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Aus den Ländern
Fast jedes Arzneimittel im Alter durchchecken
Nordrhein: 150 Senior-Pharmazeuten trafen sich im Netz
In seinem berufspolitischen Statement begrüßte der Präsident der Apothekerkammer Nordrhein, Dr. Armin Hoffmann, diese Möglichkeit des Austauschs, weil ihm die Nähe zu allen Mitgliedern sehr am Herzen liege. Er dankte den Apotheken in Nordrhein für ihre großartige Leistung in der Pandemie, ihren hohen persönlichen Einsatz und die Kreativität, mit der sie die neuen, nie dagewesenen Herausforderungen gemeistert hätten und weiter meistern würden. Er sei sehr stolz auf sein Kammergebiet, weil bislang keine Apotheke vom Netz gehen musste und die Versorgung mit Arzneimitteln zu keinem Zeitpunkt gefährdet war. Dabei hätten die Apotheken nicht nur ihren Versorgungsauftrag erfüllt, sondern den verunsicherten Bürgern viel Halt gegeben. Die Apothekerkammer stehe in permanentem Austausch mit dem Gesundheitsministerium in Düsseldorf und man erfahre insgesamt eine hohe Wertschätzung sowohl auf Landes-, als auch auf Bundesebene.
Aus den ersten Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Apotheken in diesem Pandemiejahr gehe hervor, dass der in manchen Branchen dramatische finanzielle Einschnitt in den Apotheken so nicht spürbar war, der Geschäftsverlauf aber wesentlich volatiler und unvorhersehbarer sei. Die Insolvenz eines Rechnungsdienstleisters, von der in Nordrhein etwa 200 Apotheken betroffen seien, führe aber zu erheblichen Einbußen bei den Betroffenen. Gleichzeitig habe sich aber die Entwicklung weiter fortgesetzt, dass die großen Apotheken wesentlich stärker wachsen als die kleineren Betriebe.
Bericht aus der hohen Politik
Auch auf aktuelle Gesetzesvorhaben ging Dr. Hoffmann ein, darunter das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG), dessen Regelungen im Hinblick auf das Rx-Boni-Verbot sich sicher in der Praxis noch beweisen müssten. Man habe sich auch für eine höhere Botendienstgebühr eingesetzt, diese ist aber so nicht berücksichtigt worden. Ausdrücklich begrüßte er die Honorierung pharmazeutischer Dienstleistungen als dritten wichtigen Aspekt des VOASG. Dr. Hoffmann bedankte sich bei Dr. Renner für ihre Glückwünsche zu seiner Wahl in den Vorstand der Bundesapothekerkammer. In diesem Amt möchte er besonders die Erfahrungen und das Wissen aus Nordrhein im Hinblick auf Rechtsverfahren zur Durchsetzung des Rx-Boni-Verbotes einbringen.
Dr. Hoffmann erwähnte das neue WATCH-Pilotprojekt der AKNR, in dem in Zusammenarbeit mit einem niederländischen Dienstleister digitale Verfahren zur Bereitstellung von mehr und leicht verständlichen Patienteninformationen getestet würden. Er geht davon aus, dass im nächsten Jahr über dieses Pilotprojekt, das gerade erst begonnen habe, sehr viel mehr berichtet werden könne.
Abschließend informierte Dr. Hoffmann darüber, dass das NRW-Gesundheitsministerium auf die Kammern Nordrhein und Westfalen-Lippe zugekommen sei mit der Frage, inwieweit die Apothekerinnen und Apotheker bei der Rekonstitution der Corona-Impfstoffe unterstützen können. Die beiden Kammern könnten in Abstimmung mit den Parenteralia herstellenden Apotheken und den Krankenhausapotheken die Herstellung des Corona-Impfstoffes für die Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen, auch in ausreichender Menge, sicherstellen. Noch offen sei die Frage, ob die einzelnen Impfstoffdosen direkt in den Impfzentren zubereitet werden müssten (Stand: 1. Dezember 2020).
Problemfeld Polypharmazie
Pharmazeutisch gesehen standen Polypharmazie und Deprescribing im Mittelpunkt der Fortbildung. Katja Renner freute sich, zu diesem zentralen Thema der Arzneimitteltherapiesicherheit „das Gesicht der Heliosforschung“ begrüßen zu können, und widmete Prof. Dr. Petra Thürmann mit „Frau Priscus-Liste“ gleich noch einen zweiten Titel. Dass sie maßgeblich an diesem wertvollen Tool für Ärzte und Apotheker beteiligt ist, ist in Apothekerkreisen gut bekannt. Seit 2019 leitet die Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Pharmakologie der Universität Witten/Herdecke zudem das neue Helios Center for Research and Innovation. „Frau Professor Thürmann steht für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzten, Apothekern und Pflegekräften, um gemeinsam das Beste für den Patienten zu erreichen“, hob Renner hervor.
