Arzneimittel und Therapie

Trocken werden

Empfehlungen zum Umgang mit Alkoholproblemen

Alkoholkonsum ist in Deutschland weitverbreitet und gesellschaftlich akzeptiert. Trotzdem ist Trinken kein harmloses Vergnügen. Alkohol ist an der Entstehung zahlreicher Krankheiten wie Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel-Erkrankungen beteiligt. Mehr als 3% der Erwachsenen in Deutschland gelten als alkoholabhängig. Die aktualisierte Leitlinie „Alkoholbezogene Störungen“ gibt Empfehlung zum Umgang mit schädlichem Alkoholkonsum und Alkoholabhängigkeit.

Durchschnittlich trinkt jeder Deutsche über 15 Jahren elf Liter reinen Alkohol im Jahr. Damit gehört Deutschland zu den führenden Nationen weltweit. Die „Spitzenposition“ hat ihren Preis: Alkoholkonsum und seine Folgen verursachen in Deutschland jährlich Kosten von mindestens 30 Milliarden Euro. Zudem sind täglich rund 200 Todesfälle durch zu hohen Alkoholkonsum zu beklagen. Dabei könnten nach Modellrechnungen knapp 2000 Leben jährlich gerettet werden, wenn die entsprechenden psycho- und pharmakotherapeutischen Angebote anstatt derzeit rund 10% etwa 40% der Betroffenen erreichen würden. Empfehlungen zum besseren Umgang mit alkoholbezogenen Störungen haben die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie in ihrer 2020 aktualisierten Leitlinie zusammengefasst.

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Wie viel ist zu viel?

Nach den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO kann ein Alkoholkonsum von bis zu 24 g Reinalkohol pro Tag bei Männern (entspricht etwa zwei Gläser Bier á 0,3 l) und bis zu 12 g pro Tag bei Frauen (etwa ein Glas Bier) und zwei abstinenten Tage pro Woche als risikoarm betrachtet werden. Da das individuelle Erkrankungsrisiko von gene­tischen und verschiedenen anderen Faktoren abhängt, gibt es keinen risiko­freien Konsum. Bei gesunden Erwachsenen gilt ein Alkoholkonsum, der über die genannten Grenzwerte hinausgeht, als schädlich. Bei Personen mit Vorerkrankungen, Kindern und Jugendlichen, Schwangeren und älteren Menschen ist die Grenze zum riskanten Konsum bereits früher überschritten. Das risikoreiche Rausch­trinken wird als Konsum von fünf (Männer) bzw. vier (Frauen) oder mehr alkoholischen Getränken bei einer Gelegenheit definiert. Folge ist oft die akute Intoxikation, also ein vorüber­gehender Zustand mit Störungen des Bewusstseins, kognitiver Funktionen, des Affekts, des Verhaltens oder andere psychophysiologischer Funktionen.

Diagnose: Alkoholabhängigkeit

Für die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit müssen mindestens drei der folgenden sechs Kriterien während eines Jahres gleichzeitig erfüllt sein:

  • ein starkes Verlangen oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren
  • Schwierigkeiten, die Einnahme zu kontrollieren (was den Beginn, die Beendigung und die Menge des Konsums betrifft)
  • ein körperliches Entzugssyndrom, wenn Alkoholkonsum reduziert oder abgesetzt wird
  • Toleranzentwicklung gegenüber den Alkoholwirkungen
  • fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten der Alkoholeinnahme
  • fortdauernder Alkoholgebrauch trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen

Sind bereits alkoholassoziierte Erkrankungen bekannt, sollten mögliche weitere Folgeerkrankungen (z. B. Pankreatitis) diagnostisch abgeklärt werden. Bei Patienten mit alkoholbezogenen Störungen sollte zudem ein Screening auf die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Persönlichkeitsstörungen vorgenommen werden.

