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Arzneimittel und Therapie
Wenn Opioide den Darm lahmlegen
Wissenswertes zur Nebenwirkung Obstipation in zehn Thesen
These 1: Alle Opioide können OIC verursachen. Wesentliche Funktionen des Gastrointestinaltraktes wie die koordinierte Bewegung der Darmwandmuskulatur werden unabhängig vom zentralen Nervensystem durch das enterische Nervensystem gesteuert. Dort spielt das endogene Opioid-System mit Transmittern wie Enkephalinen und Endorphinen eine wichtige Rolle. Am weitesten verbreitet im enterischen Nervensystem sind µ-Opioid-Rezeptoren. Ihre Aktivierung blockiert sekretomotorische Funktionen und peristaltische Reflexmechanismen. Über diesen Mechanismus können alle Opioid-Analgetika unabhängig von ihrer Darreichungsform zu Störungen der Darmmotilität, Sekretion, Ab-/Resorption und der Sphinkterfunktion führen. In diesem Zusammenhang ist die Lipophilie oder Stärke der eingesetzten Opioide über einen längeren Zeitraum betrachtet und unter Berücksichtigung der Äquivalenzdosierungen kaum von Bedeutung.
These 2: Bis zu 87% der Schmerzpatienten leiden an OIC. Klinische Studien belegen, dass Opioide schon nach einmaliger Einnahme in niedriger Dosierung nachweislich die Darmmotilität und sekretorische Leistung selbst bei Gesunden senken. Dagegen werden die Flüssigkeitsresorption und der Sphinktertonus sowie die Passagedauer erhöht. Diese Effekte nehmen mit der Behandlungsdauer, der Höhe der Tagesdosis und der Regelmäßigkeit der Einnahme zu. Die Angaben zur Häufigkeit einer OIC schwanken zwischen 15 bis 81% bei nichttumorbedingten und zwischen 74 bis 87% bei tumorbedingten Schmerzen.
These 3: Die OIC ist der häufigste Grund für den Abbruch einer Opioid-Therapie. Bei den gastrointestinalen Nebenwirkungen von Opioiden kommt es im Gegensatz zu vielen anderen unerwünschten Wirkungen nicht zu einem Gewöhnungseffekt. Stattdessen nimmt die Belastung für die Lebensqualität mit der Therapiedauer zu und ist mit herkömmlichen Methoden schwer zu reduzieren. Dies ist eine der Ursachen dafür, dass die OIC sowohl in kontrollierten klinischen Prüfungen als auch in Anwendungsbeobachtungen mit Opioiden der häufigste Grund für einen Therapieabbruch ist.
These 4: Die OIC ist Hauptsymptom zahlreicher gastrointestinaler Beschwerden. Die verzögerte Magen- und Darmentleerung sowie die Störung der Verdauung durch verringerte Sekretion führen zu zahlreichen Beschwerden über die normalen Obstipationssymptome hinaus. So leiden viele Patienten unter Blähungen und Völlegefühl, Bauchschmerzen, Sodbrennen, Reflux sowie Übelkeit und Erbrechen. Zudem kann auch die Absorption oral verabreichter Arzneimittel beeinflusst werden und zu unerwünschten Wirkungen führen.
These 5: Erforderlich ist eine diagnostische Abgrenzung der OIC von der habituellen Obstipation. Von entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche Therapie ist die Abgrenzung der OIC von der nicht Opioid-bedingten habituellen Obstipation. Hierbei ist zu bewerten, ob die Stuhlfrequenz sich nach dem Start oder einer nennenswerten Anpassung (z. B. Dosiserhöhung) der Opioid-Therapie verändert hat. Wird eine bereits vor Beginn der Behandlung bestehende habituelle Obstipation durch eine Opioid-Therapie verstärkt, spricht man von einer Opioid-exazerbierten Obstipation. Hiervon sind rund 15 bis 50% der Patienten betroffen. Bei ihnen ist unter Umständen eine kombinierte Behandlungsstrategie erforderlich.
These 6: Im Gegensatz zu einer habituellen Obstipation ist die OIC nicht mit Laxanzien behandelbar. Konventionelle Laxanzien wie Macrogol (Polyethylenglykol), Bisacodyl, Natriumpicosulfat und Sennapräparate erhöhen direkt oder indirekt das Stuhlvolumen und regen so über Dehnungsreize die Peristaltik und die Defäkation an. Diese Reaktion ist jedoch bei der OIC durch die Aktivität der Opioid-Rezeptoren unterbunden. Daher zeigen Laxanzien bei einer reinen OIC wenig Wirkung und können die Begleitbeschwerden dagegen noch verstärken.
