Arzneimittel und Therapie

Statistisch signifikante HbA1c-Senkung

Was eine Diabetes-Präventionsbetreuung aus der Apotheke leisten kann

„Vorbeugen statt zurücklehnen – ­gemeinsam aktiv in die Zukunft!“ Dieses Motto haben sich die Forschungsgruppe um Prof. Dr. Kristina Friedland zusammen mit dem Wissenschaftlichen Institut für Prävention im Gesundheitswesen der Bayerischen Landesapothekerkammer (WIPIG) zu Herzen genommen. In der Studie GLICEMIA 2.0 konnten sie den Nutzen einer Sekundär- und Tertiärprävention bei Typ-2-Diabetes durch öffentliche Apotheken zeigen.

Diabetes mellitus Typ 2 ist ein weltweites Gesundheitsproblem. In Deutschland leiden derzeit mehr als acht Millionen Menschen an dieser Lebensstil-assoziierten Erkrankung [1]. Durch die Coronapandemie verschärft sich die Lage weiter, und es wird erwartet, dass 2045 die Zahl an Erkrankten in Europa bei 68 Millionen liegt. Typ-2-Diabetes ist mit hohen volkswirtschaftlichen und medizinischen Kosten verbunden. Besonders medikamentös schlecht eingestellte Patienten mit hohen Blutglucose-Werten erleiden Komplikationen und Begleiterkrankungen wie Mikro- und Makro-Angiopathien (Neuropathien, Nephropathien bis hin zum Herzinfarkt oder Schlaganfall) und haben eine signifikant reduzierte Lebens­erwartung [2 – 4].

Foto: DAZ/A. Schelbert

Apothekerinnen und Apotheker sind für jedermann schnell und unmittelbar ansprechbar – und können einen wertvollen Beitrag zur Prävention und Gesundheitsförderung leisten.

Präventionsbetreuung wissenschaftlich untersucht

Bereits 2012 wurde das Präventionsprogramm GLICEMIA vom WIPIG entwickelt [5]. Im Rahmen dieser Studie wurde in 40 Apotheken in ganz Bayern analysiert, inwiefern eine einjährige Präventionsbetreuung von Menschen mit einem hohen Diabetes-Risiko in der öffentlichen Apotheke zur Reduktion des Risikos für Typ-2-­Diabetes beitragen kann. Auf der GLICEMIA-Studie basiert die neue Studie GLICEMIA 2.0, bei der schon an Diabetes erkrankte Patienten sekundär- und tertiärpräventiv durch Apotheken begleitet werden. In 26 öffentlichen Apotheken in Bayern wurde das Projekt durchgeführt, zur Sekundär- und Tertiärprävention für Typ-2-Diabetiker standen neben einer Lebensstiländerung mit Erhöhung der körperlichen Aktivität, gesunder Ernährung und einer damit verbundenen Gewichtsreduktion, das Medikationsmanagement im Fokus. Spezielle Schulungs- und Informationsmaterialien wurden entworfen, welche unter anderem auf den Nationalen Versorgungsleitlinien zur Therapie des Typ-2-Diabetes beruhten [6]. Die Studienapotheken wurden mittels Cluster-Randomisierung der Kontroll- oder Interventionsgruppe zugeteilt. Nach persönlichen Schulungen der Apothekenmitarbeiter zu GLICEMIA 2.0 schloss sich die Rekrutierungsphase der Studienteilnehmer an.

