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Pandemie Spezial
Quo vadis?
Die Corona-Virus-Pandemie in Deutschland – ein Ausblick
„Alles nicht so schlimm und vollkommen übertrieben“, so wird die Situation nach wie vor von Corona-Skeptikern gesehen. Bohrt man nach, wird als Beweis die stetig zunehmende Zahl von Tests als Ursache der ansteigenden Zahl von Neuerkrankungen angeführt. Getreu dem Motto „wird mehr getestet, findet man auch mehr Infizierte“, hatte Präsident Trump bereits diese – aus seiner Sicht logische – Schlussfolgerung gezogen und verlangt, die Zahl der Tests drastisch zu verringern. Tatsache ist, dass die pro Woche durchgeführten Virusnachweise mittels PCR von 330.000 im Juni auf derzeit 1,2 Millionen angestiegen sind. Ein Anstieg um einen Faktor 3,6. Der Anteil der positiven Testresultate ist im Vergleichszeitraum allerdings um das Sechsfache gestiegen. Seit Ende September ist die Zahl der Tests pro Woche auf einem ähnlichen Niveau geblieben, die Zahl der Neuerkrankungen ist jedoch steil angestiegen. Das belegt, dass sich die Zahl der Neuinfektionen von der Zahl der Tests entkoppelt hat.
Auch das Argument, die Intensivstationen seien leer und die Sterblichkeitsrate sei gering, und flächendeckende Infektionsschutzmaßnahmen seien deshalb nicht erforderlich, steht auf tönernen Füßen. Da sich die Sterblichkeitsrate aus der Anzahl der Todesfälle dividiert durch die Zahl der Neuinfektionen errechnet, und die Zahl der Neuinfektionen in den vergangenen drei Monaten kontinuierlich angestiegen ist, geht schon allein deshalb die Todesfallrate zurück.
Ein Faktor, der den Krankheitsverlauf und damit die Todesfallrate extrem stark beeinflusst, ist das Alter der Patienten. In den Sommermonaten haben sich – im Urlaub, bei Partys, in Bars oder bei anderen Aktivitäten – vor allem 15- bis 29-Jährige angesteckt. Jüngere Menschen erkranken aber selten schwer, und tödliche Krankheitsverläufe sind die Ausnahme. Seit Ende der Sommerferien hat sich die Altersverteilung jedoch peu à peu in Richtung der über 50-Jährigen verschoben. Seit Anfang September ist auch bei den über 60-Jährigen die Zunahme der Infektionszahlen signifikant. Im Oktober haben erstmals seit März die Infektionen bei Senioren wieder zugenommen, und es sind die ersten Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen dokumentiert, so Prof. Dr. Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, in einer Pressekonferenz am 8. Oktober 2020. Ein Hinweis darauf, dass SARS-CoV-2 aus der Altersgruppe der jungen Erwachsenen in die besonders vulnerable Gruppe der über 60-jährigen „eingewandert“ ist.
In Großbritannien, wo die Dynamik der Pandemie um drei bis vier Wochen der Situation in Deutschland vorauseilt, sind nach Aussage des Gesundheitsministers Matt Hancock derzeit mehr COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen als zu Beginn des Shutdown. In den Niederlanden ist die Entwicklung mittlerweile so dramatisch, dass Intensivbetten in Nordrhein-Westfalen reserviert wurden. Es ist also nur eine Frage der Zeit, dass in Deutschland schwere Erkrankungen und parallel dazu auch die Zahl der an COVID-19 Verstorbenen dramatisch zunehmen werden. Die Voraussage wird durch die Tendenz der belegten Intensivbetten bestätigt. Von 278 am 22. September ist die Maßzahl auf 769 gestiegen [Stand 19. Oktober 2020 – Lagebericht des RKI].
Wirksame Therapien sind verfügbar
Ein enormer Wissenszuwachs beim Verständnis der Pathogenese von COVID-19 hat dazu geführt, dass sich das Arsenal wirksamer Therapien eindrucksvoll erweitert hat. Ein Paradebeispiel ist die Erkrankung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, bei dem gleich drei neuartige Therapien innerhalb weniger Tage eingesetzt wurden, und der sich trotz eines zu Beginn „besorgniserregenden Zustands“ eigenen Angaben zufolge nach zwei Wochen wieder „topfit“ fühlt. Auch wenn diese Aussage wenig glaubhaft ist und der Behandlungserfolg nicht verallgemeinert werden kann, ist es offensichtlich, dass sich in den Ländern mit einem gut ausgestatteten und solide finanzierten Gesundheitssystem die Chancen von COVID-19-Patienten, die Infektion zu überleben und zu gesunden, deutlich verbessert haben.
