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Pharmazeutische Dienstleistungen
Medikation digital und interprofessionell
Modellprojekt in Nordrhein liefert ein „Rezept“ für pharmazeutische Dienstleistungen
Pharmazeutische Dienstleistungen – für viele Apothekerinnen und Apotheker ist das nur ein abstrakter Begriff. Er mutet fast religiös an, verspricht er doch die Erlösung der Pharmazie, während sich niemand etwas Konkretes darunter vorstellen kann. Mit dem am 1. Juli startenden Pilotprojekt „Digitales interprofessionelles Medikationsmanagement“ (DiM) könnte der Begriff mit Leben gefüllt werden. Ziel des Projekts: Arzneimittelbezogene Probleme minimieren, den Patientennutzen bestimmen und dafür Apotheker und Ärzte zusammenführen. Seit April 2021 können sich Hausärzte und Apotheken registrieren. Kostenträger ist die GWQ Serviceplus, ein Zusammenschluss und Dienstleister mittelständiger Innungs- und Betriebskrankenkassen (GWQ = Gesellschaft für Wirtschaftlichkeit und Qualität bei Krankenkassen). Die Vergütung der Leistungserbringer entstammt nicht öffentlichen Fördermitteln, sondern dem regulären Fonds der Krankenkassen. Bisher sind 15 Krankenkassen beigetreten, die in der Region Nordrhein rund 475.000 Patienten versichern.
Für das Medikationsmanagement kommen Versicherte infrage, die mehr als fünf Arzneimittel einnehmen und an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen. Mitinitiator ist der Hausärzteverband Nordrhein. Apotheker und Ärzte arbeiten mit der Software Medinspector® der Firma Viandar GmbH, die Medikationsanalysen technisch und Interventionen fachlich stützt. Das Projekt soll bis zum 30. Juni 2022 Daten dazu liefern, welche Interventionen von besonderem Nutzen für die Patienten sind.
In einem DAZ-Hintergrundgespräch stellten die Initiatoren des Modellvorhabens ihr Projekt näher vor. Es nahmen teil: Oliver Harks von der GWQ Serviceplus, Dr. Oliver Funken vom Hausärzteverband Nordrhein sowie Dr. Andrea Gillessen und Sabine Haul von der Viandar GmbH.
DAZ: Herr Harks, was führte Sie als Vertreter der Krankenkassen zur Initiierung des Pilotprojektes „DiM“?
Harks: Wir sehen, dass Patienten, die viele Arzneimittel einnehmen, von einem Medikationsmanagement profitieren. Hier bedarf es der Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker, daher wollen wir den interprofessionellen Ansatz fördern. Um dies umzusetzen, sehen wir erhebliche Chancen in der Digitalisierung. Wir arbeiten mit der Medikationsmanagement-Software Medinspector®. Beide Berufsgruppen bedienen sich desselben Systems und verfügen über dieselben Daten. Sie sehen zum Beispiel, welche Interaktionen auftreten, und können die Informationen auswerten. Unser Ziel ist, unter anderem solche Wechselwirkungen zu reduzieren und letztlich durch eine sicherere Arzneimitteltherapie Krankenhauseinweisungen zu vermeiden.
DAZ: Herr Dr. Funken, für das Modell braucht es nicht zuletzt Ihre Kollegen: Hausärzte, die mitmachen und Apotheken in der Umgebung rekrutieren. Finden sich genügend Interessenten?
Funken: Aktuell sind wir durch die COVID-19-Impfungen ausgelastet. Jedes neue Modell – und sei es noch so gut – wird nur schwer angenommen. Wir waren erstaunt, wie lange wir brauchten, Kollegen unter den Hausärzten von diesem Pilotprojekt überzeugen zu können – obwohl viele der Meinung waren, dass die Patienten ein solches Angebot brauchen. Aber durch das Impfen können Ärzte gerade nicht auf Dritte zugehen. Mit der Unterstützung der Wirtschaftsgesellschaft des Hausärzteverbands Nordrhein konnten jetzt jedoch geeignete „Paare“ von Hausärzten und Apotheken rekrutiert werden. Am 1. Juli können wir mit zehn Praxen starten.
Gillessen: Auch für uns von Viandar war es schwierig, Apotheken zu rekrutieren. Sie haben gerade eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen. Doch mittlerweile haben wir circa 30 Apotheken im Boot. Diese nehmen wiederum Kontakt zu Ärzten auf, mit denen sie im Rahmen des Pilotprojektes zusammenarbeiten würden. Das funktioniert gut – auch wenn die SARS-CoV-2-Pandemie alles etwas bremst. Die Zeit hat aber auch gezeigt, wie wichtig Zusammenarbeit ist, um Versorgungslücken zu schließen. Uns ist wichtig, uns auf Augenhöhe und im Schulterschluss zu begegnen.
DAZ: Hausärzte und Apotheker, das ist nicht zwangsläufig eine Liebesbeziehung. Wie konnten Sie, Herr Funken, Ihre Kollegen überzeugen?