Thürmann erläuterte, dass Informationen zum geriatrischen Assessment eines Patienten auch für die Beurteilung seiner Gesamtmedikation relevant sind. Die Berücksichtigung von Seh- und Hörvermögen sowie motorischen und kognitiven Fähigkeiten ermögliche eine realistische Einschätzung, was einem älteren Patienten noch zugemutet werden kann. Die „griffige“ Definition der Polypharmazie ab einer Einnahme von mehr als fünf Arzneimitteln pro Tag passe nicht auf jede Indikation, so Thürmann. So seien fünf Arzneimittel und mehr bei transplantierten, HIV- oder Hepatitis-Patienten keine Seltenheit, und in diesen Fällen könne meist auf keines der verordneten Arzneimittel verzichtet werden. Paradoxerweise stelle man gerade bei Patienten mit Polypharmazie des Öfteren zusätzlich eine Unterversorgung fest, weil ein besonders wichtiges Medikament nicht verordnet wurde. Ähnliches komme im Rahmen der Non-Adhärenz vor, dass nämlich Patienten in ihrer Therapie just die Arzneimittel weglassen würden, die für sie besonders wichtig seien.
Thürmann erläuterte, wie zunehmendes Fettgewebe und abnehmendes Körperwasser im Alter die Pharmakokinetik verändern. So würden sich Benzodiazepine anders verteilen und später nochmals freigesetzt, was in einen Nachhalleffekt münde. Nicht nur bei Morphinen führe eine geringere Menge an Körperwasser zu höheren Plasmakonzentrationen. Es sei enorm wichtig, die Nierenfunktion im Auge zu behalten und aus dem Serum-Kreatinin-Wert mithilfe der Cockroft-Gault-Formel die Kreatinin-Clearance zu berechnen. Die Dosierungsempfehlungen fast aller Arzneimittel würden sich auf diese Formel beziehen, so Thürmann. Bei eingeschränkter Nierenfunktion sei z. B. bei den direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) und bei niedermolekolaren Heparinen durch Kumulation die Blutungsgefahr erhöht. Auch die Pharmakodynamik vieler wichtiger Arzneistoffe verändere sich im Alter. Selbst wenn man die Dosierung richtig wähle, würden viele ältere Menschen deutlich empfindlicher auf bestimmte Arzneistoffe ansprechen, so z. B. auf Benzodiazepine und Opioide. Aus dem gleichen Grund würden Neuroleptika bei älteren Patienten häufiger zu schweren Nebenwir-kungen führen. Paradoxe Reaktionen (z. B. auf Schlaf- und Beruhigungsmittel) seien ebenso möglich wie eine gestörte Gegenregulation. Eine Diuretika-induzierte Austrocknung stehe auf Platz 1 der arzneimittelbedingten Ursachen für eine Krankenhauseinweisung bei Menschen über 65 Jahren. Zunehmende Müdigkeit und Vergesslichkeit sowie Appetitmangel würden oft als Alterserscheinungen abgetan. Dahinter könnten aber auch anticholinerge Nebenwirkungen stecken, sensibilisiert Thürmann. So könne sich Mundtrockenheit auch durch eine dadurch schlechter sitzende Prothese bemerkbar machen und so beim Patienten Appetitmangel hervorrufen.
2021 Priscus-Liste 2.0
Zu den Arzneimitteln, die die Priscus-Kriterien für eine potenziell inadäquate Medikation (PIM) erfüllen, zählen unter anderen Fall-risk-increasing Drugs (darunter schnell wirkendes Nifedipin, Doxazosin und lang wirkende Benzodiazepine), Anticholinergika und verschiedene NSAR. Die Priscus-Liste, die auf der amerikanischen Beers-Liste basiert und diese auf die nationalen Gegebenheiten in Deutschland anwendet, wurde erstmals 2010 veröffentlicht. Für 2021 kündigte Thürmann als Senior-Autorin dieser Liste eine neue Version 2.0 an. In Studien konnte gezeigt werden, dass Patienten mit Priscus-Einnahme signifikant häufiger hospitalisiert werden mussten, und dass Medikamente der Priscus-Liste bei Patienten über 65 Jahren doppelt so häufig mit Nebenwirkungen assoziiert waren als andere Medikamente. Thürmann besprach auch die Forta(= Fit fort the Aged)-Liste, die mit vier Kategorien A bis D und spezifischen START- und STOPP-Kriterien stärker differenziert und neben den Aspekten Über- und Fehlversorgung auch eine potenzielle Unterversorgung mit einbezieht. Kategorie D in der Forta-Liste entspreche in etwa dem PIM-Kriterium der Priscus-Liste. Mit der Forta-Liste müsse man sich allerdings intensiver befassen und benötige mehr Hintergrundinformationen über den Patienten. Mithilfe spezieller Arzneimittellisten lässt sich außerdem der sogenannte Total Drug Burden als Summe aus anticholinerger und sedierender Last ermitteln. Der Total Drug Burden korreliere sehr gut mit der Lebensqualität, der Mobilität und den kognitiven Fähigkeiten älterer Menschen, berichtete Thürmann.
Deprescribing ist definiert als ein systematischer Prozess zur Identifikation von Medikamenten mit der grundsätzlichen Eignung, abgesetzt zu werden. Dabei könne ein Absetzen immer dann in Erwägung gezogen werden, wenn im konkreten Fall bestehende oder potenzielle Risiken größer sind als ein bestehender oder potenzieller Nutzen, erläuterte sie. Abschließend gab Thürmann einen Überblick über bereits existierende Leitlinien zur Multimedikation, die teilweise bereits eine intensivierte Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker empfehlen. Ein Deprescribing-Leitfaden, den Thürmann für den deutschen Gebrauch herausgegeben hat, werde in einer noch laufenden Studie erprobt. „Den Patienten geht es sehr gut“, berichtete Thürmann stolz. Insgesamt sei man im Hinblick auf Deprescribing-Prozesse im stationären Setting schon weiter als im ambulanten Bereich. |
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