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- DAZ 36/2020
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Arzneimittel und Therapie
Acetyl-Cholinesterase-Inhibitoren
Die irreversible Hemmung kann tödliche Folgen haben
Der Neurotransmitter Acetylcholin spielt sowohl im peripheren und auch zentralen Nervensystem eine wichtige Rolle. Peripher übermittelt Acetylcholin an der neuromotorischen Endplatte die Signalübertragung von Nerven auf die Muskeln. Wichtige zentrale Acetylcholin-Gebiete sind das Corpus striatum, der Nucleus basalis Meynert und die Formatio septalis medialis.
Acetylcholin fungiert als wichtigster Neurotransmitter aller autonomen – also parasympathisch und sympathisch – präganglionären Neurone. Zudem vermittelt er beim Parasympathikus auch postganglionär die Signalübertragung. Beim Sympathikus dagegen ist Noradrenalin der wichtigste postganglionäre Neurotransmitter – einzige Ausnahme bilden die Schweißdrüsen, die, obwohl sympathisch innerviert, Acetylcholin als postganglionären Neurotransmitter nutzen. Nach der Freisetzung wird Acetylcholin rasch durch die Acetyl-Cholinesterase in der prä- und postsynaptischen Membran inaktiviert. Diese spaltet den Neurotransmitter in Cholin und Essigsäure, wobei Cholin wieder in das Axon aufgenommen und Essigsäure über den Blutweg abtransportiert wird. Im Axon entsteht dann mithilfe der Acetylcholin-Transferase aus Cholin und Acetyl-CoA neues Acetylcholin. Dieses bindet an Nicotin- oder Muscarin-Rezeptoren. Nicotin-Rezeptoren sind ligandengesteuerte Ionenkanäle, an welchen auch Nicotin agonistisch wirkt. Muscarin-Rezeptoren (M1 bis M5) sind G-Protein-gekoppelt, hier wirkt Muscarin agonistisch. Acetylcholin bewirkt, dass
- der Blutdruck und die Herzfrequenz sinkt (Bradykardie),
- die Speichel-, Magensaft-, Bronchial- und Schweißsekretion steigt,
- der Tonus der glatten Muskulatur des Magen-Darmkanals und der ableitenden Harnwege und der Bronchialmuskulatur steigt,
- sich die Pupille verengt (Miosis) und das Auge auf den Nahpunkt akkomodiert.
Therapeutikum versus Gift
In der Pharmazie werden reversible Cholinesterase-Hemmer therapeutisch genutzt: Die Carbaminsäure-Derivate Physostigmin, Neostigmin, Pyridostigminbromid und Distigminbromid hemmen reversibel das aktive Zentrum der Acetyl-Cholinesterase (AChE), erhöhen dadurch die Konzentration von Acetylcholin im synaptischen Spalt und verstärken folglich dessen Wirkung. Sie werden auch als indirekte Parasympathomimetika bezeichnet und werden beispielsweise bei postoperativen Beschwerden (Darmatonie, verzögertes postoperatives Erwachen, Kältezittern), aber auch bei Blasenentleerungsstörungen und als Antidot (Physostigmin, Anticholium®) eingesetzt. Weiter werden die Acetyl-Cholinesterase-Hemmer Donepezil, Galantamin und Rivastigmin als Antidementiva eingesetzt.
