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Hintergrund
Nur Liefer- oder schon Versorgungsengpässe?
Eine Analyse der Arzneimitteldefekte in der zweiten Jahreshälfte 2019
Bei insgesamt 340,4 Mio. zulasten der GKV abgegebenen Arzneimitteln haben die Apotheken im zweiten Halbjahr 2019 folglich in knapp 23 Mio. Fällen die Sonder-PZN 02567024 mit entsprechendem Faktor 2 bis 9 auf das Rezept gedruckt: Das waren monatlich rund 200 Störfälle pro Apotheke. Dabei haben diese dokumentierten Nichterfüllungsgründe (NEG, s. Seite 63) in letzter Zeit an Fahrt zugelegt (auf gut 6,9 Prozent im vierten Quartal 2019).
Sonderkennzeichen/Sonder-PZN 02567024
Bei einem dokumentationsfähigen Nichterfüllungsgrund („Störfall“) sollte in der Apotheke die Sonder-PZN 02567024 verwendet werden, die dann in Kombination mit dem entsprechenden Faktor (NEG) auf das Rezept gedruckt wird. Dabei sind folgende Faktoren zu verwenden:
- NEG 2: Rabattarzneimittel nicht lieferbar
- NEG 3: Vier preisgünstigste Arzneimittel oder preisgünstige Importarzneimittel nicht lieferbar
- NEG 4: Rabattarzneimittel und vier preisgünstigste Arzneimittel nicht lieferbar oder Rabattarzneimittel und preisgünstige Importarzneimittel nicht lieferbar
- NEG 5: Akutversorgung/Notdienst: Rabattarzneimittel nicht lieferbar
- NEG 6: Akutversorgung/Notdienst: Rabattarzneimittel und vier preisgünstigste Arzneimittel nicht lieferbar oder Rabattarzneimittel und preisgünstige Importarzneimittel nicht lieferbar
- NEG 7: Wunscharzneimittel
- NEG 8: Sonstige/Pharmazeutische Bedenken bezüglich des Rabattarzneimittels
- NEG 9: Sonstige/Pharmazeutische Bedenken bezüglich des Rabattarzneimittels und der vier preisgünstigsten Arzneimittel oder bezüglich des Rabattarzneimittels und der preisgünstigen Importarzneimittel
Bei der Zuordnung der abgegebenen Arzneimittel nach der aktuellen ATC-Klassifikation wird deutlich, dass von den Störfällen die Arzneimittel der ATC-Klassen J (Antiinfektiva zur systemischen Anwendung, mit gut 12 NEG von 100 abgegebenen Arzneimitteln), M (Muskel- und Skelettsystem, mit fast 11 von 100), L (antineoplastische und immunmodulierende Mittel, mit annähernd 10 von 100) und B (Blut und blutbildende Organe, mit 9 von 100) besonders betroffen waren. In diese Tabelle aufgenommen worden sind zusätzlich die Arzneimittel der absatzstarken ATC-Klassen N (Nervensystem, mit weit über 10 Mio. Verordnungen pro Monat) und – wegen der Sartane – C (kardiovaskuläres System, mit durchschnittlich 15,5 Mio. Verordnungen pro Monat), sowie die Gesamtmenge aller zulasten der GKV abgegebenen, „ATC-klassifizierten“ Arzneimittel (s. Tab. 1).