Schließlich wird von Corona-Skeptikern mit der Hypothese geliebäugelt, dass sich SARS-CoV-2 mit zunehmender Ausbreitung abschwächen und von selbst von der Bildfläche verschwinden wird, eine auch von Präsident Trump favorisierte These. Die Evidenz für eine Abnahme der krankmachenden Wirkung ist allerdings gering [1]. Im Gegenteil, derzeit spricht einiges dafür, dass sich eine Mutante mit der Bezeichnung D614G weltweit ausgebreitet hat, die infektiöser als das ursprüngliche Virus ist [2]. Laut Prof. Dr. Friedemann Weber, Leiter der Abteilung für Virologie an der Universität Gießen, hat das Spike-Protein auf der Oberfläche der Virusvariante D614G eine höhere Affinität zu den ACE-2-Rezeptoren auf menschlichen Zellen, der Eintrittspforte für SARS-CoV-2. Dass sich dadurch automatisch auch das krankmachende Potenzial von SARS-CoV-2 erhöht, glaubt Weber allerdings nicht. Denkbar ist dagegen, dass die Mutante leichter von Mensch zu Mensch übertragen wird und dadurch die Neuinfektionsrate einen zusätzlichen Impuls bekommt. Welche Kombination von Faktoren die Gesamtzahl der Neuinfektionen pro Tag ansteigen lässt, der Anstieg der anderen Maßzahlen – Anteil schwerer Krankheitsverläufe, Auslastung der Intensivstationen, Todesfälle – wird zwangsläufig folgen. Laut Ulrich Frei, Vorstand der Berliner Charité, ist nicht die Zahl der freien Intensivbetten das Problem, sondern der Mangel an intensiv-medizinisch geschultem Personal.
Besonders groß waren die Sorgenfalten auf der Stirn des Präsidenten des Robert Koch-Instituts Prof. Dr. Lothar Wieler, als er den „sprunghaften“ Anstieg der Zahl der Neuinfektionen um 1200 innerhalb von 24 Stunden kommentierte. Weitere „Sprünge“ in der Zahl der täglichen Neuinfektionen, zum Beispiel von 2467 am 12. Oktober auf 4122 am 13. Oktober zeigen, dass sich derzeit zahlreiche ausbruchfördernde Ereignisse multiplizieren. Die Realität entspricht damit den Voraussagen des Perkolations-Modells (siehe Kasten „Ausbreitung durch Perkolation“).
Ausbreitung durch Perkolation
Weltweit suchen Infektionsepidemiologen nach mathematischen Modellen, mit denen sich die Ausbreitung von SARS-CoV-2 erklären und voraussagen lässt. Perkolation, auch Phasenübergang genannt, gilt derzeit als realitätsnah. Der Virologe Prof. Dr. Christian Drosten hat dazu das Bild vom Kaffeefilter gewählt: Ist Kaffee in die Filtertüte eingefüllt und wird kochendes Wasser hinzugegeben, quillt als erstes der Kaffee auf. Solange der Quellvorgang anhält, gelangt noch kein Tropfen Kaffee in die Tasse. Erst wenn das Pulver komplett durchfeuchtet ist – was wiederum von physikalischen Merkmalen wie zum Beispiel dem Mahlgrad des Kaffees abhängt – bewirkt jeder neu hinzugefügte Tropfen Wasser, dass das oben zugeführte Volumen unten in Form von Tropfen heraustritt. Das Durchsickern von Wasser durch Kaffee ist also – physikalisch betrachtet – ein nicht-linearer Prozess, mithin ein System, das plötzlich von einem in einen anderen Zustand übergeht. Übertragen auf die Dynamik von SARS-CoV-2 bedeutet der Phasenübergang – die Perkolation – eine plötzliche Zunahme von Neuinfektionszahlen ohne vorherige Ankündigung. In der Realität könnte dieser Prozess durch Überlappung von mehreren räumlich beieinander liegenden ausbruchfördernden Ereignissen in Gang gesetzt werden.