Funken: In den eigenen Reihen wird man angefeindet, wenn man die „Demarkationslinie“ zwischen Ärzten und Apothekern überschreitet. Daher ist es umso spannender, sehen zu können, welche Ergebnisse die Theorie hinter dem Projekt in die Praxis überführt.
Gillessen: Ich denke, die „Demarkationslinie“ wird leicht verschoben und nicht überschritten. Niedergelassene Ärzte sollten solche Angebote als hochqualitatives pharmazeutisches Konsil ansehen. Die pharmazeutische Kompetenz ist bei Apothekern höher als bei uns Ärzten.
Harks: Niemand nimmt irgendjemandem irgendetwas weg. Im Gegenteil: Wenn die Berufsgruppen nachhaltig besser zusammenarbeiten, sehe ich nur Gewinn für alle Beteiligten.
Funken: Viele von uns sind als Einzelkämpfer ausgebildet worden. Nun lernen sie, im Team zu arbeiten. Dieser Lernprozess fließt in die tägliche Arbeit ein. Doch wir können niemals alle begeistern, ein Maß an Kritik bleibt.
DAZ: Welche Voraussetzungen müssen Apotheken haben, um mitzumachen?
Haul: Um die Software zu nutzen, benötigen Apotheker keine weiteren Qualifikationen. Durch unser Studium sind wir hinreichend qualifiziert. Falls jemand eine Weiterbildung oder einen Kurs zur Arzneimittelsicherheit absolviert hat, ist das hilfreich, aber nicht erforderlich. Das Konzept der Viandar sieht vor, dass wir nicht nur die Software zur Verfügung stellen, sondern über unseren Expertenrat jederzeit ansprechbar sind. Wir können auf Anfrage die zu bearbeitenden Fälle einsehen und Empfehlungen geben. Wir stellen in einer Lernakademie Materialien zur Verfügung, bieten Workshops und Webinare an. Die Software ist nach der Bundesapothekerkammer (BAK)-Leitlinie zur Medikationsanalyse konzipiert, sodass sich Apotheker schnell orientieren können.
Gillessen: Viele Apotheker haben Lust auf Medikationsmanagement. Aber oft fehlt die Idee, wo man anfangen soll. Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, Apotheken, die Hilfestellung wünschen, zur Seite zu stehen. Apotheken finden über unsere Website www.medinspector.de alles, was sie brauchen. Die einzige Voraussetzung ist, dass ein Apotheker in einem bestimmten Zeitraum nicht am HV steht, sondern im Backoffice Medikationsmanagement betreibt.
So ist die Vergütung
Die am Pilotprojekt teilnehmenden Apotheken erhalten 59,50 Euro brutto für die Medikationsanalyse. Neben dieser können sie 29,75 Euro als Zuschlag zur Adhärenz-Förderung abrechnen. Bei Interventionsbedarf können Apotheken für 41,65 Euro eine Folgemedikationsanalyse anbieten. Die Hälfte des Betrages wird sofort ausgezahlt. Die zweite Hälfte steht erst zur Verfügung, wenn die wissenschaftliche Auswertung zeigt, dass die anvisierten patientenrelevanten Ziele erreicht wurden.
DAZ: Kann bundesweit jeder Interessent teilnehmen?
Funken: Wenn eine Arztpraxis außerhalb von Nordrhein aus Neugierde mitmachen möchte, stehen wir dem nicht entgegen. Die GWQ ist bundesweit aufgestellt, sodass genügend Versicherte vorhanden wären. Wir sind dankbar für jeden, der Input liefert.
Gillessen: Im Vertrag ist verankert, dass das Modell in Nordrhein und angrenzenden Regionen stattfindet. Weiterhin können interessierte Apotheken beitreten. Die einzige Voraussetzung ist, dass beide Heilberufler den Medinspector® nutzen.
DAZ: Medikationsanalysen sind sehr aufwendig, die Vergütung müsste hoch veranschlagt werden. Konnten Sie das Problem lösen?
Harks: Derzeit sieht die Regelversorgung vor, Maßnahmen zur Arzneimitteltherapiesicherheit nach einer Mischpauschale zu vergüten. In dieser Mischpauschale sind Beratungsdienstleistungen und die Medikationsanalyse über einen Freibetrag vergütet, den wir bei der Arzneimittelabgabe mit einplanen. Der Freibetrag geht aber im Rahmen der Mischkalkulation unter. In diesem Pilotprojekt stellen wir zusätzlich einen Betrag zur Verfügung, der in Kopplung mit der Mischkalkulation den besonderen Aufwand abbildet.
Gillessen: Die Vergütung orientiert sich hier an den realen Bedingungen. In vielen Fällen ist nicht die Medikation das Problem, sondern die Adhärenz, weil Patienten über Schluckbeschwerden klagen oder mit der Arzneiform nicht zurechtkommen. Daher finde ich gut, dass bei der Vergütung ein Fokus auf die Beratungsleistung gelegt wurde.
DAZ: Verhandlungen zwischen Krankenkassen und dem Deutschen Apothekerverband gestalten sich in der Regel schwierig. Wie konnte in diesem Projekt eine Einigung erzielt werden?