ATC-Klassifikation | Abgeg. AM in Tsd. | Störfälle (NEG) in Tsd. | ||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | insges. | ||
J Antiinfektiva zur systemischen Anwendung | 20.330 | 367,6 | 267,1 | 120,3 | 986,0 | 659,6 | 0,6 | 31,8 | 61,3 | 2.494,3 |
M Muskel- und Skelettsystem | 23.860 | 1.549,4 | 185,5 | 299,0 | 207,6 | 182,6 | 3,4 | 83,6 | 85,9 | 2.597,0 |
L Antineoplastische und immunmodulierende Mittel | 2.946 | 54,9 | 139,3 | 25,3 | 5,3 | 11,0 | 0,3 | 10,0 | 34,7 | 280,9 |
B Blut und blut-bildende Organe | 14.555 | 103,4 | 663,6 | 92,8 | 28,3 | 74,4 | 86,7 | 52,7 | 205,5 | 1.307,4 |
N Nervensystem | 65.141 | 1.939,1 | 331,3 | 1.068,8 | 287,6 | 307,2 | 10,0 | 257,1 | 448,2 | 4.649,3 |
C Kardiovaskuläres System | 93.290 | 1.980,3 | 608,6 | 1.752,8 | 125,2 | 167,7 | 28,7 | 252,9 | 335,5 | 5.251,7 |
Insgesamt | 340.413 | 6.996,9 | 4.949,9 | 3.962,6 | 2.142,7 | 2.109,7 | 141,2 | 951,9 | 1.683,8 | 22.938,6 |
ATC-Klassifikation | Abgeg. AM in Tsd. | Störfälle (NEG) in Prozent | ||||||||
2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | insges. | ||
J Antiinfektiva zur systemischen Anwendung | 20.330 | 1,81% | 1,31% | 0,59% | 4,85% | 3,24% | 0,00% | 0,16% | 0,30% | 12,27% |
M Muskel- und Skelettsystem | 23.860 | 6,49% | 0,78% | 1,25% | 0,87% | 0,77% | 0,01% | 0,35% | 0,36% | 10,88% |
L Antineoplastische und immunmodulierende Mittel | 2.946 | 1,86% | 4,73% | 0,86% | 0,18% | 0,38% | 0,01% | 0,34% | 1,18% | 9,53% |
B Blut und blut-bildende Organe | 14.555 | 0,71% | 4,56% | 0,64% | 0,19% | 0,51% | 0,60% | 0,36% | 1,41% | 8,98% |
N Nervensystem | 65.141 | 2,98% | 0,51% | 1,64% | 0,44% | 0,47% | 0,02% | 0,39% | 0,69% | 7,14% |
C Kardiovaskuläres System | 93.290 | 2,12% | 0,65% | 1,88% | 0,13% | 0,18% | 0,03% | 0,27% | 0,36% | 5,63% |
Insgesamt | 340.413 | 2,06% | 1,45% | 1,16% | 0,63% | 0,62% | 0,04% | 0,28% | 0,49% | 6,74% |
Quelle: INSIGHT Health und eigene Berechnungen |
Rabattarzneimittel nicht verfügbar
Die meisten Störfälle wurden verursacht, weil das laut Rahmenvertrag zur Abgabe anstehende rabattbegünstigte Arzneimittel nicht abgegeben werden konnte, gekennzeichnet mit der Sonder-PZN 02567024 und dem Nichterfüllungsgrund 2 (Rabattarzneimittel nicht verfügbar). Diese Sonder-PZN mit NEG 2 musste im Untersuchungszeitraum fast 7 Mio. Mal vergeben werden. Das entspricht einer Quote von annähernd 2,1 Prozent. Dabei bezieht sich diese Quote auf alle zulasten der GKV abgegebenen Arzneimittel, also auch auf jene gut 38 Prozent des Absatzmarktes, die zum Zeitpunkt der vorliegenden Analyse keinem Rabattvertrag unterlagen.
Nicht verfügbar waren im Untersuchungszeitraum insbesondere Rabattarzneimittel der ATC-Klassen M (Muskel- und Skelettsystem, mit 6,5 Prozent) und N (Nervensystem, mit 3,0 Prozent). Ein Blick in die Untergruppen verdeutlicht, dass bei der Nichtverfügbarkeit von Rabattarzneimitteln in der ATC-Klasse J (systemische Antiinfektiva) die systemischen Virustatika mit monatlich rund 100.000 abgegebenen Packungen, mit 10,0 Prozent eine auffällig negative Ausprägung besessen haben (nicht dargestellt).
Noch bedenklicher sah es bei bestimmten Sartanen (ATC-Klasse C, kardiovaskuläres System) aus. So musste bei Telmisartan im Dezember 2019 jede dritte Verordnung auf dem Rezept entsprechend gekennzeichnet werden (s. Tab. 2). Gerade bei diesem Wirkstoff dürfte die Entwicklung der letzten drei Monate (Oktober: 7,3 Prozent; November 18,2 Prozent und Dezember 33,3 Prozent) – insbesondere mit Blick auf die betroffenen Patienten – sehr nachdenklich stimmen.