Prof. Dr. Matthias F. Schneider, Teamleiter der Abteilung Medizinische und Biologische Physik an der TU Dortmund, hat das Bild vom Filterkaffee in eine komplexere, den Physikern gut bekannte Modellvorstellung weiterentwickelt [5]: Nähert sich in einem Behälter befindliches Eis, in dem sich kleine rote Teilchen befinden, dem Schmelzpunkt, bilden sich Wassertaschen, in denen sich eine unterschiedliche Zahl der roten Teilchen befindet. Die roten Teilchen entsprechen einzelnen infizierten Personen, jede Wassertasche reflektiert ein Infektionscluster. Der Phasenübergang, die Perkolation, erfolgt, wenn sich einzelne Wassertaschen, also Infektionscluster, miteinander verbinden. Der Übergang von einem Phasenzustand in einen anderen erfolgt plötzlich und kann nicht vorausberechnet werden.
Die Parallele zum Verlauf der Pandemiekurve im März und April ist überdeutlich. Der Kurvenverlauf lässt keine andere Schlussfolgerung zu, als dass wir uns bereits mitten in der zweiten Welle befinden, mit einem erst langsamen, dann zunehmend steileren Anstieg der Neuinfektionen – dem typischen Merkmal einer Exponentialkurve. Dem Anstieg der Neuinfektionen (Abb. 1) folgt eine Ausbreitung in der Fläche. Am 27. September 2020 hatten drei Großstädte und ein Landkreis die Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner im Verlauf von sieben Tagen überschritten. Am 19. Oktober waren es 93 Städte und Landkreise, Tendenz weiter steigend. Die Corona-Kartografie (Abb. 2) von Deutschland ähnelt mittlerweile der von Frankreich. Die orange und rot eingefärbten Flächen (also Gebiete mit hoher Infektionszahl) nehmen rapide zu, und die Zahl der Landkreise in hellem gelb (mit bis zu fünf Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen) lässt sich an einer Hand abzählen.
Gesundheitsämter als vulnerables Glied im System
Als Mitte April der Exit aus dem Shutdown zwischen Bundesregierung und den Ländern abgestimmt wurde, und man sich auf eine Maßzahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen als Kriterium für Anti-Corona-Handlungsbedarf auf der lokalen Ebene geeinigt hatte, sagte der Chef des Bundeskanzleramtes, Prof. Dr. Helge Braun (ein ausgebildeter Intensivmediziner), „bei 50 Neuinfektionen brennt der Dachstuhl bereits lichterloh und die Feuerwehr muss im Großeinsatz kommen“. Das eindrucksvolle Bild trifft allerdings nicht ganz des Pudels Kern. Wenn die Maßzahl von 50 Neuinfektionen im Einzugsgebiet eines Gesundheitsamtes rechnerisch an einem Tag X ermittelt wird, brennt der Dachstuhl – um beim Bild zu bleiben – bereits seit mindestens einer Woche, da der Tag X das Infektionsgeschehen vor 10 bis 14 Tagen widerspiegelt. Im wahren Leben wäre das Haus nicht mehr zu retten.
In Corona-Zeiten hinken die Gesundheitsämter quasi per Definition der Pandemie-Dynamik hinterher. Sie sollen „Großbrände“ löschen, nach „Brandstiftern“ suchen und gleichzeitig auch noch „schwelende Glutnester“ entdecken, obwohl es ihnen an technischer Infrastruktur und adäquat ausgebildetem Personal mangelt. „Ich habe 200 offene Stellen“, so der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, in einer Pressekonferenz am 9. Oktober 2020.
Eine Anfang September durchgeführte Umfrage der Süddeutschen Zeitung und NDR und WDR bei den rund 400 Gesundheitsämtern zeigt, dass die Lage im August durchgehend als zufriedenstellend beurteilt wurde [Süddeutsche Zeitung, 23. September 2020]. 85,2% der Gesundheitsämter gaben an, dass es ihnen gelungen sei, alle von einem neuen COVID-19-Fall genannten Kontaktpersonen zu kontaktieren und weitere 13,4% meldeten, dass sie „fast alle“ vermuteten Kontaktpersonen erreicht hätten. Das ist im Vergleich zu den Nachbarländern ein hervorragender Wert: in Großbritannien werden ein Drittel der möglichen Kontaktpersonen nicht erreicht. In Spanien ist die Infektionskettennachverfolgung nahezu komplett eingestellt, weil die schiere Zahl der Neuinfektionen eine Nachverfolgung unmöglich macht.
