Arzneimittel und Therapie

Orale Krebstherapie - (k)ein schwieriges Unterfangen

Was die Apotheke zur Adhärenz der Patienten beisteuern kann

Die orale Tumortherapie stellt eine erhebliche Erleichterung für betroffene Patienten dar. Gleichzeitig ist aber auch eine gute Adhärenz der Patienten für den Therapieerfolg entscheidend. Doch wie hoch ist die Adhärenz bei dieser Patientengruppe tatsächlich, und wie viel Geld geht durch nicht eingenommene Medikamente verloren? Diesen ­Fragen sind französische Forscher nachgegangen.
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Auch zu Hause muss eine gute Adhärenz der Patienten bei der oralen Tumortherapie für den Therapieerfolg gewährleistet sein.

Dass Arzneimittel nur wirken, wenn Patienten sie regelmäßig und richtig anwenden, gilt ganz besonders in der Krebstherapie. Ein hohes Maß an Adhärenz ist nötig, um das Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern und das Überleben zu verlängern [1, 2, 3]. Gleichzeitig beinhaltet die Krebstherapie selbst etliche Faktoren, die hinderlich für die Adhärenz sein können, insbesondere komplexe Therapieschemata, das Auftreten unerwünschter Wirkungen oder auch die Angst davor. In der öffentlichen Apotheke können Maßnahmen ergriffen werden, die unerwünschte Wirkungen reduzieren und die Adhärenz erhöhen (s. Kasten „Beispiele für Adhärenz-fördernde Maßnahmen“) [4].

Beispiele für Adhärenz-fördernde Maßnahmen

Handhabung der Therapie erklären:

  • Wie viele Tabletten müssen eingenommen werden?
  • Wann und in welchem Abstand zum Essen müssen die Tabletten eingenommen werden?
  • Mit welchen Getränken/Lebensmitteln dürfen die Tabletten (nicht) eingenommen werden?

Hinweise für besondere Situationen:

  • Sind die Tabletten teilbar?
  • Was ist zu tun, wenn nach Einnahme erbrochen wird?
  • Was ist zu tun, wenn die Einnahme vergessen wurde?

Den Nutzen der Therapie erklären:

  • Was kann der Patient durch die Therapie erreichen?

Nebenwirkungen erklären:

  • Welche Maßnahmen können zur Prävention ergriffen werden?
  • Auf welche Anzeichen muss geachtet werden?
  • Welche Maßnahmen können zur Linderung /Therapie der Nebenwirkungen ergriffen werden?
  • Wann sollte der Patient sich an den Arzt oder Apotheker wenden?

Schriftliche Einnahmehinweise und -pläne können dafür sorgen, dass Krebspatienten ihre Therapie besser „im Griff“ haben. Sie lassen sich beispielsweise mithilfe der DGOP-Oralia-Datenbank (www.esop-oralia.eu/) erstellen.

Eine aktuelle Studie [5] hat sich der Frage gewidmet, wie viele Patienten mit oraler Krebstherapie als adhärent eingestuft werden können und wie groß die Kosten sind, die durch nach dem Tod des Patienten unverbrauchte Arzneimittel entstehen.

Drei Viertel der Patienten scheinen adhärent zu sein

Es handelt sich um eine retrospektive Beobachtungsstudie [5] aus Frankreich, in der Krankenversicherungsdaten aus 1,5 Jahren ausgewertet wurden. Eingeschlossen wurden Patienten über 18 Jahre, die mindestens eine Verordnung eines oralen Medikamentes mit onkologischer Indikation eingelöst hatten. Schlussendlich wurden 10.734 Patienten, die zum größten Teil 60 bis 69 Jahre alt waren, in die Analyse eingeschlossen. Drei Viertel davon waren Frauen. Als Präparate mit onkologischer Indikation wurden klassische zytotoxische, Hormon- und zielgerichtete Wirkstoffe gezählt. In die Auswertung gingen 120.472 in öffentlichen Apotheken eingelöste Verordnungen im Gesamtwert von etwas über 51 Millionen Euro ein. Die Adhärenz wurde in Form der sogenannten „Medication Possession Ratio“ (MPR, s. Kasten) bestimmt.

MPR – Berechnung der Adhärenz

Die Medication Possession Ratio (MPR) ist der Quotient aus der Zahl der Tage, für die der Patient das Medikament erhalten hatte, und der Zahl der Tage zwischen der ersten und letzten Einlösung einer Verordnung. Sie liegt ­typischerweise zwischen 0 und 1.Die Zahl der Tage, für die der Patient das Medikament erhalten hat, wurde aus den verordneten Packungsgrößen zusammen mit der Standarddosierung in der Hauptindikation des Arzneimittels ermittelt. Für Wirkstoffe, die anhand der Körperoberfläche dosiert werden, wurde die Standard-Oberfläche von 1,73 m² eingesetzt. Bei zyklisch gegebenen Wirkstoffen wurden die Therapiepausen berücksichtigt. Anhand der MPR wurden die Patienten als adhärent (MPR ≥ 0,8) oder non-adhärent (MPR < 0,8) eingestuft.

Die mittlere Behandlungsdauer je Patient betrug 356 Tage (Spannweite 5 bis 545). Eine endokrine Therapie in Form von 14 verschiedenen Wirkstoffen wurde mit im Schnitt 387 Tagen am längsten durchgeführt, eine zytotoxische (13 Wirkstoffe) und eine zielgerichtete Therapie (19 Wirkstoffe) dauerte im Schnitt 246 bzw. 269 Tage. Drei Viertel der Patienten wurden anhand der Verordnungsdaten als adhärent eingestuft, bei 42% betrug die MPR sogar 1,0. Unter den Patienten mit einer endokrinen oralen Krebstherapie galten 84% als adhärent. Unter einer zielgerichteten oralen Therapie lag dieser Anteil bei 64% und unter ­denen mit einer zytotoxischen Therapie bei 43%.