Mehr körperliche Bewegung

Der Studienzeitraum pro Teilnehmer betrug in etwa ein Jahr. Als Einschlusskriterien für Patienten galt die Diagnose Diabetes mellitus Typ 2 und ein HbA1c-Wert, der mindestens 7% betrug. Zudem mussten die Probanden unter anderem einen Body-Mass-Index von über 25 kg/m2 und eine Dauermedikation mit mindestens drei Arzneistoffen für chronische Erkrankungen aufweisen. Die Betreuung erfolgte in Form von drei persönlichen Gesprächen sowie sechs Gruppenschulungen. Ziel war es, die Patienten insbesondere zu einer Lebensstiländerung mit verstärkter körperlicher Aktivität und Gewichtsreduktion zu beraten. Das Konzept wurde durch eine Überprüfung der Medikation auf Arzneimittel-bezogene Probleme ergänzt. Die Gruppenschulungen vervollständigten die persönlichen Gespräche und thematisierten Inhalte wie Prävention, Be­wegung, Ernährung, Medikation und Verhaltensänderung. Zur Unterstützung der Motivation und Selbstkontrolle erhielten die Teilnehmer einen Schrittzähler. Jeweils der erste und der fünfte Vortrag war mit einem 30-minütigen Spaziergang kombiniert. Dieses Element wurde vom DiSko-Schulungsmodul übernommen, das von der Deutschen Diabetes Gesellschaft e. V. für Typ-2-Diabetiker zur Bewegungssteigerung entworfen worden war und den Einfluss von Bewegung auf den eigenen Blutglucose-Wert demonstriert [7]. Es stellte ein wichtiges Motivationstool der Studie dar. Monatliche Telefongespräche garantierten eine enge Betreuung der Patienten in der Interventionsgruppe. Schriftliches Material stand zum Nachlesen für die Teilnehmer zur Verfügung. Die Kontrollgruppe konnte jederzeit die übliche Beratung in Apotheke und Arztpraxis wahrnehmen. Zusätzlich erhielten die Patienten dieser Gruppe eine Medikationsliste und schriftliches Informationsmaterial.

HbA1c-Wert im Fokus

Die Datenerhebung während des Studienzeitraums fand zu Studienbeginn, nach sechs und nach zwölf Monaten statt. Diese enthielt Messungen des HbA1c-Wertes und des Nüchternblut­glucose-Wertes, des Körpergewichts und des Blutdrucks. Die Lebensqualität, Adhärenz und körperliche Aktivität wurden mithilfe von Fragebögen ermittelt. Insgesamt konnten 198 Studienteilnehmer rekrutiert werden. 36 Patienten verließen die Studie vorzeitig (Drop-out-Rate 18,2%). Etwa die Hälfte aller Teilnehmer war seit über zehn Jahren erkrankt und hatte bereits ein Betreuungsprogramm in der Vergangenheit besucht. Zur Auswertung der Endpunkte wurden jeweils die Unterschiede im Effekt von Erst- zu Abschlusserhebung zwischen Kontroll- und Interventionsgruppe verglichen. Als primärer Endpunkt wurde der HbA1c-Wert analysiert. Als sekundäre Endpunkte waren Unterschiede im Nüchternblutglucose-Wert, Blutdruck, Gewicht, körperlicher Aktivität, Adhärenz und Lebensqualität definiert.

Während bei den Teilnehmern in der Interventionsgruppe der HbA1c-Wert im Median von 8,00% auf 7,30% sank, fand bei den Patienten der Kontrollgruppe lediglich eine Reduktion des HbA1c-Wertes von 0,3% statt. Dieser Effekt war statistisch nicht signifikant. Im Gegensatz hierzu ist der Effekt in der Interventionsgruppe statistisch und klinisch hoch relevant. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass die Reduktion von HbA1c-Werten mit einer Risikosenkung für mikrovaskuläre Komplikationen und der Diabetes-bezogenen Mortalität zusammenhängt. Die United Kingdom Prospective Diabetes Study aus dem Jahr 2000 konnte beispielsweise zeigen, dass eine 1%ige Reduktion des HbA1c-Wertes mit einer Risikosenkung um 37% für mikrovaskuläre Komplikationen und um 21% für die Diabetes-bezogene Mortalität assoziiert ist [8]. Bei den sekundären Endpunkten war vor allem die Analyse der Änderung des Körpergewichtes interessant. Es konnte gezeigt werden, dass es statistisch signifikant mehr Patienten (26%) in der Interventionsgruppe gelang, ihr Körpergewicht um 5% zu reduzieren, als in der Kontrollgruppe (9%). Die Ergebnisse wurden vor Kurzem in dem von der American Diabetes Association herausgegebenen Fachjournal „Diabetes Care“ veröffentlicht [9]. Die Studienmaterialien sind auf der WIPIG-Homepage für die Mitglieder online gestellt, damit wurde die Rubrik „Diabetes mellitus“ mit allen Materialien aus der GLICEMIA 2.0-Studie ergänzt [10].

Und wie alltagstauglich ist das Konzept?

Um die Praktikabilität der Studie in der täglichen Apothekenpraxis zu untersuchen, wurde auch die Zufriedenheit der Studienapotheken und -teilnehmer evaluiert. Die Apothekerinnen und Apotheker bewerteten das Studienkonzept und die Materialien vorwiegend mit „gut“ bis „sehr gut“. 82,4% der Interventionsteilnehmer empfanden ihren persönlichen Nutzen als hoch bis sehr hoch. Eine pharmakoökonomische Auswertung untermauerte den Erfolg des Konzeptes und liefert wichtige Argumente für politische Diskussionen und eine mögliche flächendeckende Implementierung. Deren Ergebnisse sind derzeit zur Publikation eingereicht und können später genauer betrachtet werden.