Allerdings waren auch schon im August die Unterschiede von Region zu Region erheblich: Während das Gesundheitsamt des Landkreises Leipzig im August im Durchschnitt 25 Kontaktpersonen pro neuem Fall ermittelte, waren es in Tübingen nur 1,7. Im Landesmittel wurde in Sachsen im Durchschnitt eine Nachverfolgungsrate von 10, in Baden-Württemberg dagegen nur von 3,6 erreicht.
Mitte April hatten die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten in einer Bund-Länder-Konferenz beschlossen, dass pro 20.000 Einwohner ein Team aus fünf geschulten Mitarbeitern in jedem Gesundheitsamt sich um die Ermittlung von Kontaktpersonen kümmern sollten. Bayern mit seinen 13 Millionen Einwohnern müsste also 650 solcher Teams haben. Nach einer Auskunft der bayerischen Landesregierung waren zu diesem Zeitpunkt aber nur 288 solcher Teams vorhanden. Baden-Württemberg müsste, gemessen an der Bevölkerungszahl, 553 Containment-Scout-Teams besitzen, tatsächlich gab es dort aber nur 292, bis Ende der Woche sollten es 314 Teams sein. In Hessen gab es 268 Teams, gefordert waren 313, im Saarland existierten 34, nötig wären 50 gewesen. Nur Bremen hatte zum Zeitpunkt der Umfrage ausreichend Personal für die Infektionskettennachverfolgung.
Phantasienamen, falsche Telefonnummern, nichtexistierende Adressen, fehlerhaftes Datum und unleserliche, weil mit Küchenfett getränkte Meldeformulare sind nur ein Problem der Kontaktnachverfolgung. Die Nachverfolgung einer Infektionskette bis in das letzte Glied – letztendlich die einzige Möglichkeit, den Reproduktionsfaktor R konstant unter oder bei 1 zu halten – hakt an mehreren Stellen. Trifft ein Testergebnis aus dem Labor erst nach einigen Tagen ein (bei rund 1,2 Millionen Testungen mittels PCR pro Woche sind die Labors an ihren logistischen Grenzen), kann eine infektiöse Kontaktperson bereits mehrere andere Personen angesteckt haben. Die ursprüngliche Infektionskette hätte sich dann schon verzweigt, bevor sie von den Mitarbeitern des Gesundheitsamts abgearbeitet werden kann.
Darth Vader und Lucky Luke
Ein beliebter Treffpunkt im Hamburger Schanzenviertel ist die schummrig beleuchtete Bar „Katze“. Hier treffen sich Abend für Abend Szenegänger und Nicht-Hanseaten. Das Gedränge ist groß, und selbst vor der Tür steht man auf Tuchfühlung. Anfang September veröffentlichte das Gesundheitsamt Hamburg-Altona den eher hilflos klingenden Aufruf: „Wer die Bar ,Katze‘ am 5., 8. oder 9. September jeweils ab 19 Uhr bzw. in den Nachtstunden“ besucht habe, möge sich bitte bei der Corona-Hotline melden und sich umgehend in Quarantäne begeben. Bei mehreren Kellnern sei eine SARS-CoV-2-Infektion festgestellt worden. Aufgrund der räumlichen Verhältnisse müssten sämtliche Besucher als Kontaktpersonen gelten. Die feucht-fröhlichen Abende in der Katze hatten somit das Zeug, zu einem ausbruchfördernden Ereignis im Großformat zu werden. Die vom Betreiber an das Gesundheitsamt übergebenen Gästelisten waren allerdings für die Infektionskettennachverfolgung wertlos. Anstelle ihres Namens hatten die Besucher „Darth Vader“ oder „Lucky Luke“ notiert. War der Name plausibel, so war häufig die Adresse fingiert.
