Feuilleton

Kennen Sie Beethovens Bruder?

Das bewegte Leben zweier ungleicher Geschwister – der eine Komponist, der andere Apotheker

Ludwig van Beethoven gehört zweifelsohne zu den weltweit berühmtesten Musikern des klassischen Genres. Die „Ode an die Freude“ im vierten Satz seiner neunten Sinfonie berührt wohl jeden Menschen, der sie hört. Doch eher unbekannt ist Ludwigs Bruder Johann Nikolaus. Das diesjährige Beethovenjahr anlässlich des 250. Tauftages des unübertroffenen Tonkünstlers am 17. Dezember sollte – vor allem für Pharmazeuten – daher Anlass sein, sich die Vita von Johann Nikolaus van Beethoven genauer anzusehen, denn dieser war Apotheker. | Von Walter A. Ried

Bei beiden Beethoven-Brüdern ist zwar das genaue Geburtsdatum nicht bekannt, dafür aber der jeweilige Tauftag, der stets kurz nach der Geburt anzusetzen ist. Bei Ludwig ist das der bereits erwähnte 17. Dezember 1770 und bei seinem jüngeren Bruder Johann Nikolaus hält das Taufregister der Remigius-Kirche in Bonn den 2. Oktober 1776 fest.

Foto: Wien Museum, Inv.-Nr. 48247
Johann Nikolaus van Beethoven, jüngster Bruder des bekannten Komponisten.

Johann Nikolaus war das vierte von insgesamt sieben Kindern der Familie. Aber nur er erreichte neben Ludwig und dem 1774 geborenen Bruder Caspar Carl das Erwachsenenalter. Weil die Mutter 1787 gerade einmal 41-jährig an Schwindsucht verstorben war und der fünf Jahre später verschiedene Vater alkoholbedingt die Kinder kaum mehr versorgen konnte, sprang der erst 17 Jahre alte Ludwig mit dem Tod der Mutter quasi als Ersatzvater für seine Brüder ein.

Lehrling in der Kurfürstlichen Apotheke

Wahrscheinlich 1790 begann der 14-jährige Johann Nikolaus seine pharmazeutische Ausbildung in der Kurfürstlichen Hofapotheke seiner Heimatstadt. Nachdem die Franzosen während der Revolutionskriege ab Oktober 1794 Bonn okkupiert hatten, forderten die Besatzer zur Versorgung ihrer zahlreichen Verwundeten zusätzlich einheimische Ärzte und Apotheker an. Der fast fertig ausgebildete Apothekengehilfe stand so ab März 1795 als Apotheker 3. Klasse in Diensten der französischen Armee. Im September desselben Jahres beantragte er dann einen Reisepass, um nach Wien überzusiedeln. Dorthin war Ludwig bereits 1792 für immer gezogen, um sich musikalisch weiterzubilden.

Bevor Johann Nikolaus Ende 1795 mit einem französischen Apothekengehilfendiplom, das ihm in seinem späteren Berufsleben noch einmal von großem Nutzen sein sollte, im Gepäck ausreisen konnte, war er noch kurzzeitig in der Einhorn-Apotheke in Linz am Rhein rund 25 Kilometer südlich von Bonn angestellt. Auch dieser Ort war inzwischen in französischer Hand.

In Wien angelangt, startete der junge Bonner als sogenanntes Subject in der heute noch existierenden „Apotheke zum Heiligen Geist“ unweit der Wiener Staatsoper seine erfolgreiche Karriere. Bruder Ludwig schickte ihm im Februar 1796 aus Prag einen Brief zur Begrüßung. Darin heißt es: „Ich hoffe daß dier dein Aufenthalt in Wien immer besser gefallen wird. Nim dich nur in Acht vor der ganzen Zunft der schlechten Weiber. (…). Übrigens ­wünsche ich, daß du immer glücklicher leben mögest, und ich wünsche etwas dazu beytragen zu können. Leb wohl lieber Bruder, und denke zuweilen an deinen wahren treuen Bruder. L. V. Beethoven.“