21 Tage auf Entzug

Eine qualifizierte Entzugsbehandlung ist eine Akutbehandlung, die über die körperliche Entgiftung hinausgeht und in der Regel 21 Behandlungstage umfasst. Entzugssymptome beginnen etwa sechs bis acht Stunden nach Beendigung oder Reduktion des Alkoholkonsums und äußern sich in Hyperaktivität, Ängstlichkeit, Tremor, Schwitzen, Übelkeit, Erbrechen und einem erhöhten Sympathikustonus. Ihren Peak erreichen sie nach etwa zehn bis 30 Stunden, und sie enden nach etwa 40 bis 50 Stunden. Psychische Beschwerden klingen oft erst Wochen später ab. Etwa 5% der Betroffenen erleiden schwere Entzugssymptome in Form von epileptischen Anfällen oder einem Delir. Das Risiko steigt, wenn bereits in der Vergangenheit Entzüge durchgeführt wurden. Der Entzug sollte dann auf jeden Fall stationär erfolgen. Eine ambulante Entgiftung sollte nur von erfahrenen Ärzten durchgeführt werden, die engmaschige Kontrolluntersuchungen und eine sichergestellte 24-Stunden-­Erreichbarkeit anbieten können. Die rein körperliche Entgiftung reicht jedoch nicht aus, um eine Alkoholabhängigkeit erfolgreich zu behandeln. Wichtig ist, dass möglichst nahtlos weitere suchtmedizinische Angebote zur Verfügung stehen, um die Abstinenz zu stabilisieren. Liegen gleichzeitig psychische Störungen wie Psychosen, Depressionen oder bipolare Störungen vor, sollten beide Störungen integriert oder zumindest koordiniert behandelt werden. Als Behandlungsverfahren werden motivationale Interventionen und kognitive Verhaltens­therapie empfohlen. Bei gleichzeitig vorliegender Tabakabhängigkeit sollten Beratung und Unterstützung zum Rauchstopp angeboten werden.

Pharmaka helfen beim Entzug

Die Leitlinie empfiehlt, mittelschwere und schwere Alkoholentzugssymptome pharmakologisch zu behandeln. Zu den Behandlungsmöglichkeiten gehören vor allem der zeitlich begrenzte Einsatz von Benzodiazepinen oder Clomethiazol (s. Kasten), die auch das Risiko schwerer Entzugskomplikationen wie Delirien oder Entzugskrampfanfällen verringern. Clomethiazol sollte dabei wegen seines Abhängigkeitspotenzials nicht ambulant oder in Kombination mit Benzodiazepinen verabreicht werden. Bei leichten bis mittelschweren Entzugssymptomen helfen Antikonvulsiva oder eine Kombination aus Antikonvulsiva und dem Neuroleptikum Tiaprid. Bei eingeschränkter Leberfunktion sollten vorzugsweise Gabapentin oder Levetiracetam eingesetzt werden. Bei Halluzinationen oder Wahnsymptomen während des Entzugs können Benzodiazepine oder Clome­thiazol auch mit Antipsychotika (z. B. Haloperidol) kombiniert werden. Clonidin oder Betablocker lindern vegetative Entzugssymptome wie Schwitzen oder Zittern. Vom Einsatz von Baclofen, Gamma-Hydroxybuttersäure oder Alkohol als Medikament wird abgeraten.

Spezifische Pharmaka zum Alkoholentzug

Clomethiazol (Distraneurin®) verstärkt den inhibitorischen Effekt von GABA (γ-Aminobuttersäure) und Glycin und wirkt so sedierend, hypnotisch und antikonvulsiv gegen die verschiedenen Entzugssymptome. Es ist als Kapsel oder hochkonzentrierte Mixtur im Handel. Bei der Anwendung der Mixtur ist darauf zu achten, dass die Verdünnung nicht in einem kunststoffhaltigen Behälter erfolgt, da dieser den Wirkstoff adsorbieren kann. Aufgrund des hohen Abhängigkeitspotenzials und der stark variierenden Bioverfügbarkeit sollte der Wirkstoff langsam auftitriert werden. Besonders bei Personen japanischer Herkunft hat sich bei intravenöser Gabe eine um 30% reduzierte Clearance gezeigt.

