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Arzneimittel und Therapie
Tödliche Fehler vermeiden!
Neue Leitlinie gibt Tipps zur Arzneimittelversorgung bei Kindernotfällen
Medikationsfehler stellen eine der wichtigsten Bedrohungen für die Patientensicherheit dar. Dabei werden vor allem injizierbare Arzneimittel häufig falsch angewandt und wurden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an Platz 1 der fünf bedeutsamsten sicherheitsrelevanten Themen in der Medizin („High5s“) gesetzt [1]. Für Notfallsituationen sind injizierbare Arzneiformen jedoch zwingend erforderlich. Bei Kindern treten Medikationsfehler bedingt durch die individuelle Dosisberechnung besonders häufig auf. Aufgrund der großen Spannweite von Körpergewichten (vom Neugeborenen mit 3 kg bis zum adipösen Jugendlichen mit 100 kg) ist eine Vertrautheit mit einer wie im Erwachsenenalter praktizierten „typischen“ Dosis nicht möglich [2]. Zudem können Überdosierungen im Bereich einer Zehnerpotenz – anders als beim Erwachsenen – oft aus einer einzigen Ampulle entnommen werden und entstehen schon durch das falsche Setzen eines Kommas bei der Berechnung. Eine Adrenalin-Überdosis in Höhe einer Zehnerpotenz endet bei Kindern meist tödlich [3], und die internationalen Reanimationsleitlinien warnen explizit davor [4]. So wurden beispielsweise in den USA in 60% der prähospital versorgten Kinder Fehler bei der Gabe von Adrenalin dokumentiert [5]. Die durchschnittlichen Überdosierungen lagen bei 808% der empfohlenen Dosis und damit nah an einem Zehner-Potenzfehler. Aber auch in Deutschland wurde das Katecholamin durchschnittlich um 882% der empfohlenen Dosis überdosiert [6]. Man muss also feststellen, dass Kinder weltweit regelmäßig durch Medikationsfehler in Notfallsituationen zu Schaden kommen.
Kindernotfälle sicher therapieren
Eine von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) initiierte Gruppe von 22 Experten aus 15 Fachgesellschaften, Berufsverbänden und Interessenvertretungen hat sich zum Ziel gesetzt, die Sicherheit und Qualität der Pharmakotherapie und damit der Patientensicherheit bei Kindernotfällen zu verbessern. Hierzu wurde in einem formalen, von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) koordinierten Konsensus-Prozess die aktuelle Literatur ausgewertet und daraus Maßnahmen und Empfehlungen abgeleitet [7]. Die klare Erkenntnis dabei war, dass selbst einfach umzusetzende Maßnahmen die Medikationssicherheit sehr effektiv verbessern können. Die wesentlichen Empfehlungen werden im Folgenden kurz dargestellt.
Primum non nocere
Vor der Gabe von Arzneimitteln an Kinder müssen sowohl altersgruppenspezifische Indikationen als auch Kontraindikationen mit teilweise potenziell lebensbedrohlichen Komplikationen (beispielsweise Reye-Syndrom bei unter Zwölfjährigen durch Acetylsalicylsäure) bedacht werden. Sanitäter und Ärzte müssen daher pädiatrisch-pharmakologische Kenntnisse sowie unmittelbaren Zugriff auf solches Wissen haben. Bestehen Zweifel in der akuten Notfallsituation, ob ein Wirkstoff für ein Kind geeignet ist, soll von einer Verabreichung des Arzneimittels abgesehen werden („Primum non nocere“). Für besondere Situationen sollte jeder Rettungsdienstbereich die Möglichkeit zu einer Telefonkonsultation mit einer Kinderintensivstation verabreden. Um Fehler zu vermeiden, sollen zudem alle an der Versorgung des verunglückten Kindes beteiligten Helfer in den Verordnungsprozess eingebunden werden und diesen aktiv überprüfen. Hierbei darf es keine Hierarchien geben, und die Gabe soll erst erfolgen, wenn alle Beteiligten die Korrektheit laut wiederholt und bestätigt haben (s. Kasten „5-R-Regel“).
5-R-Regel:
Vor jeder Arzneimittelgabe muss im Vier-Augen-Prinzip überprüft werden, dass es sich um
- das richtige Arzneimittel
- in der richtigen Dosis
- zum richtigen Zeitpunkt
- auf dem richtigen Verabreichungsweg
- für den richtigen Patienten handelt.
So wenig wie möglich, so viel wie nötig
Um eine Übertherapie zu vermeiden, muss vor jeder Behandlung immer deren Notwendigkeit hinterfragt werden. Zudem sollte geprüft werden, ob mit weniger invasiven Maßnahmen (z. B. Beruhigung durch die Eltern) eine Medikation mit Sedativa oder Opioiden vermindert oder vermieden werden kann. Dies gilt in besonderem Maße für Kinder mit schwerwiegenden Grunderkrankungen oder Dispositionen für Atemwegskomplikationen (die Leitlinie erläutert diese Aspekte ausführlich). In Extremfällen kann es sogar der Sicherheit dienen, auf eine prähospitale Medikation zu verzichten und rasch eine Kinderklinik anzufahren.
Arzneimittel müssen bei Kindern in der Regel anhand des Gewichts dosiert werden. Allerdings ist dieses in Notfallsituationen häufig zunächst nicht bekannt. Dabei muss einem bewusst sein, dass ein falsch eingeschätztes Gewicht zwangsläufig zu einer Fehldosierung führt.