An seiner ersten Arbeitsstelle verblieb das „Subject“ fast vier Jahre. Nächste Station war die Apotheke „Zum Biber“ in der Wiener Vorstadt Roßau. 1801 war es dann so weit: Am 27. März legte Johann Nikolaus sein Abschlussexamen mit der Gesamtnote „bene“ als Apotheker ab, das ihm ab sofort das eigenständige Führen einer Apotheke erlaubte. Zwei Jahre danach bewarb er sich beim „Löbl. Magistrat der K.K. Haupt und Residenz Stadt Wien“ um die Übernahme der Apotheke „Zum Guten Hirten“. Folgende Punkte, die für ihn sprachen, betonte Johann Nikolaus in seinem Bewerbungsschreiben: Dass er in der jetzigen Apotheke in der Roßau mit „Treue, Fleiß und Pflichterfüllung konditioniere“, dass er 1801 „die Prüfung aus allen in seiner Kunst einschlagenden Zweigen auf hiesiger Universität gemacht“, und das „gehörige Diplom erworben“ habe, dass er zudem „nebst der deutschen, auch der lateinischen und französischen Sprache mächtig“ sei und last not least, dass er „die bei der Unternehmung oder Einrichtung einer Apotheke erforderlichen Ausgaben bestreiten könne“. Doch trotz seiner guten Argumente kam er nicht in die engere Auswahl.

Foto: Franz Steiner Verlag

Reklame-Postkarte der Linzer Apotheke, Künstler Karl Russ

Erfolgreich in Linz

Erst im März 1808 erreichte Johann Nikolaus sein Ziel, eine eigene Apotheke zu führen, als er die „Apotheke zur goldenen Krone“ samt „bürgerlicher Behausung“ für 25.000 Gulden im oberösterreichischen Linz erwerben konnte. Bald nach Übernahme der Apotheke spielten ihm die politischen Umstände in die Hände, denn im Frühjahr 1809 besetzten die Franzosen Linz. Jetzt nutzte er die Gunst der Stunde und schloss schnell mit den Besatzern, in deren Umgang er bereits aus seiner Bonner Lehrzeit gut geübt war, lukrative Kontrakte ab, um diese mit Arzneimitteln und Verbandmaterial zu beliefern. So konnte er zügig den zum Kauf der Apotheke aufgenommenen Kredit auslösen. ­Seinem einstigen Chef aus Linz am Rhein schrieb er 1812: „Ich bin seit 4 Jahren schon hier, Herr von einem großen Haus und Eigenthümer einer sehr guten Apotheke, habe ­keine Schulden mehr, und habe noch etwas übrig, bin noch ledig und habe auch noch keine Lust zu heyrathen.“ Kein Wunder, dass Johann Nikolaus in Linz wohl nicht ganz zu Unrecht als Kriegsgewinnler galt. Neidisch schauten nicht wenige seiner Berufskollegen auf den rasch wohlhabend gewordenen Neuankömmling. Im selben Jahr am 8. November heiratete er dann doch noch und zwar seine 25 Jahre alte Haushälterin Therese Obermayr, eine Bäckerstochter aus Wien.

Bruder Ludwig, der die Verbindung überhaupt nicht guthieß, war deswegen sogar im Oktober 1812 eigens aus Wien angereist, um seinen Bruder noch umzustimmen, was ihm aber letztlich nicht gelang. Wütend verließ der Musiker daraufhin Linz, den Kontakt zu seinem „Pseudobruder“, wie er Johann Nikolaus jetzt bezeichnete, für längere Zeit abbrechend.

