Arzneimittel und Therapie

Wunderdroge oder Gesundheitsgefahr?

Was in den südostasiatischen Kratom-Blättern wirklich steckt

Pflanzen mit psychoaktiven Inhaltsstoffen erfreuen sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit als sogenannte Neuroenhancer zur Leistungssteigerung oder auch zur „natürlichen“ Behandlung von Schmerzen oder Depressionen. Ein Produkt, das in diesem Zusammenhang in einschlägigen Internetforen Erwähnung findet, ist Kratom. Die Blätter des in Südostasien beheimateten tropischen Baumes scheinen ein wahres Wundermittel zu sein. Sie sollen z. B. die Stimmung heben, schmerzlindernd wirken, beim Entzug von Opiaten helfen, Schlafstörungen bekämpfen und die sexuelle Leistungsfähigkeit fördern.
Foto: Science Photo Library/Flecther & Baylis

Abb. 1: Blätter des Regenwaldbaums Mitragyna speciosa, auch bekannt als ­Kratom. Der Anbau des Baumes ist in Thailand illegal, der Besitz der Blätter in Malaysia verboten, weil die Blätter das halluzinogene Alkaloid Mitragynin enthalten. In den USA wird diskutiert, Kratom in die Liste der Substanzen aufzunehmen, die ein hohes Missbrauchspotenzial haben wie MDMA/Ecstasy, Heroin, LSD, Meskalin oder Marihuana. In sechs US-Bundesstaaten ist es illegal.

Der Kratom-Baum (Mitragyna speciosa) stammt ursprünglich aus Thailand und Malaysia, er wird zu kommerziellen Zwecken heutzutage aber vor allem in Indonesien angebaut (Abb. 1). Der 10 bis 20 Meter hoch werdende halbimmergrüne Baum gehört zur Familie der Rubiaceae (Rötegewächse), einer Familie, der viele bekannte Arznei- und Nutzpflanzen angehören – man denke nur an den einheimischen Waldmeister, die Färberröte oder auch den Kaffeestrauch und den Chinarindenbaum. Dabei weisen die einzelnen Vertreter der über den gesamten Globus verbreiteten Familie sowohl morphologisch als auch bezüglich des Inhaltsstoffspektrums eine große Vielfalt auf. Kratom gehört zu den Alka­loid-haltigen Rubiaceen. Das Haupt­alkaloid Mitragynin (Abb. 2), das zur Gruppe der iridoiden Indol­alkaloide zählt und nur in der Gattung Mitragyna vorkommt, wurde bereits 1921 isoliert. Heute sind mindestens 54 weitere Alkaloide aus der Pflanze bekannt [1]. In Südostasien wurde und wird Kratom traditionell als Heil- und Genussmittel verwendet. Geschätzt wird insbesondere die anregende und euphorisierende Wirkung, berichtet wird aber auch von analgetischen und besonders in höherer Dosierung beruhigenden Effekten. Vergleichbar ist der traditionelle Einsatz der Kratom-­Blätter etwa mit dem Kauen der Koka-Blätter in Südamerika. Bauern und ­Arbeiter konsumierten die Blätter oder deren Extrakte, um schwere Arbeit unter schwierigen klimatischen Bedingungen verrichten zu können. ­Heute ist der Konsum in der Regel in ein soziales Setting eingebunden, die frischen Kratom-Blätter werden in Teehäusern und Cafés gekaut oder als Teeaufguss getrunken. In Thailand und Malaysia wurden Besitz und Konsum von Kratom allerdings bereits in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts verboten. Dennoch werden dort vielfach Bäume an versteckten Orten für den lokalen Bedarf kultiviert und seit Kurzem ist zumindest in Thailand die Anwendung zu medizinischen Zwecken legalisiert worden.

