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Zu kurz gesprungen

Eine kommentierende Analyse zum Jahresbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung

Der Jahresbericht 2020 der Drogenbeauftragten der Bundes­regierung ist publiziert. Auf den ersten Blick fällt die Kürze des Dokuments auf: gerade einmal 88 Seiten, nach 200 im Jahr zuvor. Dieses Merkmal alleine führt zur Frage: ist das Problem kleiner geworden? Ein paar Dinge sind dann doch zu auffällig, um sie unkommentiert zu lassen.

Einen großen Raum nimmt das Thema Medien und Internet ein – nicht, dass das Thema unwichtig wäre, aber als Drogenbeauftragte sollte man sich doch eher mit substanzbezogenen Themen auseinandersetzen und hier wäre wahrlich genug zu berichten. Interessant sind nicht nur die altbekannten Substanzvertreter, von denen man in jedem Jahresbericht schreiben könnte, wenn man denn tatsächlich noch immer an einen Erfolg der gescheiterten Drogenpolitik undifferenzierter Prohibition über alle Stoffklassen hinweg glaubt. Vor allem interessant sind nämlich die Dinge, die im Jahresbericht der Drogenbeauftragten nicht stehen. Fast ist man geneigt, zu denken: auf Frau Mortler folgte Frau Ludwig, aber die CSU bleibt ihrer Linie treu.

Tilidin wird verschwiegen

Faktisch richtig ist die Angabe, dass etwa die Hälfte aller Drogentoten auf die Substanzklasse der Opioide zurückgeht. Positiv ist zum Jahresbericht anzumerken, dass die Drogenbeauftragte für einen niedrigschwelligen Substitutionsansatz plädiert, allerdings kommen nur die Substanzen Methadon, Levomethadon und Buprenorphin zur Sprache. Die Erfolge mit der Substitution durch Heroin selber werden nicht adressiert. Erstaunlich ist, dass das Thema Tilidin keine Erwähnung im Jahresbericht findet. Zum Hintergrund: augenscheinlich gibt es in der Deutsch-Rap-Szene Künstler, die dermaßen wenig über die Konsequenzen ihres Tuns nachdenken, dass sie mit ihren Texten breite Teile des Auditoriums zum Konsum des opio­iden Schmerzmittels Tilidin verführen. Eine interessante Gesetzeslage: Volksverhetzung ist ein Straftatbestand und eine Deutsch-Rap-Zeile wie „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ führt zur Einstellung einer nationalen Preisvergabe an sogenannte „Künstler“. Aber eine Zeile wie „gib mir Tilidin, ja ich könnte was gebrauchen, Wodka-E um die Sorgen zu ersaufen“ bleibt unwidersprochen stehen? Man mag zu Recht anmerken, dass wohl in keinem Land der Welt die Rap-Szene die bedachteste Schicht einer Gesellschaft abbildet – umso wichtiger wäre es, wenn sich eine Regierung dem Schutz des oftmals minderjährigen Auditoriums annehmen würde und eine Verführung, egal ob zum Rechtsextremismus oder zum Drogenkonsum ahnden würde. Im Jahresbericht wird zwar angeregt, Naloxon-haltige Nasensprays als Opioid-Antidote flächendeckend einzusetzen, aber die gängige Konsumform von ­Tilidin-haltigen Arzneimitteln enthält bereits Naloxon, damit das Präparat „nur“ peroral und nicht parenteral angewendet werden kann. Jedoch kann auch dieser Konsum – gerade bei fehlender medizinischer Indika­tion – abhängig machen.

Foto: freshidea – stock.adobe.com

Neue psychoaktive Stoffe

Interessant ist auch die Analyse der gesetzgeberischen Tätigkeit im Jahresbericht: „Weder Strafverfolgung noch Prävention, weder Schadensminderung noch Behandlung machen für sich allein Sinn – wir brauchen all diese Elemente gemeinsam. Mit dem BtMG [Betäubungsmittelgesetz] und dem NpSG [Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz] haben wir zwei wirkungsvolle und klug aufeinander abgestimmte Instrumente im Kampf gegen die organisierte Drogenkriminalität.“

Hier zeigen sich einige Widersprüche: Das BtMG ist eine Gelddruckmaschine für Dealer und kriminelle Banden, denn erst die Illegalisierung einer Sub­stanz ermöglicht die astronomische Gewinnspanne für den illegalen Grenzübertritt und Handel. Auch dies ist keine allzu moderne Erkenntnis, zeigen doch Länder wie Uruguay, die Schweiz, der US-Bundesstaat Colorado oder Portugal innovative Ansätze für Auswege aus der Drogenkrise. Noch befremdlicher ist die Erwähnung des NpSG. Dieses Gesetz bezieht sich nicht auf „klassische Drogen“ wie Kokain, Heroin und Co., sondern auf die Substanzklasse der Designerdrogen, Research Chemicals oder – vor Implementierung des NpSG – „legal highs“. Fachlich nennt man diese Substanzen neue psychoaktive Stoffe (NPS), sie entstehen durch kleinere Molekül-Derivatisierungen, die jedoch das Pharmakophor (die psychoaktive Leitstruktur) nicht beeinträchtigen. Interessant ist, dass die Gesamtheit der NPS bis auf zwei kurze Spiegelpunkte auf Seite 63 des Jahresberichts keine Erwähnung finden, das NpSG jedoch als Lösung eines nicht erklärten Problems lobend erwähnt wird. Hier muss die Frage erlaubt sein: wie viel Sachlichkeit steckt in einem solchen Dokument? Geht es um sachliche Berichterstattung oder um das Erstellen eines eher politisch motivierten Dokuments?