Je länger ein Ereignis zurückliegt, bei dem man sich möglicherweise infiziert oder andere angesteckt hat, umso weniger zuverlässig wird das Erinnerungsvermögen. In der Infektionsepidemiologie ist dieses Phänomen als Recall-Bias bekannt. Nach Alkoholgenuss ist ein Recall-Bias besonders hoch. Alkoholgenuss nivelliert also nicht nur die Einhaltung von Hygieneregeln und Mindestabstand, sondern benebelt das Gedächtnis und erschwert somit auch die Infektionskettennachverfolgung.
Der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Prof. Dr. Karl Lauterbach empfiehlt deshalb, die extrem zeitaufwendige Nachverfolgung von Infektionsketten radikal zu ändern. Stellt sich heraus, dass eine positiv diagnostizierte Person an einem typischen Infektionscluster teilgenommen hat – in einem Restaurant, einer Bar, bei einer Familienfeier, in einer Mitarbeiterbesprechung – so werden alle Beteiligten sofort in Quarantäne geschickt. Eine Testung wird erst später durchgeführt. So wird verhindert, dass sich Infektionsketten verzweigen.
Wie viele Gesundheitsämter bereits an ihrer Kapazitätsgrenze sind oder diese bereits überschritten haben, ist unbekannt. „Die Zahlen steigen auf besorgniserregende Weise an, und das so stark, dass die Gesundheitsämter die für die Kontrolle der Pandemie so wichtige Kontaktnachverfolgung nicht mehr gewährleisten können“, summiert der Leiter des Gesundheitsamtes Stuttgart, Prof. Dr. Stefan Ehehalt, die Lage. Die Bundeskanzlerin formulierte nach einer Konferenz mit den Bürgermeistern großer Städte das Problem ähnlich, aber verklausuliert. „Die Zahlen steigen so sprunghaft an, dass der Punkt, an dem die Kontaktverfolgung nicht mehr gelingt, mancherorts schon beinahe erreicht zu sein scheint.“ In klare Sprache übersetzt bedeutet das, dass in Regionen mit mehr als 50 neuen Fällen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen die Infektionskettennachverfolgung kollabiert ist.
Auf Messers Schneide
Mit seiner Ansage „Die Pandemie wird jetzt erst richtig losgehen“ hat Christian Drosten, ein weltweit renommierter Kenner von SARS-CoV-2, bereits im August das Menetekel einer weltweiten zweiten Welle auf die Wand gemalt. An Warnungen durch andere in- und ausländische Fachleute, von Institutionen und Gesundheitspolitikern, die sich seit August abzeichnende Entwicklung ernst zu nehmen, hat es nicht gefehlt. So haben alle in Deutschland zuständigen medizinischen Fachgesellschaften Stellungnahmen mit einer ähnlichen Aussage veröffentlicht. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die nicht nur die Gesundheit, sondern auch soziale und wirtschaftliche Aspekte im Blick hat, veröffentlichte gerade ihr sechstes Ad-hoc-Dokument zur Corona-Krise [3]. Fazit der Leopoldina-Wissenschaftler: Politische Vorgaben müssen auf Bundesebene einheitlich sein, und konsequentes Handeln ist erforderlich, um die Pandemie nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Dazu gehören laut Leopoldina beispielsweise ein Konzept für sicheren Unterricht an den Schulen, aber auch Bußgelder, um Anordnungen mehr Nachdruck zu verleihen.
Übersetzt in praktische Realität verlangen die Fachleute, dass wir aufhören müssen, gesundheitspolitische Kleinstaaterei zu betreiben. Ob in Bielefeld oder Bremen Fußball gespielt wird, ist genauso irrelevant für die Dynamik der Pandemie wie in kurzlebigen Verordnungen zu reglementieren, dass, „wer ohne triftigen Grund aus Schleswig-Holstein nach Hamm reist und sich dort mehr als 48 Stunden aufhält, nach der Rückkehr in häusliche Quarantäne muss“.
Die im Folgenden genannten Punkte werden darüber entscheiden, ob uns die Kontrolle der Pandemie aus der Hand gleitet.
- Anti-Corona-Infektionsschutzmaßnahmen müssen bundesweit gelten. Gesundheitsämter können für ihr Einzugsgebiet in begründeten Fällen Ausnahmen gewähren. Dadurch würden Regionen mit niedrigen Inzidenzen belohnt – und nicht Bewohner eines anhand einer abstrakten Maßzahl definierten „Hochrisikogebietes“ bestraft. Das Infektionsschutzgesetz muss entsprechend angepasst werden.