2019 | Abgeg. AM | NEG 2 – Rabatt-AM nicht verfügbar | NEG 4 – Rabatt-AM und preisg. AM bzw. Import nicht verfügbar | ||
---|---|---|---|---|---|
in Tsd. | in Tsd. | in % | in Tsd. | in % | |
Juli | 97,5 | 4,0 | 4,13% | 1,2 | 1,24% |
August | 86,7 | 5,1 | 5,88% | 0,4 | 0,43% |
September | 83,7 | 2,9 | 3,51% | 0,2 | 0,28% |
Oktober | 96,5 | 7,1 | 7,31% | 0,8 | 0,81% |
November | 98,2 | 17,8 | 18,16% | 2,4 | 2,49% |
Dezember | 92,3 | 30,7 | 33,27% | 4,8 | 5,20% |
2. Halbjahr | 554,9 | 67,6 | 12,19% | 9,8 | 1,77% |
Quelle: INSIGHT Health und eigene Berechnungen |
Import gelistet – aber nicht verfügbar
Bei Telmisartan gibt es einen weiteren Aspekt, der Anlass zur Sorge bereitet. So nahm auch der Anteil der Telmisartan-Verordnungen mit Nichterfüllungsgrund 4 (Rabattarzneimittel und die vier preisgünstigsten Arzneimittel oder Rabattarzneimittel und die preisgünstigsten Importarzneimittel nicht verfügbar) in den letzten Monaten sprunghaft zu (s. Tab. 2). Ein Blick in die Einzeldaten zeigt, dass einzelne Importeure dieses Mittel zwar in der ABDA-Datenbank gelistet hatten, davon aber so gut wie keine Packungen abgegeben wurden bzw. werden konnten. Es ist stark zu vermuten, dass das entsprechende Importarzneimittel im Markt nicht verfügbar bzw. im Sinne des Rahmenvertrages nicht preiswert war. … Das (offensichtliche) Verhalten einzelner Importeure, temporär so gut wie nicht verfügbare bzw. im Sinne des Rahmenvertrages nicht preiswerte Arzneimittel weiter in der ABDA-Datenbank zu listen, führt in den Apotheken zu einem zusätzlichen Aufwand (ohne positives Ergebnis), der einerseits die betroffenen Patienten weiter verunsichern kann, und andererseits den Apotheken nicht einmal vergütet wird. (Auch) hier besteht offensichtlich dringender Handlungsbedarf. Candesartan ist ein besonders eklatantes Beispiel für obige Vermutung mit Blick auf den Nichterfüllungsgrund 4 (s. Tab. 3). Auch bei diesem Mittel gibt die Entwicklung der letzten Monate Anlass zu Sorge.
2019 | Abgeg. AM | NEG 2 – Rabatt-AM nicht verfügbar | NEG 4 – Rabatt-AM und preisg. AM bzw. Import nicht verfügbar | ||
---|---|---|---|---|---|
in Tsd. | in Tsd. | in % | in Tsd. | in % | |
Juli | 1.138,2 | 46,0 | 4,05% | 43,4 | 3,81% |
August | 1.050,0 | 62,3 | 5,94% | 91,3 | 8,70% |
September | 1.029,6 | 45,7 | 4,44% | 114,7 | 11,14% |
Oktober | 1.146,9 | 64,9 | 5,66% | 201,1 | 17,54% |
November | 1.161,7 | 62,3 | 5,37% | 317,6 | 27,34% |
Dezember | 1.119,1 | 73,2 | 6,54% | 281,8 | 25,18% |
2. Halbjahr | 6.645,5 | 354,5 | 5,34% | 1.050,0 | 15,80% |
Quelle: INSIGHT Health und eigene Berechnungen |
Rabattarzneimittel und preiswerte Alternativen im Sinne des Rahmenvertrages nicht verfügbar
Bei Candesartan wurden im zweiten Halbjahr 2019 durchschnittlich mehr als 1,1 Mio. Packung pro Monat zulasten der GKV abgegeben. Und dort war in mehr als 21 Prozent der Fälle das zur Abgabe anstehende Rabattarzneimittel (und/ oder das entsprechende preisgünstige Importarzneimittel) nicht verfügbar (NEG 2 und NEG 4). Im November und Dezember lag der Wert sogar weit über 30 Prozent! – oder in absoluten Zahlen: Das zur Abgabe anstehende Rabattarzneimittel (und/oder das entsprechende preisgünstige Importarzneimittel) war im Durchschnitt dieser zwei Monate rund 367.500 Mal defekt. Ein augenfälliges Beispiel für das Problem mit den Lieferengpässen für Apotheken. Betroffene Patienten sehen darin – nachvollziehbar – noch eher einen Versorgungsengpass bzw. -notstand. Diese Versorgungsprobleme scheinen aktuell auch – zumindest rudimentär – bei der Politik angekommen zu sein. Die Klassen M (Muskel- und Skelettsystem) und N (Nervensystem) führen die Rangliste der nicht verfügbaren Rabattarzneimittel (mit NEG 2 bzw. NEG 4) innerhalb der ATC-Klassen mit 7,7 Prozent (M) und 4,6 Prozent (N) an. Bezogen auf den Gesamtmarkt konnte in gut 3,2 Prozent der Fälle (bzw. fast 11 Mio. Mal) das zur Abgabe anstehende Rabattarzneimittel (bzw. das entsprechende preisgünstige Importarzneimittel) den betroffenen Patienten im zweiten Halbjahr 2019 nicht übergeben werden, weil es nicht verfügbar war. Nur auf die (von den Apotheken abgegebenen) rabattbegünstigten Arzneimittel gerechnet entspricht das einer Quote von mehr als 5,2 Prozent. Bereits an dieser Stelle muss deshalb konstatiert werden: Im Untersuchungszeitraum war mindestens jedes zwanzigste rabattbegünstigte Arzneimittel nicht verfügbar.
