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Pandemie Spezial
Corona-Ansteckungsgefahr früher als bisher angenommen?
Neubewertung einer Studie wirft Fragen auf
Mit SARS-CoV-2 infizierte Personen können das Virus bereits vor Auftreten erster Symptome auf andere übertragen und stellen somit eine potenzielle Gefahr für ihre Mitmenschen dar. Aber ab wann setzt die Ansteckungsgefahr tatsächlich ein?
Bisher sind Fachleute davon ausgegangen, dass SARS-CoV-2-Infizierte bis zu zwei Tage vor Auftreten der ersten Symptome einer COVID-19-Erkrankung ansteckend sind, mit der höchsten Infektiosität kurz vor Beginn der Krankheit. Diese Annahme basiert insbesondere auf Ergebnissen einer im April dieses Jahres in der Fachzeitschrift „Nature Medicine“ veröffentlichten Studie von chinesischen Wissenschaftlern. Nicht zuletzt auf Grundlage dieser Daten empfiehlt das Robert Koch-Institut (RKI) in seinem SARS-CoV-2-Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 eine Kontaktrückverfolgung von zwei Tagen.
Wissenschaftler der ETH Zürich decken Kalkulationsfehler auf
Neue Berechnungen einer Arbeitsgruppe an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich zeigen jedoch ein anderes Bild. Demnach werden bei einer Kontaktnachverfolgung bis zwei Tage vor Symptombeginn nur 61% der insgesamt präsymptomatisch Infizierten erfasst. Die in der Originalarbeit angewandten Analysen hatten hier fälschlicherweise einen Prozentsatz von 98% ergeben. Peter Ashcroft und seine Kollegen zeigen jedoch in ihrer Anfang August 2020 im Journal „Swiss Medical Weekly“ veröffentlichten Arbeit, dass erst bei einer Nachverfolgungszeit von fünf Tagen ein Prozentsatz von 97% erreicht wird. Mindestens vier anstatt zwei Tage müssten die Kontakte zurückverfolgt werden, um 90% der präsymptomatischen Ansteckungen zu erfassen.
Die Autoren der Originalpublikation, Xi He und seine Kollegen, haben ihre Studie inzwischen korrigiert und die präsymptomatische COVID-19-Ansteckungsgefahr nach Rekalkulation neu eingeschätzt. In Übereinstimmung mit den Schweizer Wissenschaftlern gelangen sie zu dem Ergebnis, dass eine Ansteckungsgefahr bereits fünf bis sechs Tage vor Auftreten der ersten Symptome einsetzt und bis zum Krankheitsausbruch deutlich ansteigt. Der Anteil präsymptomatischer Übertragungen liegt insgesamt bei 44%.
Muss die Strategie der Kontaktverfolgung geändert werden?
Es stellt sich die Frage, ob die neuen Daten Konsequenzen für die derzeitige Strategie der Kontaktverfolgung und damit im Zusammenhang stehender Quarantänemaßnahmen haben sollten. Auf Anfrage der DAZ beim Robert Koch-Institut teilte eine Sprecherin des Institutes mit, dass die Festlegung der Nachverfolgung von Kontaktpersonen auf zwei Tage vor Symptombeginn auf Grundlage verschiedener Studien sowie eigener Erfahrungen bereits im Januar 2020 erfolgte. Damit habe man bisher gute Erfahrungen gemacht. Darüber hinaus gibt es laut RKI die „Einschätzung aus der Praxis, Modellierungen mit einer gewissen Vorsicht in Entscheidungen einzubeziehen. Zum Beispiel ist nur sehr selten beschrieben, was genau als ‚Symptombeginn‘ definiert ist. Aus dem Webasto-Cluster wissen wir, dass dieser sehr schleichend sein kann und ein oder mehrere Tage an leichter Symptomatik einer ‚typischeren‘ vorausgehen kann. Dies kann aber dazu führen, dass in einer gegebenen Studie systematisch (oder gar unsystematisch) der Tag des Symptombeginns zu spät verortet wird, und dadurch auch der präsymptomatisch-infektiöse Anteil überschätzt wird.“ Das Robert Koch-Institut wird die nun korrigierte Corona-Studie dennoch „gründlich überprüfen“. |
Literatur
[1] Ashroft P et al. COVID-19 infectivity profile correction, Swiss Medical Weekly 2020
[2] He X et al. Temporal dynamics in viral shedding and transmissibility of COVID-19, Nature Medicine 2020, published online 15 April 2020, doi: 10.1038/s41591-020-0869-5
[3] He et al. Author Correction: Temporal dynamics in viral shedding and transmissibility of COVID-19, Nature Medicine 2020, doi: 10.1038/s41591-020-1016-z
[4] SARS CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Informationen des Robert-Koch-Instituts, Stand 7. August 2020, www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html
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