These 7: PAMORA (peripher aktive µ-Opioid-Rezeptorantagonisten) behandeln die OIC kausal, ohne die Wirkung von Opioiden zu beeinträchtigen. PAMORA blockieren die peripheren µ-Opioid-Rezeptoren im Bereich des enteralen Nervensystems und vermindern so die Wirkung der Opioid-Analgetika auf den Gastrointestinaltrakt. Der einzige Wirkstoff, der derzeit in einer oralen Formulierung zur Verfügung steht, ist Naloxegol, ein pegyliertes Naloxon-Derivat (Moventig®). Bei der Anwendung sind mögliche Wechselwirkungen mit CYP3A4-Inhibitoren zu beachten, die Dosis muss gegebenenfalls reduziert werden (s. Tabelle). Der alternative Wirkstoff Methylnaltrexon, ein von Naltrexon abgeleitetes quarternäres Amin, ist zurzeit nur als Injektionslösung zur subkutanen Anwendung im Handel (Relistor®). Durch ihre Größe und Polarität ist die Fähigkeit der PAMORA, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden, stark eingeschränkt. So bleibt die analgetische Wirkung der Opioide im zentralen Nervensystem erhalten. Anfang 2019 wurde mit Naldemedin (Rizmoic®) ein weiterer oral anzuwendender PAMORA zugelassen. Bislang ist das Präparat in Deutschland jedoch noch nicht auf dem Markt. Ein anderer Ansatz, der formal jedoch nicht zu den PAMORA gezählt wird, ist die Fixkombination von Naloxon/Oxycodon (z. B. Targin®). Aufgrund seiner geringen Bioverfügbarkeit wirkt der Opioid-Antagonist Naloxon der Obstipation lokal entgegen.
Substanz | Applikation | Dosierung |
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Naloxegol (Moventig®12,5 mg/25 mg) |
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Methylnaltrexon (Relistor® 12 mg/0,6 ml Injektionslösung) |
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These 8: Jede erfolglose OIC-Therapie sollte nach ein bis zwei Wochen durch PAMORA abgelöst werden. Alle PAMORA sind derzeit nur bei OIC-Patienten zugelassen, die auf eine Therapie mit konventionellen Laxanzien nicht oder nur unzureichend angesprochen haben. Daher – und aus Kostengründen – wird aktuell zunächst eine Therapie mit Laxanzien empfohlen. Sollte eine zeitnahe nachweisbare Verbesserung damit jedoch ausbleiben, empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin einen schnellen Wechsel zu einem PAMORA.
These 9: Die Nebenwirkungen von Naloxegol liegen auf Placebo-Niveau. Über einen Beobachtungszeitraum von zwölf Wochen erwies sich Naloxegol in klinischen Studien als ebenso sicher und verträglich wie Placebo. In einer Langzeitstudie über ein Jahr ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen der Verträglichkeit der konventionellen OIC-Therapie und der Behandlung mit Naloxegol.
These 10: Naloxegol verbessert die Lebensqualität der Patienten evidenzbasiert und nachprüfbar. OIC beeinflusst nicht nur die Verdauung an sich, sondern hat große Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Teilhabe der Betroffenen an Alltagsaktivitäten. Studien zeigen, dass der Einsatz von Naloxegol bei laxanzienrefraktärer OIC zu einem signifikanten Anstieg der Stuhlfrequenz sowie einem Rückgang von Begleiterscheinungen wie Übelkeit und Sodbrennen führt. Durch diese kausale Therapie kann die Lebensqualität von Schmerzpatienten sowie ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden deutlich verbessert werden. Dies steigert auch die Leistungsfähigkeit der Betroffenen und die Compliance mit der Opioid-Therapie. |
Literatur
Überall MA, Horlemann J. Thesenpapier der DGS zur opioidinduzierten Obstipation –Eine schmerzhafte Nebenwirkung, die sich vermeiden und behandeln lässt. Schmerzmedizin 2019;35(6):52-54
Presseinformation der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin vom 3. Dezember 2019. Opioidinduzierte Obstipation: 10 Thesen für eine bessere Versorgung von Schmerzpatienten. www.dgschmerzmedizin.de
Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS). DGS-Praxisleitlinie Opioidinduzierte Obstipation v2.0, 2019. www.dgs-praxisleitlinien.de
Fachinformation Moventig® (Naloxegol). Stand September 2018
Fachinformation Relistor® (Methylnaltrexon).Stand Januar 2017
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