Arzneimittel und Therapie

Mit dem Tablet gegen die Angst

Leitlinie empfiehlt Internet-Interventionen zur Behandlung von Angststörungen

Angststörungen und Panikattacken lösen unbegründete und übertrieben starke Angst bei Betroffenen aus. Ohne eine Therapie kann die Lebensqualität stark eingeschränkt bleiben. Was aber, wenn bei einem Therapeuten erst in einigen Monaten ein Termin frei ist? Könnten überbrückende Interventionen aus dem Internet eine Lösung für Betroffene darstellen?

Die neue Fassung der S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen mit Stand vom April 2021 empfiehlt, „zur Überbrückung bis zum Therapiebeginn“ eine KVT-basierte (kognitive Verhaltenstherapie) Internet-Intervention einzusetzen. Neben Angst- und Panikstörungen im Allgemeinen kommen auch Agoraphobie und soziale Phobien als Indikationen infrage [1]. Eine KVT-basierte Internet-Intervention ist eine Kombination aus Computerprogrammen und -aufgaben. Der Kontakt zu einem Therapeuten beschränkt sich auf ein Minimum und findet beispielsweise per Mail, Videotelefonat oder SMS statt. Doch wie sieht eine KVT-basierte Internet-Intervention im Detail aus?

Wöchentliche Symptomerfassung

Ziel der kognitiven Verhaltenstherapie ist es, Probleme zu identifizieren und Alternativen für schädliche Denkmuster und Verhaltensweisen zu entwickeln. Eine Internet-basierte Therapie kann dabei als Anleitung zur Selbsthilfe dienen. Das in England von dem Psychiater Prof. Isaac Marks entwickelte Programm „FearFighter“ ist ein Beispiel für eine Internet-Intervention, die auf kognitiver Verhaltenstherapie basiert, und ähnelt in seinem stufenweisen Aufbau anderen Therapieprogrammen. Es dient der Selbsthilfe bei Panikstörungen und Phobien. „FearFighter“ wurde bereits in mehreren klinischen Studien eingesetzt. Das Programm besteht aus neun Schritten, die wöchentlich absolviert werden können. Jede Woche werden die Symptome des Patienten mittels eines Fragebogens erfasst. Über die Entwicklung der Symptome erhalten der Patient und ein betreuender Arzt ein Feedback. Wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind, die einen Verdacht auf Suizidalität nahelegen, erhält der Arzt außerdem eine Alarmnachricht. Die betroffene Person wird dann kontaktiert und im Zweifelsfall auf einer Akutstation aufgenommen.

Foto: Monika Wisniewska/AdobeStock

Auch Virtual Reality wird inzwischen zur Bekämpfung der Spinnenangst erprobt.

Videos und Geräusche sollen auf Exposition vorbereiten

Ein wesentlicher Bestandteil von „FearFighter“ ist psychologische Bildung. In Videos erklärt ein Therapeut die Hintergründe der Erkrankungen und der Therapien. Außerdem wird der Patient durch Bilder, Geräusche und Videos auf Expositionsübungen vorbereitet. Nach jeder Einheit erhält der Patient eine Hausaufgabe, für deren Erledigung er eine Woche Zeit hat. Sollte er mehr Zeit benötigen, kann er den nächsten Schritt länger hinausschieben. Die Abstände zwischen den einzelnen Stufen auf unter eine Woche zu verkürzen, ist jedoch nicht möglich. Der Inhalt einer Hausaufgabe besteht beispielsweise darin, eine Person zu finden, die regelmäßig dazu ermutigt, das Programm fortzuführen. Eine andere Aufgabe ist es, Tagebuch über auftretende Angstattacken zu führen. Der Patient wird außerdem dazu aufgefordert, negative Grundüberzeugungen zu hinterfragen und positive Alternativen zu entwickeln.

Den Alltag bewältigen

Während des Programms erlernen die Teilnehmer Übungen, die ihnen im Alltag helfen können, bedrohliche Situationen zu meistern, ohne in Panik zu geraten. In der vorletzten Einheit findet schließlich eine Expositionsübung statt, auf die sich der Patient in den Hausaufgaben vorbereitet hat. Die Übung wird wiederholt, bis der Patient ein selbst gestecktes Ziel erreicht. Der letzte Schritt beinhaltet eine Zusammenfassung und gibt dem Patienten Tipps für den Umgang mit Rückfällen mit auf den Weg. Für jede Stufe von „FearFighter“ sind zwischen 30 und 40 Minuten veranschlagt. Je nachdem, wie intensiv sich ein Teilnehmer mit seinen Hausaufgaben beschäftigt, muss er jede Woche weitere ein bis drei Stunden Zeit dafür aufbringen. „FearFighter“ steht in englischer ­Sprache zur Verfügung und wurde für eine Studie auch ins Dänische übersetzt.

Spinnenphobie mittels Virtual Reality bekämpfen

Auch zur Behandlung anderer psychischer Leiden werden Internet-Interventionen untersucht. Die Online-Anwendung „Vorvida“ etwa erwies sich als wirksames Selbsthilfemittel bei der Reduktion von problematischem Alkoholkonsum [2, 3]. Mit Interventionen aus dem Netz, die auf der kognitiven Verhaltenstherapie basieren, können außerdem positive Resultate bei Depressionen erzielt werden [4]. Für Expositionsübungen experimentieren Forscher mit Virtual-Reality-Szenarien. Am Institut für Translationale Psychiatrie der Universität Münster findet beispielsweise eine Studie zur Bekämpfung von Arachnophobie, der übersteigerten Angst vor Spinnen, statt. Unter anderem werden die Teilnehmer in einer virtuellen Welt mit einer Spinne konfrontiert. Sie sollen das Tier genau betrachten, den Blick nicht abwenden und ihre Ängste zulassen. Während des Versuchs dokumentieren Wissenschaftler die Entwicklung der Gefühle ihrer Probanden. Derzeit befindet sich die Studie mit dem Namen „Spider-VR“ in der Auswertungsphase [5].