Stolzer Gutsbesitzer

Nach Abzug der Franzosen belieferte Johann Nikolaus ab 1814 die einrückenden österreichischen Truppen. Ende 1816 verkaufte er dann seine nach wie vor florierende Apotheke im Zentrum von Linz. Dafür eröffnete er jetzt in dem kleinen Ort Urfahr, der vis-à-vis von Linz auf der anderen Donauseite liegt und seit 1919 ein Ortsteil von Linz ist, eine neue Apotheke, der er den Namen „Zum Goldenen Adler“ gab. Die Beweggründe, warum er seine gut gehende Pharmazie in Linz verkauft hatte, sind nicht bekannt. Vielleicht wollte er endlich aus dem direkten Blickfeld seiner argwöhnischen Kollegen treten, denn in Urfahr führte er die einzige Apotheke am Ort.

Pekuniär mittlerweile gut gestellt, erwarb er 1819 ein Landgut in Gneixendorf bei Krems an der Donau für 20.000 Gulden. Dazu zählten zwei Immobilien: Zum einen der schlossartige im 17. Jahrhundert erbaute Wasserhof, zum anderen der Trautingerhof. Johann Nikolaus richtete sich mit seiner Gattin im Wasserhof ein, während er die Gutsökonomie verpachtete. Seitdem verbrachten die Beethovens den Sommer gerne in ihrem neuen, recht repräsentativen Domizil. Johann ­Nikolaus van Beethoven nannte sich nunmehr stolz „Gutsbesitzer“. Gerne wird die Anekdote zitiert, dass Ludwig, nachdem er von Johann Nikolaus einen mit „Von deinem Bruder Johan, Gutsbesitzer“ unterzeichneten Brief erhalten hatte, seine Rückantwort mit „Von deinem Bruder Ludwig, Hirnbesitzer“ signierte. Den Winter über zog es Johann Nikolaus mit seiner Gattin hingegen häufig zur Verwandtschaft nach Wien. Hier waren sie mittlerweile im Besitz einer Zweitwohnung in Thereses Elternhaus. 1823 mietete Johann Nikolaus für seinen Bruder Ludwig zusätzlich eine Wohnung im Nachbarhaus an. Schon seit Längerem kümmerte sich der jüngere verstärkt um seinen älteren Bruder, dessen Gesundheit immer mehr zu wünschen übrig ließ. So hatte insbesondere seine Schwerhörigkeit stetig zugenommen. Doch nicht nur in gesundheitlicher Hinsicht, sondern auch in finanziellen Angelegenheiten beriet und unterstützte Johann Nikolaus als gewiefter Geschäftsmann seinen primär künstlerisch begabten Bruder. Dazu zählten Verhandlungen mit Musikverlegern und Auftraggebern von Kompositionen. Im Gegensatz zu Johann Nikolaus plagten Ludwig sein Leben lang finanzielle Sorgen, wenn auch diese teilweise übertrieben waren. So soll von ihm der berühmte Ausspruch stammen: „Alle Noten, die ich mache, bringen mich nicht aus den Nöthen!“

Für Wohnung und Kleidung gab Ludwig nur wenig Geld aus. Die größten Ausgabenposten betrafen gemäß erhaltener Haushaltsbücher Arztrechnungen und Medikamente sowie Lebensmittel, denn auf gutes Essen legte er großen Wert.

In einem Brief nannte Ludwig Johann Nikolaus wegen seiner vielen Hilfestellungen einmal „Bestes Brüderl! Großmächtiger Gutsbesitzer“ und lobte ihn als sein guter „Rathgeber“. In einem anderen Schreiben gab er ihm den ironischen Titel: „Direktor der gesamten österreichischen Pharmazie“, was zeigt, dass der oft cholerische Ludwig van Beethoven durchaus Humor besaß. Doch seine Schwägerin Therese war ihm nach wie vor ein Dorn im ­Auge und so vollkommen falsch lag er wohl nicht mit seiner Meinung, denn es lagen inzwischen stichhaltige Hinweise vor, dass The­rese Kontakt zu einigen Liebhabern ­unterhielt. In einem Brief, datiert auf den 3. Juli 1823, forderte er seinen Bruder sogar auf, sich endlich von seiner Frau zu trennen, ihn dabei provokativ fragend: „O verruchte Schande, ist kein Funken Mann in dir?!!!“ Doch Johann Nikolaus hielt zeitlebens an der Ehe mit seiner Frau fest, die Ende 1828 verstarb.