Abb. 2: Mitragynin ist das Haupt­alkaloid von Kratom

Pharmakologie

Die iridoiden Indolalkaloide Mitragynin und 7-Hydroxymitragynin gelten als hauptverantwortlich für die psychoaktiven und Opioid-artigen Effekte des Kratoms. Mithilfe von Rezeptor-Assays konnte gezeigt werden, dass beide Substanzen partielle Agonisten am µ-Opioidrezeptor sind. Mitragynin interagiert zusätzlich mit dem δ-Opioidrezeptor. In Tiermodellen wirkten beiden Substanzen entsprechend analgetisch, allerdings bewirken sie auch in vergleichsweise hohen Dosierungen keine Atemdepression, weshalb sie auch als „atypische Opioide“ bezeichnet werden. Zusätzlich ist eine mögliche Interaktion mit weiteren zentralen Rezeptorsystemen (adrenerge, dopaminerge und serotoninerge Rezeptoren) und eine Hemmung der Prostaglandin-Synthese beschrieben worden. Des Weiteren zeigte ­Kratom im Tierversuch eine antidepressive Wirkung im sogenannten forced-swimming Test, möglicherweise bedingt durch eine Normalisierung der Funktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse [2].

Die Anwendung von Kratom führt beim Menschen nach etwa 10 bis 30 Minuten zu einem anregenden Effekt. Man fühlt sich – ähnlich wie bei der Verwendung von Kokain – motiviert, wach und euphorisch, ein Zustand der ca. zwei bis vier Stunden anhalten kann. Höhere Dosierungen bewirken dann eher Entspannung, Schläfrigkeit und geringere Wahrnehmung von Schmerzen vergleichbar mit der Wirkung klassischer Opiate. Als unerwünschte Wirkungen sind Übelkeit, Obstipation, Tachykardie und Verwirrtheit beschrieben worden, nach längerfristiger Anwendung kann das Absetzen zu Entzugssymptomen wie Depressionen, Ängstlichkeit, Aggressionen, Muskelschmerzen und Gewichtsverlust führen [3]. Klinische Studien mit Kratom sind bisher nicht durchgeführt worden, insofern sind zum derzeitigen Zeitpunkt keine wissenschaftlich fundierten Aussagen zu einer eventuellen Wirksamkeit bei Schmerzen oder Opiatentzug, zwei häufigen Einsatzgebieten Kratom-­haltiger Zubereitungen, möglich.

Bedeutung von Kratom außerhalb Asiens

Im Unterschied zur langen Tradition der Anwendung von Kratom-Produkten in Südostasien ist deren Erscheinen in westlichen Ländern ein eher neues Phänomen. Nach ersten Berichten aus den 1980er- und 1990er-Jahren ist zum Beispiel in den USA erst im letzten Jahrzehnt eine deutliche Zunahme der Verwendung zu verzeichnen. Inzwischen schätzt man, dass es dort zwischen drei und fünf Millionen Nutzer gibt. In den meisten amerikanischen Bundesstaaten ist Kratom legal erhältlich und wird dort z. B. über Kava-Shops (Cafés in denen ­Kava-Kava-haltige Getränke angeboten werden) vertrieben und im Internet als natürliches Nahrungsergänzungsmittel zur Behandlung chronischer Schmerzen angeboten. Neben den in Asien traditionell verwendeten frischen Blättern bieten die Internetshops vor allem getrocknete und geschnittene Blätter sowie Kapseln und Tabletten an. Eine besondere Bedeutung kommt Kratom im Zusammenhang mit der amerikanischen Opioid-Krise zu, denn das Präparat wird vielfach als einfach erhältliche Ersatz­droge oder auch zur Linderung der Symptome eines Opiat-Entzuges eingesetzt (s. Kasten „Die Opioid-Krise“). In Anbetracht der spärlichen Datenlage zur Wirksamkeit und Sicherheit der verwendeten Produkte wird dies von vielen Akteuren im Gesundheitswesen kritisch gesehen, zumal auch eine steigende Anzahl von Todesfällen mit dem Konsum von Kratom in Verbindung gebracht wird [4]. Befürworter fordern dagegen eine verstärkte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Pflanze, um deren Potenziale, aber auch Risiken – wie das Abhängigkeitspotenzial und mögliche Wechselwirkungen mit zusätzlich eingenommenen Arzneimitteln – besser beurteilen zu können [5].

