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Interpharm online 2021
Zweimal täglich 500 mg Propionsäure
Eine Zusatzempfehlung bei multipler Sklerose und was dahintersteckt
Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Aiden Haghikia forscht seit Jahren zur Rolle des Darms bei der Entstehung von neurodegenerativen Erkrankungen. Die Ergebnisse, die sie im vergangenen Jahr in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Cell publizierte, sind äußerst vielversprechend: Eine Supplementierung von Propionsäure konnte demnach sowohl die Schubrate als auch das Risiko der Zunahme des Behinderungsgrades bei multipler Sklerose langfristig senken. Haghikia ließ die Teilnehmer der Interpharm an der Forschungsarbeit teilhaben.
Gene nur zu 30% schuld
Bei der multiplen Sklerose handelt es sich um eine neuroimmunologische Erkrankung des zentralen Nervensystems, die sehr unterschiedliche Krankheitsbilder hervorbringt. Häufig ist aufgrund von degenerativen Prozessen an Neuronen die Motorik oder das Sehen eingeschränkt, wodurch die Erkrankung auffällt. Es kann aber auch eine Fatigue-Symptomatik im Vordergrund stehen. Die Palette der verfügbaren Therapien ist entsprechend bunt. Sie haben derzeit alle ein gemeinsames Ziel: die Entzündungsaktivität unter Kontrolle zu halten, um bleibende Schäden so weit wie möglich nach hinten zu verschieben. Verhindern können sie sie aber nicht. Der Bedarf nach weiteren Optionen ist deshalb ungebrochen. Die Immunpathomechanismen sind heute gut verstanden. Vereinfacht kann man sich vorstellen, dass die Waage von proinflammatorischen und regulatorischen T-Zellen aus dem Gleichgewicht geraten ist und Entzündungsprozesse das Geschehen dominieren. Auch bezüglich der Risikofaktoren ist man sich sicher: Es ist eine Mischung aus genetischer Prädisposition (max. 30%) und Umweltfaktoren, die Menschen an multipler Sklerose erkranken lässt. Dazu zählt auch die „innere Umwelt“, also das, was über den Darm aufgenommen wird.
Darm und multiple Sklerose – wo liegt der Zusammenhang?
Schon vor 70 Jahren fand eine Studie heraus, dass Menschen von der norwegischen Küste seltener an multipler Sklerose erkrankten als Menschen aus dem Inland. Damals führte man diesen Effekt auf den erhöhten Verzehr von Fisch und pflanzlicher Nahrung zurück. Heute weiß man, dass er vor allem im verminderten Konsum von Fleisch, Zucker und langkettigen Fettsäuren begründet ist. Die Arbeitsgruppe um Haghikia konnte 2015 im Zellmodell nachweisen, dass die Zugabe von Fettsäuren Einfluss auf die Ausdifferenzierung der T-Lymphozyten hat. So führte Propionsäure (C3:0) zu einer Zunahme der Zahl an regulatorischen T-Zellen, die überschießende entzündliche Prozesse hemmen, während unter Laurinsäure (C12:0) vermehrt autoreaktive T-Zellen hervortraten, die proinflammatorisch agieren. Das Fazit: Je länger die Fettsäure, desto höher die Entzündungsaktivität. Die Ausdifferenzierung der T-Zellen erfolgt unter physiologischen Bedingungen in der Darmwand. Im Tiermodell wurde die Hoffnung genährt, dass sich kurzkettige Fettsäuren positiv auf das Entzündungsgeschehen bei multipler Sklerose auswirken.
Das Mikrobiom ist bei multipler Sklerose verändert
Da für Haghikias Forschung Propionsäure-haltige Präparate verwendet wurden, die bereits eine Zulassung in den USA und der EU haben, konnte zügig in die klinische Studienphase gewechselt werden. Untersuchungen mit über 200 Patienten ergaben, dass Patienten mit multipler Sklerose einen regelrechten Mangel an Propionsäure aufweisen, der bis dahin nicht bekannt war. Besonders ausgeprägt war dieser bei De-novo-MS-Patienten, also jenen, die das erste Mal einen Schub hatten. Die Betroffenen ernährten sich aber nicht anders als ihre Mitmenschen. Wieso also wiesen sie diesen Mangel auf? Fakt ist: Das Darmmikrobiom von MS-Patienten ist im Vergleich zu gesunden Menschen anders zusammengesetzt. Unter anderem sind Bakterien, die unverdauliche Ballaststoffe zu Propionsäure abbauen, seltener zu finden.
Fettsäure statt Bakterien
Von der Idee, derartige Bakterien zu geben, um die fehlenden Plätze zu besetzen, hält Haghikia derzeit noch nichts. Besser sei es, den daraus entstandenen Mangel durch die Einnahme von zweimal täglich 500 mg Propionsäure zu beheben. Die Supplementierung steigert nachweislich sowohl die Zahl der regulatorischen T-Zellen als auch deren Funktionalität und reduziert auf diese Weise Entzündungen unabhängig von der eingesetzten MS-Therapie. Die Schubrate konnte durch diese Intervention bei medikamentös gut eingestellten Patienten (0,2 bedeutet rein rechnerisch ein Schub alle fünf Jahre) nochmals um 50% reduziert werden. MRT-Daten bestätigen die klinischen Beobachtungen: Es wurde keine Atrophie, sondern im Gegenteil eine Zunahme der grauen Hirnsubstanz beobachtet, sodass sogar eine neuroprotektive Wirkung möglich scheint.
Zulassung steht noch aus
Allerdings erinnerte Haghikia daran, dass die vorgestellten Studien nicht die Kriterien für eine Zulassung erfüllen. Nach fünf Jahren Erfahrung hat er dennoch keine Bedenken, eine Empfehlung für die Anwendung von Propionsäure bei MS-Patienten auszusprechen – allerdings nur als Zusatz zu zugelassenen Arzneimitteln. Etwa 5000 Patienten praktizieren diese Strategie bereits in Deutschland. Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet, allerdings gibt es etwa 30% Non-Responder. Die Anwendung lohne sich auch noch in späteren Phasen der Erkrankung. Relativ schnell bessere sich unter Propionsäure die Darmfunktion und die Fatigue-Symptomatik. Wirkungen auf bestehende neuronale Schäden bedürfen mehrerer Monate Geduld. Haghikia hat auch schon Patienten mit multipler Sklerose gesehen, die statt eines Rollstuhls nur noch eine Gehhilfe benötigten. Ähnlich vielversprechende Aussichten gibt es auch für Parkinson-Patienten. |
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