Was sagt die Studienlage?

Sollen Internet-Interventionen in randomisierten, kontrollierten klinischen Studien untersucht werden, sind einige Besonderheiten zu beachten. So kann in der Regel kein psychologisches Placebo verabreicht werden. In einigen Studien diente daher die Warteliste als Kontrollgruppe. Außerdem können die Studien nicht verblindet durchgeführt werden. Festgestellte ­Effekte beruhen meist auf Selbstbe­obachtungen. KVT-basierte Internet-­Interventionen zeigten in mehreren Studien der letzten Jahre eine bessere Wirksamkeit bei der Behandlung von Angststörungen als die Warteliste oder Entspannung als Kontrolle. Einige Autoren stellten sogar eine gleiche Wirksamkeit dieser Therapieoption und einer Therapeuten-gestützten kognitiven Verhaltenstherapie fest. In anderen Studien war eine Internet-­Intervention kaum wirksam. „FearFighter“ erzielte begrenzte Effekte bei der Therapie von Angststörungen. Statistisch signifikante klinische Effekte im Vergleich zur Warteliste blieben laut den Verfassern zweier Studien zwar aus. In einer Untersuchung trat aber eine Reduktion der Symptome auf [6]. Autoren einer anderen Studie berichteten von einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität der Teilnehmer [7]. Studien mit vergleichbaren Programmen erzielten ebenfalls eine Reduktion von Angst-Symptomen [8, 9]. Einer Umfrage zufolge bewerteten Anwender von „FearFighter“ die Bedienung des Programmes größtenteils als leicht bis sehr leicht. Viele hielten jedoch die Abwesenheit eines Therapeuten für einen Nachteil [10].

Bildschirm vs. Sofa

Zwar liegen in Pandemiezeiten die Vorteile einer Therapie in den eigenen vier Wänden auf der Hand. Manchem Patienten mag es auch leichter fallen, allein von zu Hause an seinen Problemen zu arbeiten als im persönlichen Gespräch mit einem kaum bekannten Therapeuten. Therapeut und Patient sparen außerdem Zeit und Fahrtkosten. Doch bei einer Internet-Intervention fehlt es an Möglichkeiten, auf individuelle Probleme eines Erkrankten einzugehen. Diagnosen, die über standardisierte Onlineformulare gestellt werden, sind weniger genau. Ohne persönlichen Kontakt kann zudem eine Suizidgefahr nicht sicher ausgeschlossen werden. Insgesamt mangelt es noch an aussagekräftigen Studien zum Thema. Die Empfehlung in der neuen Version der S3-Leitlinie lautet daher, dass eine KVT-basierte Internet-Intervention nur zur Überbrückung bis zum Beginn einer Therapeuten-gestützten Behandlung von Angststörungen, Panikattacken und sozialen Phobien geeignet ist bzw. ­diese ergänzen kann. |

Literatur

[1] Bandelow B et al. S3-Leitlinie – Behandlung von Angststörungen Version 2. Stand: 6.4.2021. Online verfügbar unter: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/051-028l_S3_Behandlung-von-Angststoerungen_2021-06.pdf

[2] Zill JM et al. (2019). The effectiveness of an internet intervention aimed at reducing alcohol consumption in adults: results of a randomized controlled trial (Vorvida). Dtsch Arztebl Int 2019;116:127-33. doi: 10.3238/arztebl.2019.0127

[3] VORV!DA – Weil weniger besser ist. Informationen der Gaia AG, https://de.vorvida.com/; Abruf am 08. Juli 2021.

[4] Andersson G & Carlbring P. Internet-Assisted Cognitive Behavioral Therapy. Psychiatr Clin North Am 2017;40(4):689-700. doi: 10.1016/j.psc.2017.08.004

[5] Projekt C09 – „SPIDER-VR“. Informationen der Medizinischen Fakultät Münster, www.medizin.uni-muenster.de/translap/forschung/sfb-trr58/projekt-c09-spider-vr.html; Abruf am 08. Juli 2021

[6] Fenger M et al. Internet-based therapy with FearFighter for anxiety disorders: a randomised clinical trial. Nord J Psychiatry. 2020;74(7):518-524. doi: 10.1080/08039488.2020.1755363

[7] Mathiasen K et al. Internet-based CBT for social phobia and panic disorder in a specialised anxiety clinic in routine care: Results of a pilot randomised controlled trial. Internet Interv. 2016;4:92-98. doi: 10.1016/j.invent.2016.03.001

[8] Allen AR et al. Internet cognitive-behavioural treatment for panic disorder: randomised controlled trial and evidence of effectiveness in primary care. BJPsych Open 2016;2(2):154-162. doi: 10.1192/bjpo.bp.115.001826

[9] Carlbring P et al. (2006). Remote treatment of panic disorder: a randomized trial of internet-based cognitive behavior therapy supplemented with telephone calls. Am J Psychiatry 2006;163(12):2119-25. doi: 10.1176/ajp.2006.163.12.2119

[10] MacGregor AD et al. Empirically grounded clinical interventions clients‘ and referrers‘ perceptions of computer-guided CBT (FearFighter). Behav Cogn Psychother 2009;37(1):1-9. doi: 10.1017/S135246580800492X

Ulrich Schreiber, M. Sc. Toxikologe

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