Blick in die Zukunft

Das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG) hat einen Paradigmenwechsel für die Pharmazie eingeläutet. Derzeit verhandeln der Deutsche Apothekerverband (DAV) und der GKV-Spitzenverband die ab kommendem Jahr zu vergütenden „Pharmazeutischen Dienstleistungen“ – die Prävention ist mit dabei! Und auch wenn es ambitionierte Programme wie die „Herzensangelegenheit 50+“, ein WIPIG-Projekt, bei dem die Präventionsleistung der öffentlichen Apotheke auf das Ausmaß kardiovaskulärer ­Risikofaktoren bei 50- bis 70-Jährigen untersucht wurde, GLICEMIA und GLICEMIA 2.0 in der Anfangszeit nicht gleich in den Katalog der zu vergütenden Leistungen schaffen, so konnte doch mit ihnen wissenschaftlich bewiesen werden, was präventive Betreuung durch Apotheker zu leisten vermag. Und wer weiß, vielleicht bilden diese Programm die Grundlage für die nächsten und übernächsten Verhandlungsrunden, mit denen nach einem erfolgreichen Einstieg in 2022 über mögliche Erweiterungen verhandelt werden wird? |

Danksagung

Die Autoren danken den Kooperations­partnern und Förderern der Studie:

– Dr. August und Dr. Anni Lesmüller-Stiftung
– Förderinitiative Prävention e. V.
– Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker e. V.
– Pharmabrain GmbH
– Abbott Rapid Diagnostics Germany GmbH
– Dr. W.-R. Klare, Diabeteszentrum Hegau-Bodensee
– Prof. Dr. J. Zerth, Wilhelm Löhe Hoch­schule, Fürth
– Deutsche Diabetes-Stiftung
 

Literatur

 [1] Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2021. Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe, www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de > Gesundheitspolitik > Veröffentlichungen: 9

 [2] Jones PM, Persaud SJ. Islet Function and Insulin Secretion. in: Textbook of Diabetes John Wiley & Sons 2017:87-102

 [3] The PCNE classification V8.03, 2003 – 2019, Pharmaceutical Care Network Europe (PCNE), www.pcne.org/working-groups/2/drug-related-problem-classification

 [4] Mutschler E et al. Inselorgan des Pankreas. in Mutschler Arzneimittelwirkungen. 2013, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH: 374-393

 [5] Schmiedel K. Prävention von Typ-2-Diabetes: wissenschaftliche Evaluation von neuen Wegen in der öffentlichen Apotheke (Doktorarbeit, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) 2015

 [6] Nationale VersorgungsLeitlinie, Therapie des Typ-2-Diabetes – Langfassung, 1. Auflage. Version 4. 2013 (zuletzt geändert 2014), Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), www.dm-therapie.versorgungsleitlinien.de

 [7] Siegrist M et al. Einmalige Übungsstunde verändert das Aktivitätsverhalten bei Typ-2-Diabetikern. Diabetes, Stoffwechsel und Herz 2007;16(4):257-261

 [8] Stratton IM et al. Association of glycaemia with macrovascular and microvascular complications of type 2 diabetes (UKPDS 35): prospective observational study. BMJ 2000;321(7258):405-412

 [9] Prax K, Schmiedel K, Hepp T, Schlager H, Friedland K. Preventive Care in Type 2 Diabetes: Results of a Randomized, Controlled Trial in Community Pharmacies. Diabetes Care 21. Juni 2021; doi.org/10.2337/dc20-2319

[10] Diabetes mellitus. Informationen des Wissenschaftlichen Instituts für Prävention im Gesundheitswesen der Bayerischen Landesapothekerkammer (WIPIG), www.wipig.de/materialien/projekte-downloads/item/diabetes-mellitus-2
 

Apothekerin Katja Prax, Dr. Helmut Schlager, 
Wissenschaftliches Institut für Prävention im Gesundheitswesen 
der Bayerischen Landesapothekerkammer (WIPIG), 
Prof. Dr. Kristina Friedland, 
Institut für Pharmazeutische und Biomedizinische Wissenschaften 
der Uni Mainz (ehemals an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

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