Corona und Suchterkrankungen

Erstaunlich viel Platz nimmt – wie könnte es anders sein – das Thema Corona ein. Die Analyse des Jahres­berichts mag zutreffend sein, dass der Lockdown eine steigende Gefahr für Medien- und Internetbasierte Sucht­erkrankungen bildet. Doch kehren wir zum Thema Drogen in die Zuständigkeit der Drogenbeauftragten zurück. Ein paar Zahlen hierzu: am Tabakkonsum alleine sterben jährlich in Deutschland über 120.000 Menschen! Für das Jahr 2020 kursiert die Zahl 127.000. Das wären 348 Tote jeden Tag! Lassen Sie uns abwarten, wann durch Impfstoffe etc. die Pandemielage beendet werden kann und schauen, ob Corona einen derart tödlichen Ausgang nimmt wie es das Rauchen seit Jahrhunderten (!) vermag. Man darf wohl skeptisch sein. 127.000 Tote in nur einem Jahr und wir schaffen es nicht, ein flächendeckendes Werbeverbot für Tabak einzuführen – eine bei bestimmungsgemäßem Gebrauch tödliche Pflanze?

Jeder Drogentote ist einer zu viel

Bei aller Kritik muss hier auch das Positive am Jahresbericht erwähnt werden: die Drogenbeauftragte positioniert sich klar und eindeutig und über viele Seiten hinweg zum weiteren Ausbau von Nicotin-Ausstiegs-Programmen (so beispielsweise auf Seite 44 „Mehr Gewicht für die Raucherentwöhnung“). Dies erscheint hilfreich und dringend notwendig: nimmt man die akuten und chronischen Folgen des Alkohols hinzu summieren sich die jährlichen Toten durch legale Drogen auf ca. 200.000 (!). Zum Vergleich: alle illegalen Drogen zusammen verursachen in Deutschland jährlich zwischen 1000 und 2000 Tote (2020 waren es bisher 1398). Hier geht es übrigens nicht darum, zu bagatellisieren und eins ist klar: jeder Drogentote ist einer zu viel. Aber quantitativ betrachtet verursachen alle illegalen Drogen zusammen nicht einmal 1 Prozent der Todesfälle, die durch Alkohol und Rauchen herbeigeführt werden. Hochgerechnet auf die Weltbevölkerung geht man von bis zu 8 Millionen Toten jährlich durch Tabakrauchen aus. Augenscheinlich stimmt hier in der Relation etwas mit der öffentlichen Wahrnehmung der beiden Problemfelder legale versus illegale Drogen nicht.

Zum Trost sei gesagt, dies ist wohl kein rein deutsches Problem: der bri­tische Pharmakologe Prof. David Nutt hat einmal anhand einer Skala das Schadenspotenzial verschiedener Drogen quantifiziert. Legt man zusätzlich zum Konsumentenrisiko auch das gesellschaftliche Schadenspotenzial zugrunde, ergibt sich ein erstaunliches Bild: der Alkohol führt mit weitem Vorsprung die Liste an vor den „Horrordrogen“ Heroin, Crack-Kokain und Methamphetamin. Nach Publikation dieser Ergebnisse war David Nutt dann auch rasch ehemaliger Berater der britischen Regierung in Drogenfragen. Ein Schelm wer Böses dabei denkt im Land der Pubs und Pints.

Corona macht’s möglich

Im Zusammenhang mit Corona erscheinen zwei Dinge zudem interessant wenn es um unsere legalen letalen Drogen Tabak und Alkohol geht:

1. Das Rauchen einer einzigen Zigarette mindert die Fähigkeit des Flimmer­epithels der Lunge, Schadstoffe abzutransportieren für acht (!) Stunden und Schadstoffe sind in diesem Zusammenhang auch Coronaviren in den oberen Atemwegen.

2. Man nimmt erstaunt zur Kenntnis: was die Drogenpolitik in Jahrzehnten nicht geschafft hat, vermochte ein winziges Virus namens SARS-CoV-2 innerhalb weniger Monate: ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen – und das in einem Land in dem man ausgerechnet an Tankstellen selbst härteste Alkoholika im 24/7 Modus erwerben kann.

An dieser Stelle sei die Frage gestattet, wie viel die Drogenpolitik unserer Republik mit Gesundheitsvorsorge und „Public health“ zu tun hat? |

Autor

Prof. Dr. Niels Eckstein ist Professor für Regulatory Affairs und Pharmakologie am Campus Pirmasens der Hochschule Kaiserslautern

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