- Ab einem Grenzwert von 30 Neuinfektionenpro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche bekommen die Gesundheitsämter Unterstützung durch den Sanitätsdienst der Bundeswehr. Zum Nachverfolgen von Infektionsketten werden die Gesundheitsämter optimal mit Hardware und Software ausgestattet. Dazu gehört auch eine Modifikation der Corona-Warn-App, die den Gesundheitsämtern hilft, Kontaktpersonen rasch zu identifizieren.
- Es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass eine Corona-Dynamik, die bereits in der exponentiellen Wachstumsphase ist, durch simple Hygieneregeln ausgebremst werden kann. Erforderlich sind auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende flächendeckende Infektionsschutzmaßnahmen. Für Beherbergungsverbote und andere infektionsmedizinische Kleinkrämerei gibt es keine wissenschaftliche Evidenz.
- Bei vermuteten Infektionsclustern wird die Anordnung von häuslicher Quarantäne breit angelegt und umgehend durchgeführt. Die Dauer der Selbstisolierung wird auf zehn Tage begrenzt. Durch klug gestaffeltes Testen der Isolierten kann die Quarantäne verkürzt werden. Das Testen könnten mobile Einheiten des Sanitätsdiensts der Bundeswehr übernehmen.
- Überall dort, wo Menschen in geschlossenen Räumen arbeiten, lernen, einkaufen, sich treffen oder sich fortbewegen, ist die Übertragung durch Aerosole das entscheidende Infektionsrisiko. Hier sind je nach Setting smarte Lösungen gefragt: CO2-Ampeln zeigen an, wann eine Lüftung erforderlich ist. Umluftanlagen werden abgeschaltet und durch mobile Filtergeräte ersetzt. UVC-Licht über Nacht inaktiviert Viren auf Oberflächen und in der Luft [4]. Die Anschaffung der technischen Ausrüstung könnte aus Bundesmitteln gefördert werden. Konsequenter Mund-Nasen-Schutz ergänzt die technischen Maßnahmen, macht diese aber nicht überflüssig.
- Entscheidend für alle Maßnahmen ist, dass sie so kommuniziert und begründet werden, dass sie für die Menschen glaubhaft und nachvollziehbar sind. Nur das erhöht die Akzeptanz und fördert Einsicht und Umsicht bei den Betroffenen. Das von den Gesundheitsbehörden verursachte Debakel mit dem Mund-Nasen-Schutz hat Misstrauen gesät und vermindert nach wie vor die Akzeptanz dieser effektiven Schutzmaßnahme.
Machen wir weiter so wie bisher, steht der nächste Shutdown vor der Tür. In den Niederlanden ist das Szenario bereits seit dem 14. Oktober Realität. |
Literatur
[1] Young BE et al. Effects of a major deletion in the SARS-CoV-2 genome on the severity of infection and the inflammatory response: an observational cohort study. Lancet 2020;396(10251):603-611, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)31757-8
[2] Korber B et al. Tracking Changes in SARS-CoV-2 Spike: Evidence that D614G Increases Infectivity of the COVID-19 Virus. Cell 2020;182(4): 812-827.e19, https://doi.org/10.1016/j.cell.2020.06.043
[3] Coronavirus-Pandemie: Wirksame Regeln für Herbst und Winter aufstellen. 6. Ad-hoc-Stellungnahme zur Coronavirus-Pandemie vom 23. September 2020, herausgegeben von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/coronavirus-pandemie-wirksame-regeln-fuer-herbst-und-winter-aufstellen-2020/
[4] Heilingloh CS et al. Susceptibility of SARS-CoV-2 to UV irradiation. American Journal of Infection Control 2020;48(10):1273-1275, https://doi.org/10.1016/j.ajic.2020.07.031
[5] Schneider MF. Corona im Herbst: „Wir können Corona noch stoppen“. Zeit Online vom 9. September 2020, www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-09/corona-ausbruch-stoppen-physik-neuinfektionen-perkolation-zweite-welle
[6] Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 15. Oktober 2020. Robert Koch-Institut (RKI), www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html
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