Was tun, wenn das Gewicht nicht bekannt ist?
Doch was tun, wenn auch die anwesenden Eltern das Gewicht nicht kennen? Die Leitlinie nennt dazu die längenbezogene Gewichtsschätzung, deren Aussagekraft in etlichen wissenschaftlichen Studien als sehr valide eingestuft wurde. Zudem ermittelt die längenbezogene Gewichtsschätzung das Normalgewicht, welches insbesondere bei übergewichtigen Kindern zur Dosisermittlung von Arzneimitteln mit geringem Verteilungsvolumen und geringer therapeutischer Breite (z. B. Sedativa und Analgetika) als Berechnungsgrundlage dienen sollte. Denn wird die Dosierung dieser Wirkstoffe bei adipösen Kindern anhand des tatsächlichen Gewichts ermittelt, kann das zu gefährlichen Überdosierungen führen. Durch den Einsatz von längenbezogenen Systemen bei „echten“ prähospitalen Kindernotfällen konnten beispielsweise schwerwiegende Dosierungsfehler mit Adrenalin vollständig vermieden werden (Studie zum „Pädiatrischen Notfalllineal“; www.notfalllineal.de [6]). Auch die Verwendung einer einfachen Tabelle hatte in einem simulierten Szenarium neun von zehn Zehnerpotenzfehler mit Adrenalin verhindert [8].
Ordnung ist wichtig
Zudem können eine optimierte Lagerung und Vorbereitung der Arzneimittel gefährliche Medikationsfehler vermeiden. So sollten Ampullen mit ähnlich klingenden Namen oder ähnlichem Aussehen an klar definierten Aufbewahrungsorten gelagert werden. Um ein bewusstes „danach Greifen“ zu erzwingen, sollten Arzneimittel mit Gefährdungspotenzial separiert werden. Sofern möglich sollten Verdünnungen vermieden werden und die zubereitende Person nicht gestört werden. Nach dem Aufziehen von Spritzen müssen diese unmittelbar und zuverlässig gekennzeichnet werden. Hierzu stehen standardisierte und in Studien evaluierte Etiketten zur Verfügung. Beim Bekleben ist darauf zu achten, dass die Skalierung weiterhin lesbar bleibt.
Ja zum Off-Label-Use
Der Leitliniengruppe lag es am Herzen, erstmalig im deutschsprachigen Raum eine klare positive Positionierung zum „Off-Label-Use“ in der pädiatrischen Notfallmedizin zu formulieren, wie sie zuvor auch von der „American Academy of Pediatrics“ publiziert wurde. Überblickend für die gesamte Pädiatrie haben nur 46% aller bedeutsamen Arzneimittel eine formale Zulassung [9], differenziert für die Neonatologie sind es sogar nur 20% [10]. Dennoch gibt es oft langjährige klinische Erfahrung und eindeutige Evidenz für ihre sichere Anwendung in der Pädiatrie. Teilweise übersteigen die vorhandenen Daten sogar die Anforderungen, die für eine Zulassung notwendig wären. Die Leitliniengruppe hat daher festgestellt, dass ein grundsätzlicher Verzicht auf „Off-Label-Use“ eine sachgemäße Behandlung unmöglich macht und damit die Kinder eher gefährdet. Mit den Statements, dass ein „Off-Label-Use“ nicht unsachgemäß, illegal oder kontraindiziert ist, sondern die bestmögliche Therapie darstellen kann, soll den Versorgern die kategorische Sorge genommen und damit die Möglichkeit gegeben werden, rein evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. |
Literatur
[1] Leotsakos A et al. Standardization in patient safety: the WHO High 5s project. International Journal for Quality in Health Care 2014;26:109-116
[2] Kaufmann J, Laschat M, Wappler F. Medikamentenfehler bei Kindernotfällen - eine systematische Analyse. Dtsch Arztebl Int 2012;109:609-616
[3] Perondi MB, Reis AG, Paiva EF, Nadkarni VM, Berg RA. A comparison of high-dose and standard-dose epinephrine in children with cardiac arrest. N Engl J Med 2004;350:1722-1730
[4] Van de Voorde P et al. European Resuscitation Council Guidelines 2021: Paediatric Life Support. Resuscitation 2021;161:327-387
[5] Hoyle JD et al. Medication dosing errors in pediatric patients treated by emergency medical services. Prehosp Emerg Care 2012;16:59-66
[6] Kaufmann J et al. Development and Prospective Federal State-Wide Evaluation of a Device for Height-Based Dose Recommendations in Prehospital Pediatric Emergencies: A Simple Tool to Prevent Most Severe Drug Errors. Prehosp Emerg Care 2018;22:252-259
[7] Kaufmann J, Rascher W, Neubert A, Eich C, Krebs M, Schwab R, et al. S2k – Leitlinie 027/071 “Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen“ AWMF 2021; https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-071.html
[8] Bernius M, Thibodeau B, Jones A, Clothier B, Witting M. Prevention of pediatric drug calculation errors by prehospital care providers. Prehosp Emerg Care 2008;12:486-494
[9] Sachs AN et al. Pediatric information in drug product labeling. Jama 2012;307:1914-1915
[10] Pandolfini C, Bonati M. A literature review on off-label drug use in children. Eur J Pediatr 2005;164:552-558
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