Braucht es da überhaupt Adhärenz-Förderung?

Die Limitationen dieser Art der Auswertung liegen auf der Hand: Dass der Patient über einen definierten Zeitraum im Besitz einer passenden Menge an Arzneimitteln war, ist zwar eine Voraussetzung, aber keine Garantie dafür, dass er das Arzneimittel jeden einzelnen Tag zur richtigen Zeit und auf die richtige Art (zum Beispiel hinsichtlich notwendiger Abstände zu Mahlzeiten) angewendet hat. Um aus der Verordnung die theoretische Reichweite der Arzneimittelpackung zu ermitteln, wurden bei der Berechnung des MPR zum Teil Standardisierungen (s. Kasten „MPR“) vorgenommen. Unter Umständen werden diese jedoch nicht allen Patienten gerecht. Zudem werden bei dieser Form der Adhärenzmessung auch Therapie-Anpassungen nicht berücksichtigt und können somit nicht in die Ermittlung der Reichweite einbezogen werden. Der Vorteil der Methode liegt dafür in der großen Zahl an Daten, die in die Auswertung eingehen, und der Vermeidung von Überschätzungstendenzen, die bei jeglicher Selbstauskunft der Patienten zur Adhärenz unausweichlich sind.

Im Ergebnis deckt sich die Studie mit einem systematischen Review, in dem Adhärenzraten zwischen 40 und 100% gefunden wurden [6]. Aus der Studie lässt sich also nicht schließen, dass Bemühungen um die Stärkung der Adhärenz in der oralen Krebstherapie nicht notwendig wären. Das gilt ganz besonders für die zielgerichteten und die zytotoxischen Therapien, bei denen der Anteil als adhärent eingestufter Patienten deutlich niedriger war als in der endokrinen Therapie.

Und die Kosten?

Außerdem ermittelten die Forscher die Kosten für Arzneimittel, die nach dem Tod des Patienten nicht mehr verbraucht wurden. Diese berechneten sie anhand der Zahl der Tage, für die die 1631 während der Studie verstorbenen Patienten das Medikament bei der letztmaligen Verordnung erhalten hatten, abzüglich der Tage, an denen der Patient nach diesem Datum noch lebte. Die Kosten hierfür lagen insgesamt etwas über 152.000 Euro. Der weitaus größte Anteil hiervon wurde durch die neueren und daher teureren zielgerichteten Wirkstoffe verursacht, und zwar knapp 114.000 Euro.

Kosten durch nicht genutzte Arzneimittel entstehen nicht nur am Lebensende, sondern können auch zwischendurch bei Dosisänderungen ausgelöst werden. Das geschieht immer dann, wenn für die neue Dosis eine neue Stärke verordnet werden muss. Zudem stellen natürlich auch Arzneimittel, die nicht eingenommen werden und beim Patienten liegen bleiben, vermeidbare Kosten dar. Diese Form der Kosten konnte in der hier vorgestellten Auswertung der Versicherungsdaten nicht erhoben werden.

Eine Adhärenz-fördernde Beratung zur oralen Krebstherapie in der Apotheke ist immer wünschenswert, sowohl hinsichtlich des Therapieergebnisses für den einzelnen Patienten als auch für die Kosteneffizienz in der Krebstherapie. |

Literatur

[1] Ganesan P, Sagar TG, Dubashi B, Rajendranath R, Kannan K, Cyriac S, Nandennavar M. Nonadherence to imatinib adversely affects event free survival in chronic phase chronic myeloid leukemia. Am J Hematol. 2011;86:471–4. doi:10.1002/ajh.22019

[2] Marin D, Bazeos A, Mahon F-X, Eliasson L, Milojkovic D, Bua M, et al. Adherence is the critical factor for achieving molecular responses in patients with chronic myeloid leukemia who achieve complete cytogenetic responses on imatinib. J Clin Oncol. 2010;28:2381–8. doi:10.1200/JCO.2009.26.3087

[3] Yun J-A, Kim HC, Son H-S, Kim HR, Yun HR, Cho YB, et al. Oncologic outcome after cessation or dose reduction of capecitabine in patients with colon cancer. J Korean Soc Coloproctol. 2010;26:287–92. doi:10.3393/jksc.2010.26.4.287

[4] Colombo LRP, Aguiar PM, Lima TM, Storpirtis S. The effects of pharmacist interventions on adult outpatients with cancer: A systematic review. J Clin Pharm Ther. 2017;42:414–24. doi:10.1111/jcpt.12562

[5] Matti N, Delon C, Rybarczyk-Vigouret M-C, Khan GM, Beck M, Michel B. Adherence to oral anticancer chemotherapies and estimation of the economic burden associated with unused medicines. Int J Clin Pharm. 2020;42:1311–8. doi:10.1007/s11096-020-01083-4

[6] Bassan F, Peter F, Houbre B, Brennstuhl MJ, Costantini M, Speyer E, Tarquinio C. Adherence to oral antineoplastic agents by cancer patients: definition and literature review. Eur J Cancer Care (Engl). 2014;23:22–35. doi:10.1111/ecc.12124

Apothekerin Dr. Dorothee Dartsch

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