Die Opioid-Krise in den USA

Unter der Opioid-Krise versteht man den starken Anstieg der Zahl von Drogenabhängigen und Todesfällen im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Opioid-Schmerzmitteln, der in den Vereinigten Staaten insbesondere seit dem Beginn dieses Jahrtausends zu beobachten ist. Der größte Teil der Betroffenen war von legalen Opioiden abhängig geworden, die ihnen zuvor verschrieben worden waren. Am Anfang des Phänomens stand das verschreibungspflichtige Schmerzmittel Oxycontin (Inhaltsstoff: Oxycodon), das das Unternehmen Purdue Pharma 1996 auf den Markt gebracht und als schmerzstillend und mit einem sehr geringen Suchtpotenzial verbunden aggressiv beworben hatte. Purdue und andere Pharmaunternehmen erreichten zudem durch Lobbyarbeit und geschicktes Marketing, dass Opioide, die zuvor vorwiegend bei Schwerkranken und Sterbenden angewendet worden waren, in den USA nun auch bei alltäglichen Schmerzen verschrieben wurden. In der Folge sind zehntausende Menschen durch Opioid-haltige Schmerzmittel süchtig geworden. Später wechselten sie meist zu ­Heroin und Fentanyl. 2017 wurde in den USA der nationale Notstand erklärt: In dem Jahr starben dort 47.000 Menschen an Opioiden, umgerechnet 130 pro Tag. Der starke Anstieg der Zahl der Drogentoten war in den USA einer der Gründe dafür, dass die durchschnittliche Lebenserwartung seit 2015 erstmals seit dem Ersten Weltkrieg sinkt.

Weitere Informationen finden Sie in der DAZ 2019, Nr. 36, S. 64: Teipelke J, Schwermer F, Eckstein N. Die Opioid-Krise: Ist der Oxycodon-Missbrauch nur ein amerikanischer Albtraum?

Im Unterschied zu den USA scheint Kratom in Deutschland bisher eher ein Nischenprodukt zu sein, es wird allerdings von verschiedenen Anbietern über das Internet vertrieben. Eine abschließende rechtliche Einordnung der Produkte ist bisher nicht erfolgt, möglicherweise fallen sie, ähnlich wie die hierzulande aktuell sehr beliebten Hanf-Produkte, unter die Novel-Food-Richtlinie der EU. Die Betreiber der Online-Shops gehen vor diesem Hintergrund allerdings sehr geschickt vor. Um möglichen rechtlichen Problemen aus dem Weg zu gehen, bezeichnen sie die Blätter gar nicht erst als „Lebensmittel“ oder „Nahrungsergänzungsmittel“, sondern sprechen lediglich von „Kratom”. Darüber hinaus weisen einige von ihnen auf ihrer Webseite explizit darauf hin, dass die Blätter nicht zur Einnahme bestimmt seien, stattdessen werden Anwendungen wie Malerei, Räucherung, Kosmetik und Hautpflege angegeben.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sich bei Kratom um eine Pflanze mit psychoaktiven Inhaltsstoffen handelt. Trotz der seit Langem bekannten traditionellen Verwendung in Südostasien existieren bisher praktisch keine klinischen Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit von Kratom-Produkten – insbesondere im Hinblick auf ein mögliches Abhängigkeitspotenzial. Gerade bei der Anwendung entsprechender Nahrungsergänzungsmittel, die über das Internet angeboten werden, sollte man sich außerdem im Klaren darüber sein, dass es keine Garantie für die angepriesene Qualität gibt und dass das Vorkommen gesundheitsschädlicher Verunreinigungen nicht ausgeschlossen werden kann. In den USA wurden in diesem Zusammenhang mehrfach Salmonellen und Schwermetalle in untersuchten Proben nachgewiesen [2]. |
 

Literatur

[1] Flores-Bocanegra L, Raja HA, Graf TN et al. The Chemistry of Kratom [Mitragyna speciosa]: Updated Characterization Data and Methods to Elucidate Indole and Oxindole Alkaloids. Journal of Natural Products 2020;83:2165-2177

[2] Meireles V, Rosado T, Barroso M et al. Mitragyna speciosa: Clinical, Toxicological Aspects and Analysis in Biological and Non-Biological Samples. Medicines 2019;6:35-56

[3] Han C, Schmitt J, Gilliland KM. DARK Classics in Chemical Neuroscience: Kratom. ACS Chemical Neuroscience 2020, DOI: 10.1021/acschemneuro.9b00535

[4] Eastlack SC, Cornett EM, Kaye AD. Kratom-Pharmacology, Clinical Implications, and Outlook: A Comprehensive Review. Pain Therapy 2020;9:55-69

[5] Veltri C, Grundmann O. Current perspectives on the impact of Kratom use. Substance Abuse and ­Rehabilitation 2019;10:23-31

Dr. Kristina Jenett-Siems

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