Harks: Im Positionspapier der ABDA sehen wir die Bestrebung, pharmazeutische Dienstleistungen zu vergüten. Uns ist wichtig, konkrete Dienstleistungen nachvollziehen können, um sie gezielt zu vergüten. Bei diesem Modell sehen wir, welche Intervention anhand welcher Daten erfolgt ist. Das begeistert uns. Bei den anderen Bestrebungen sollen Krankenkassen anhand einer Abrechnungsziffer pharmazeutische Dienstleistungen nach dem Gießkannenprinzip vergüten. Bei diesem Projekt hingegen sind unserer Ansicht nach alle Aspekte erfüllt, pharmazeutische Dienstleistungen gezielt zu honorieren.
DAZ: Ist Ziel des Projektes, kalkulieren zu können, wie viel Krankenkassen für einen bestimmten Umfang einer Medikationsanalyse zahlen?
Harks: Ja, denn am Ende bezahlen es die Krankenkassen. Für dieses Projekt beziehen wir keine externe Förderung, wir ziehen unsere eigenen Mittel heran, um teilnehmende Ärzte und Apotheker zu honorieren. Wir nutzen dafür den „Pay for Performance“-Ansatz, weil wir daran glauben, dass am Ende patientenrelevante Endpunkte erreicht werden. Die Kassen schütten die zweite Hälfte der Vergütung erst aus, wenn wir die Versorgungsziele erreicht haben. Diejenigen, die an den Erfolg glauben, machen bei dem Projekt mit.
DAZ: Wie viele Patienten benötigen Sie für die wissenschaftliche Auswertung?
Gillessen: Wir haben vereinbart, dass eine Evaluation beginnen kann, sobald 100 Versicherte beim Pilot dabei sind. Daher brauchen wir jetzt die Paare zwischen Apotheken und Arztpraxen, die Patienten in das Modell lotsen, wenn sie Handlungsbedarf sehen.
DAZ: Welche Ziele streben Sie mit dem Pilotprojekt an?
Harks: Im Fokus der Auswertung steht vor allem der Patientennutzen. Auch Patientenbefragungen werden zur Auswertung herangezogen. Wir möchten den Nachweis darüber haben, welche genauen Faktoren die Versorgungsqualität verbessern. Die Antworten wird uns das Pilotprojekt bringen. Die Ergebnisse interessieren Krankenkassen brennend.
Funken: Auch für uns Ärzte ist wichtig zu wissen, dass wir mit einer Maßnahme zielgerichtet die Patientenversorgung verbessern. Das ist die einzige Motivation, die das Projekt in der Versorgungsrealität trägt. Daher brauchen wir in diesem Modell konkrete Messpunkte. Die Arzneimittel-Einsparungen stehen nicht so sehr im Vordergrund. Es geht darum, Interaktionen zu vermeiden, die Patienten vergiften.
Gillessen: Wir sind das erste Projekt, das eine objektive Datengrundlage für pharmazeutische Dienstleistungen bildet. Wir sind gespannt und hoffen, dass wir ein Fundament legen.
Diese Kassen sind dabei
- Daimler BKK
- R+V Betriebskrankenkasse
- Novitas BKK
- BKK Melitta Plus
- Heimat Krankenkasse
- BKK B. Braun Aesculap
- vivida bkk
- BKK Linde
- energie-BKK
- SBK
- Audi BKK
- Salus BKK
- VIACTIV KK
- BKK Diakonie
- Mobil Krankenkasse
DAZ: Wer wertet das Projekt wissenschaftlich aus?
Gillessen: Die Viandar hat eine Doktorandenstelle an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster geschafften. Ein Doktorand schreibt in Zusammenarbeit mit der klinischen Pharmazie seine Dissertation über das Projekt und wertet es in Kooperation mit der GWQ aus. So entstehen auch die Ergebnisse gemeinschaftlich und müssen nicht erst diskutiert werden. Die Daten resultieren zum einen aus den Sekundärdaten der Krankenkassen und zum anderen aus den anonymisierten Daten aus dem Medinspector®.
DAZ: Warum haben Sie sich für den Medinspector® und die Scholz-Datenbank entschieden?
Haul: Dem Medinspector® sind zwei Datenbanken hinterlegt: Die Scholz- und die MMI-Arzneimitteldatenbank. Die Scholz-Datenbank haben wir gewählt, weil sie multiple Interaktionsmechanismen erkennt und die komplexen Ergebnisse auf einen Blick sichtbar macht. Die MMI-Datenbank ist für Ärzte und Apotheker und arbeitet mit den ICD-10-Kodierungen. Das stärkt die Zusammenarbeit und für Apotheker das Wissen zu den genauen Diagnosen.
DAZ: Wollen Sie das Modellprojekt für andere Krankenkassen ausweiten?
Funken: Wenn das Modell gut ist, wollen wir es anderen Krankenkassen nicht vorenthalten. Es geht nur darum, Patienten mehr Sicherheit zu bieten. Das Projekt mit der GWQ ist ein erster Schritt. Wenn es erfolgreich ist – wovon wir ausgehen –, kann ich mir nicht vorstellen, dass sich Krankenkassen dagegen wehren.
DAZ: Vielen Dank für das Gespräch. |
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