Vier preisgünstigste Vergleichs- und preisgünstiges Import-Arzneimittel nicht verfügbar
Die Arzneimittel, an deren Stelle weder eines der vier preisgünstigsten Vergleichsarzneimittel noch ein preisgünstiges Importarzneimittel abgegeben werden konnte (NEG 3), erreichten im Untersuchungszeitraum mit gut 1,45 Prozent, oder knapp 5 Mio. Medikamenten, den zweiten Platz in der Rangfolge der Faktoren-Analyse. Die meisten prozentualen Störfälle verzeichneten innerhalb der ATC-Klassifikation hier die antineoplastischen und immunmodulierenden Mittel (ATC-Klasse L) mit 4,73 Prozent, dicht gefolgt von den Arzneimitteln zur Behandlung von Blut und blutbildenden Organen (ATC-Klasse B, mit 4,56 Prozent). Das waren in dieser Klasse B und in diesem Fall (NEG 3) immerhin knapp 663,6 Tausend nicht verfügbare Arzneimittel. In der ATC-Klasse R (Respirationssystem) lag der Nichtverfügbarkeitswert mit fast 745 Tausend Mitteln noch deutlich höher; wegen des relativ hohen Marktanteils (von gut 22,2 Mio. abgegebenen Arzneimitteln im zweiten Halbjahr 2019) fiel die Quote mit 3,35 Prozent allerdings niedriger aus als in den zwei vorher genannten Klassen.
Ähnlich hoch lag der Nichtverfügbarkeitsanteil (NEG 3) bei der fixen Wirkstoffkombination von Valsartan mit Hydrochlorothiazid in Höhe von 3,36 Prozent. Aufgrund der vorliegenden Abrechnungsdaten bleibt auch in diesem Fall nur die starke Vermutung, dass (einzelne) Importeure temporär so gut wie nicht verfügbare Arzneimittel weiter in der ABDA-Datenbank gelistet haben, obwohl sie nicht bzw. nur äußerst begrenzt lieferfähig im Sinne des Rahmenvertrages sind.
Fazit
Die Apothekenmitarbeiter jedenfalls, das zeigen die Daten, tun ihr Bestes, um die ihnen im öffentlichen Interesse aufgetragene Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung auch unter zunehmend schwierigeren Bedingungen zu gewährleisten. So setzt z. B. die Dokumentation eines Störfalles voraus, dass der Patient in der Vergangenheit mit einem (anderen, gleichwertigen) Arzneimittel versorgt werden konnte und zu dem „neuen“ Arzneimittel beraten werden musste. Was bisher fehlt, ist eine angemessene Honorierung dieser Arbeit. Nicht dokumentiert sind dagegen jene Fälle, in denen die Apotheke das verordnete (oder ein gleichwertiges) Arzneimittel nicht beschaffen konnte, weil das Medikament schlicht nicht verfügbar war. In diesen Fällen ist es also möglicherweise zu einem Versorgungsnotstand gekommen, der nicht beurkundet wurde. Auch deshalb wäre es aus Gründen der Versorgungssicherheit (und -qualität) zumindest für die Zukunft angezeigt, jene Fälle zu dokumentieren, in denen der Patient sein Arzneimittel nicht erhält oder der Arzt mithilfe einer „Ersatzverordnung“ ein anderes als das ursprünglich verordnete Medikament rezeptieren muss.
Wer nach dieser Analyse noch glaubt, dass es in Deutschland keine Versorgungsengpässe bei lebensnotwendigen Arzneimitteln gibt, hat die Zeichen der Zeit wohl nicht erkannt. |
Der Autor dankt Insight Health für die umfassende und zuverlässige Zurverfügungstellung der Daten.
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