Interpharm online 2021

Nach der Diagnose direkt zum Ernährungsspezialisten

Tumorkachexie ist ein besonderer Risikofaktor bei Krebserkrankungen

cb | Die Bedeutung einer qualifizierten Ernährungstherapie wird bei Tumorpatienten häufig unterschätzt. Prof. Dr. Martin Smollich vom Institut für Ernährungsme­dizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck stellte in seinem Vortrag dar, welche Unterstützung die Apotheke auf diesem Gebiet anbieten kann.

Die typischen Anzeichen einer Mangelernährung bei Tumorpatienten sind ungewollter Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit, Verlust von Muskelmasse sowie eine Abnahme der Lebensqualität. Die ersten beiden Symptome treten häufig bereits vor der Diagnose auf, sind also eine Art Frühwarnzeichen. Erst bei fortgeschrittener Erkrankung kann es auch zu einer Gewichtsabnahme durch die Tumortherapie selbst kommen. Beide Mechanismen verstärken sich gegenseitig. Definiert ist die Tumorkachexie als eine tumorbedingte katabole entzündliche Stoffwechsellage mit einem ungewollten Gewichtsverlust von mehr als 5% in den letzten sechs Monaten bzw. mehr als zwei Prozent bei Menschen mit einem BMI unter 20 kg/m².

Foto: DAZ/Alex Schelbert

Prof. Dr. Martin Smollich: Tumorpatienten brauchen nicht mehr Mikronährstoffe, sie brauchen sie häufiger.

Appetitlosigkeit ist nicht Ursache sondern Folge

Die Entzündungen sind dadurch begründet, dass der Tumor über eine Veränderung im Fettstoffwechsel, den Switch vom weißen zum braunen Fettgewebe, sich wie ein endokrines Organ verhält. Seine Zellen schütten permanent proinflammatorische Mediatoren wie Interleukin 6 und TNF α aus. Diese wirken sowohl lokal als auch systemisch. In der Muskulatur bewirken sie einen Proteinabbau, im Gehirn eine Modulation des Hungergefühls, der zur Appetitlosigkeit führt. Weitere klinische Folgen sind fortschreitender Gewichtsverlust sowie auch psychische Effekte wie Fatigue und Depression. „Die Appetitlosigkeit ist also die Folge, nicht die Ursache der Tumor­kachexie“, betonte Smollich.

So früh wie möglich intervenieren

Schätzungsweise ein Viertel bis ein Drittel der Tumorpatienten verstirbt aufgrund der Mangelernährung. Darüber hinaus kann sie sich auch negativ auf die medikamentöse Tumortherapie auswirken, indem die Wirkstoffe nicht so hoch wie nötig dosiert werden können. Außerdem treten bei kachektischen Tumorpatienten häufiger Komplikationen auf. Deshalb ist eine frühzeitige ernährungsmedizinische Intervention durch eine entsprechend ausgebildete Fachkraft essenziell, betonte Smollich. Idealerweise erfolgt sie direkt nach der Diagnose – was in der Praxis noch zu selten passiert. Häufig wird erst im weiteren Verlauf der Krebserkrankung interveniert, wenn der Patient bereits viel Gewicht verloren hat. Dann kann er sein Ausgangsgewicht allerdings nicht mehr zurückerlangen, der Gewichtsverlust lässt sich nur noch verzögern.

Foto: DAZ/Alex Schelbert

„Viel Fett“ ist nicht ungesund

Gesunde sollten etwa 25 bis 30% ihrer Gesamtenergiemenge in Form von Fetten zu sich nehmen. Für Tumor­patienten gilt dagegen ein Fettanteil zwischen 35 und 45%, bezogen auf die Gesamtenergiezufuhr, als empfehlenswert. Hier ist einiges an Aufklärungsarbeit notwendig, da Fette häufig für ungesund gehalten werden und viele Tumorpatienten sich nach der Diagnose erst recht gesund ernähren möchten. Empfehlenswert für die Fettanreicherung sind vor allem pflanzliche Öle wie Oliven-, Walnuss- und Algenöl. Mikronährstoff-Defizite sollten ausgeglichen werden, da Tumorpatienten im Vergleich mit Gesunden häufiger Defizite bei der Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen aufweisen. Die Grenzwerte sind aber nicht verändert. „Tumorpatienten brauchen nicht mehr Mikronährstoffe, sie brauchen sie häufiger“, betonte Smollich. Hochkalorische Trinknahrung sollte nicht gleich zu Beginn der Tumorerkrankung eingesetzt werden, und sie muss immer mit der Ernährungsberatung kombiniert werden. Außerdem empfiehlt es sich, bei der Beratung von Tumorpatienten nach weiteren Faktoren zu forschen, die sich negativ auf die Nahrungsaufnahme auswirken können. Dazu zählen beispielsweise Zahnprobleme, eine schlecht sitzende Zahnprothese oder Zahnfleischentzündungen.

Wichtig zu wissen

Die Kosten für eine Ernährungstherapie im Rahmen einer Tumorerkrankung werden von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. Voraussetzung dafür ist eine ärztliche Notwendigkeitsbescheinigung, mit der bestätigt wird, dass eine ambulante ernährungstherapeutische Intervention nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 o. 2 SGB V notwendig ist. Geben Sie den Webcode S3UP8 direkt in die Suchfunktion auf DAZ.online unter www.deutsche-apotheker-zeitung.de ein und Sie gelangen direkt zu dem Formular. In der Apotheke sollten Krebspatienten frühzeitig darauf hingewiesen werden.

Medikamentöse Optionen noch nicht etabliert

Zur Behandlung der Tumorkachexie sind noch keine medikamentösen Optionen zugelassen, wenngleich die Forschung daran arbeitet. Ein poten­zieller Kandidat war Anamorelin, das ähnlich wie das im Magen-Darm-Trakt gebildete Hormon Ghrelin das Hungergefühl verstärkt. Anamorelin wurde in klinischen Studien mit Tumorpatienten untersucht, hat aber keine Zulassung von der EMA erhalten. Problematisch ist bei dieser Substanz auch, dass sie als Wachstumsfaktor wirkt, der auch das Tumorwachstum anregen kann. Auch eine Behandlung mit Celecoxib verbesserte in Studien den BMI und die Lebensqualität, aber nicht die Gesamtprognose der Patienten. Glucocorticoide wirken primär über die Wassereinlagerung gewichtssteigernd. Cannabinoide haben zwar kaum einen Effekt auf das Körpergewicht, regen aber den Appetit an und verbessern die Lebensqualität. Smollich betonte, dass bei der Tumorbehandlung der Mensch „als Ganzes“ betrachtet werden muss. So sollte die Schmerztherapie optimal gestaltet werden, denn starke Schmerzen führen zu Appetitlosigkeit. Auch eine sehr gute antiemetische Therapie kann sich positiv auf die Nahrungsaufnahme auswirken. |

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