Daneben werden Naltrexon (Adepend®), Acamprosat (Campral®) und Nalmefen (Selincro®) begleitend zu einer psychotherapeutischen Betreuung in der Postakutphase eingesetzt. Genauso wie Acamprosat dient Naltrexon zur Aufrechterhaltung der Abstinenz und soll den „Craving-Effekt“, d. h. das unstillbare Verlangen nach Alkohol unterbinden. Naltrexon bindet kompetitiv an Opioid-Rezeptoren und verhindert so, dass Opioide binden können. Es wird vermutet, dass auch beim Alkoholkonsum das endogene Opioidsystem stimuliert wird. Dagegen ähnelt die Struktur von Acamprosat der Struktur von Taurin und GABA. Als NMDA-Rezeptor-Antagonist reduziert es den Calcium-Einstrom in das Neuron. Anders als Naltrexon und Acamprosat, die nach einem festen Dosierschema angewandt werden, wird der Opioidmodulator Nalmefen nur bei Bedarf angewendet. Der Betroffene sollte dabei etwa ein bis zwei Stunden bevor er sich gefährdet fühlt, Alkohol zu trinken, eine Tablette einnehmen. Erste Behandlungsergebnisse sind in der Regel nach vier Wochen sichtbar.

Zur Behandlung von alkoholassoziierten peripheren Neuropathien können bei nachgewiesenem Mangel entsprechende B-Vitamine substituiert werden. Sind Analgetika erforderlich, sollten Wirkstoffe mit eigenem Suchtpotenzial möglichst vermieden werden.

Bei komorbiden psychischen Störungen soll eine leitliniengerechte Therapie der psychischen Störung in Kombination mit der Suchttherapie durchgeführt werden. Dafür sollten Wirkstoffe mit möglichst wenig anticholinergen und extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen ausgewählt werden. Bei Patienten mit bipolaren Störungen kann zusätzlich zur Lithiumtherapie Valproat eingesetzt werden, um Abstinenzchancen zur verbessern. Liegt neben der alkoholbezogenen Störung eine ADHS-Diagnose vor, sollten eher langwirksame Stimulanzien oder alternativ Atomoxetin oder Guanfacin gewählt werden. Hier sollte aufgrund möglicher Nebenwirkungen besonders auf kardiale Vorerkrankungen oder familiäre Risiken für kardiovaskuläre Erkrankungen geachtet werden.

Postakutbehandlung

Nach der Akutbehandlung sollte möglichst nahtlos die Postakutbehandlung folgen. Diese zielt darauf ab, die Funktions-, Leistungs- und Erwerbsfähigkeit der Betroffenen zu erhalten, zu verbessern oder wiederherzustellen und die Teilhabe am Arbeitsleben und in der Gesellschaft zu fördern. Sie kann in Form einer medizinischen Rehabilitation, einer medikamentösen Rückfallprophylaxe (vorzugsweise mit Naltrexon oder Acamprosat, alternativ Nalmefen, s. Kasten) oder in anderen Formen (z. B. als ambulante Psychotherapie) erfolgen. Primäres Therapieziel ist dabei die Abstinenz. Kann dieses Ziel nicht erreicht werden, sollte zumindest eine Reduktion des Konsums angestrebt werden, um weitere Schäden zu minimieren. |
 

Literatur

Fachinformation Adepend®, Stand: August 2018 Fachinformation Campral®, Stand: November 2019

Fachinformation Distraneurin®, Stand: August 2020

Fachinformation Selincro®, Stand: Februar 2019

Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht). AWMF-Register Nr. 076-001, Stand: Januar.2021

Apothekerin Sarah Rafehi

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