sich gegen Tetanus impfen. In Altenahr spricht man von Infektions- und Seuchengefahr. Die Flut hat auch den örtlichen Friedhof durchspült. Ein Geruch von Verwesung und Kloake hängt in den Straßen.

Apothekerin Wierzgalla will nicht aufgeben. Sie spielt mit dem Gedanken, ebenfalls eine Container-Apotheke zu betreiben, obwohl sie weiß, dass viele Menschen echte Räumlichkeiten bevorzugt aufsuchen möchten. Kunden machen ihr Mut und bitten sie, bald wiederzueröffnen. Die Situation vor Ort bleibt ungeklärt: Von drei Hausärzten arbeiten zwei in provisorischen Unterkünften, ein Arzt in seinen Praxisräumlichkeiten. Auch die Zahn­ärztin hat sich entschlossen, ihren Betrieb wieder aufzunehmen. Der Orthopäde will sich derweil nicht festlegen.

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Auf knapp 120 Jahre Apothekengeschichte blickt Gabriele Wierzgalla mit ihrer Paradies-Apotheke.

Gabriele Wierzgalla ist stolz, die eingerahmte Geschichte der Paradies-Apotheke gerettet zu haben. Am liebsten würde sie in denselben Räumlichkeiten einen Neuanfang wagen und die Tradition fortsetzen. Aktuell schätzt sie ihre Schäden auf eine Summe in Höhe von rund 800.000 Euro. Mit 21 Jahren kam sie aus Polen nach Deutschland und studierte Pharmazie in Bonn. Als sie 1990 fertig wird, beginnt sie für mehr als zehn Jahre in verschiedenen Apotheken in Rheinbach und Köln zu arbeiten, bis sie 2002 durch eine Zeitungsanzeige erfährt, dass ihr Vorgänger die Paradies-Apotheke abgeben möchte.

Heute, 20 Jahre später, würde die 61-Jährige gerne selbst die Apotheke weitergeben, sodass die Geschichte hinter dem Glas im Bilderrahmen fortgeschrieben werden kann. |

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