Neben reversiblen Acetyl-Cholinesterase-Hemmstoffen, die als Arzneimittel eingesetzt werden, gibt es auch Substanzen, die das Enzym irreversibel blockieren – beispielsweise Organophosphate. Sie sind toxikologisch relevant – als Kampfgase wie Sarin oder die Nervengifte der Nowitschok-Gruppe – und werden auch als Insektizide (Parathion = E605) eingesetzt. Wie Acetylcholin binden auch die Organophosphate an das katalytische Zentrum der Acetylcholin-Esterase. Marquardt, Schäfer und Barth erklären in ihrem Fachbuch „Toxikologie“ die Wirkungsweise wie folgt (s. Abb. 1): „Nach Abspaltung des Acylrests reagiert die elektrophile, positiv geladene P-Gruppe des Organophosphats mit der funktionellen OH-Gruppe eines Serinrests im nukleophilen, katalytischen Zentrum der Cholinesterase. Diese Organophosphat-Enzymbindung ist jedoch noch instabil, sodass die Acetylcholinesterase spontan oder durch nukleophile Oxime reaktivierbar ist.“
Frühzeitig Antidot anwenden
Zur Erklärung: Bei den Antidoten Obidoxim (Toxogenin®) und Pralidoxim werden die Phosphatgruppen, die die Acetyl-Cholinesterase blockieren, auf das Oxim übertragen. Das funktioniert allerdings nur in einem gewissen Zeitfenster: Denn wird ein „weiterer Substituent vom Organophosphat abgespalten, geht der monosubstituierte Phosphorsäurerest eine stabile Bindung mit dem Enzym ein, die nicht mehr durch Oxime reaktivierbar ist“. Dieser sogenannte Alterungsprozess dauert Marquardt, Schäfer und Barth zufolge in Abhängigkeit vom Wirkstoff mehrere Stunden bis Tage. Besonders schnell verläuft die Enzymhemmung bei Soman, neben Sarin und Tabun der dritte in Deutschland entwickelte chemische Kampfstoff, mit einer Halbwertszeit von nur 1,3 Minuten. Für Sarin wird eine Halbwertszeit von etwa drei Stunden angegeben.
Als Antidot wird weiterhin, wie auch bei Alexej Nawalny geschehen, Atropin eingesetzt. Dieses kann als Anticholinergikum der Acetylcholin-Flutung entgegenwirken, indem es die Acetylcholin-Rezeptoren des parasympathischen Systems blockiert (Parasympatholytikum).
Lähmt Herz und Lungen
Die physiologischen Effekte durch Organophosphate, wie Nowitschok, lassen sich auf eine Anreicherung von Acetylcholin im zentralen und peripheren Nervensystem zurückführen. An muscarinergen Rezeptoren führt Acetylcholin zu muscarinergen Wirkungen, wie gesteigertem Tränen- und Speichelfluss, erhöhter Bronchialsekretion, gesteigerter Magen-Darm-Sekretion und Peristaltik mit Spasmen, Miosis (Pupille verengt) und Sehstörungen, Bradykardie, Blutdrucksenkung und vermehrter Schweißsekretion. Reichert sich der Neurotransmitter an nicotinischen Rezeptoren der parasympathischen und sympathischen Ganglien und der motorischen Endplatte an, kommt es zu Muskelsteife, Tremor, Muskelzuckungen, tonisch-klonischen Krämpfen, Sprachstörungen und Parästhesien, Bewusstseinsstörungen bis hin zur Atemlähmung. Zunächst kommt es durch die Acetylcholin-Flutung zu einer Dauererregung mit Kontraktion der Muskulatur, dieser schließt sich eine Lähmung an. Letztlich sterben die Opfer durch die Blockade der Atmung und des Herzmuskels.
Daneben gibt es noch einen weiteren Angriffsort der Organophosphate: die neurotoxische Esterase. Auch diese wird durch Phosphorylierung gehemmt. Neurotoxische Wirkungen, primär das Axon betreffende Schädigung und auch Destruktion der Myelinscheiden sind die Folge. Sie können mit einer Latenzzeit von bis zu vier Wochen auftreten und äußern sich in Parästhesien der unteren Extremitäten, Schwäche, Ataxie, spastische Paralyse, die sodann auch die oberen Extremitäten betrifft. Häufig bilden sich die Symptome nur sehr langsam und unvollständig zurück.
Bislang ist unklar, mit welcher Substanz aus der Gruppe der Acetyl-Cholinesterase-Hemmer Alexej Nawalny womöglich vergiftet wurde. Die russische Regierung in Moskau dementiert aktuell noch den Tatverdacht einer Vergiftung und bezeichnet die Diagnose der Berliner Charité-Ärzte als „voreilig“. Laut Deutschlandfunk will Moskau erst dann Ermittlungen einleiten, wenn eine konkrete Substanz nachgewiesen wurde. |
Literatur bei den Verfassern
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