Vierspännig in den Prater

Im September 1826 folgte Ludwig endlich der schon vor langer Zeit ausgesprochenen Einladung seines Bruders, nach Gneixendorf zu kommen. Bis dato hatte er den Besuch wohl wegen seiner Aversion bezüglich der Schwägerin beharrlich ausgeschlagen. Wider Erwarten fühlte sich der Maestro vor Ort wohl, nicht zuletzt wegen des guten, hiesigen Weines. Während seines Gneixendorfer Aufenthaltes bearbeitete er zwei Streichquartette und metronomisierte seine im Jahr 1824 uraufgeführte 9. Symphonie. Das heißt, er versah sie mit Tempoangaben.

Es kursiert die Vermutung, dass Ludwig aufgrund eines Streites mit seiner Schwägerin Gneixendorf unerwartet am 1. Dezember 1826 verließ. Da Therese ihm wohl eine geschlossene Kutsche für die Rückfahrt nach Wien vorenthielt, blieb Ludwig nichts anderes übrig als im offenen Wagen bei nass-kaltem Wetter abzureisen. Die Folge war eine heftige Lungenentzündung, die seinen Gesundheitszustand zu Beginn des neuen Jahres weiter verschlechterte. Erneut kümmerte sich ­Johann Nikolaus intensiv um seinen Bruder. So überwachte er dessen ärztliche Betreuung und die korrekte Applikation der zahlreich verordneten Arzneien. Dazu zählten Klistiere, Diuretika und Laxantien genauso wie Heublumenbäder neben der Einnahme von Mandelmilch, Champagner, Bier und Wein. Wegen wiederholt enormer Ansammlungen von Flüssigkeit im Magenbereich waren sogar mehrere Punktionen erforderlich. Am 26. März 1827 verstarb Ludwig schließlich an einer Leberzirrhose. Johann Nikolaus zum Tode seines Bruders: „… sah mich zwei Minuten lang star an und verstarb wie Cesar in meinen Armen.“

Zehn Jahre später verkaufte Johann Nikolaus seine Apotheke in Urfahr. Bis dahin hatte es immer wieder Beschwerden gegeben, dass er zu selten in seiner Apotheke präsent sei. Diese hatte er sogar zeitweilig verpachtet, was ihm als Inhaber einer Personalkonzession gesetzlich eigentlich verboten war. Bereits 1836 hatte er sich von seiner Gneixendorfer Liegenschaft getrennt. Jetzt zog Johann Nikolaus dauerhaft nach Wien, wo er sich mit der Zeit zu einer stadtbekannten Persönlichkeit entwickelte. Der Grund war sein aufwendiger und schillernder Lebensstil, den er jetzt bar finanzieller Sorgen pflegte. So fuhr er elegant gekleidet gerne vierspännig in den Prater in Begleitung von zwei Dienern in auffälliger Uniform. 1848 verstarb Johann Nikolaus van Beethoven laut Sterberegister an „Entartung der Unterleibsorgane“ in Wien. Sein mit 42.500 Gulden ermitteltes Erbe war rund viermal höher als das seines Bruders Ludwig. Die Grabinschrift auf seiner inzwischen nicht mehr vorhandenen Totenstätte lautete: „Johann van Beethoven, Rentier, gestorben am 12 ten Jänner 1848 im 72. Lebens­jahre. Ruhe seine Asche.“ |
 

Literaturangaben
Der Artikel basiert auf der von Erika Eikermann in Sudhoffs Archiv, Bd. 96, Heft 2 (2012) editierten Biografie zu Johann van Beethoven. Weitere Literatur ist beim Autor erhältlich.
 

Autor

Dr. Walter A. Ried, Apotheker und Journalist, Studium der Pharmazie in Passau und Frankfurt a. M., Promotion in Geschichte der Naturwissenschaften

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