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- DAZ 34/2020
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Arzneimittel und Therapie
Auf dem falschen Dampfer!
Neuer Review stellt Nutzen der LDL-Senkung infrage und bleibt nicht unwidersprochen
Fortschritte in der Behandlung der Volkskrankheit Nr. 1, der Erkrankungen des kardiovaskulären Systems, sind bislang in weiten Teilen der klinischen Forschung zu verdanken. Die Erkenntnis, dass Gesamtcholesterol ein wichtiger Parameter in der Bestimmung des kardiovaskulären Risikos ist, aber nur die LDL-Cholesterol-Serumkonzentrationen (LDL-C) mit dem Verlauf, mit den klinischen Endpunkten korrelieren, kristallisierte sich in zahllosen Statin-Studien über drei Jahrzehnte zunehmend deutlich heraus. Wie ein Boxchampion wurden die Statine immer wieder zur Verteidigung des Titels herausgefordert. Diesem Umstand haben wir immerhin eine Studienlage zu verdanken, die so umfangreich und eindeutig ist, wie bei kaum einer anderen Wirkstoffklasse. Was mit der Veröffentlichung der 4S-Studie im Jahr 1994 begann, wurde unter anderem durch die ASCOT-LLA Study und die Heart Protection Study bestätigt [1, 2, 3]. Kritiker bezweifelten immer wieder die Übertragbarkeit der klaren Studienergebnisse auf besondere Patientengruppen. Der Nutzen der Statine wurde dann 2006 in der CARDS Study auch bei älteren Patienten (65 bis 75 Jahre) gefunden und 2008 in einer Metaanalyse von Afilalo et al. sowie jüngst einer Metaanalyse der Cholesterol Treatment Trialistsʼ (CTT) Collaboration, bestätigt [4, 5, 6]. Selbst für gesunde Probanden mit nur einem einzigen erhöhten Risikofaktor (hier erhöhtes hochsensitives C-reaktives Protein) konnte der Statin-Nutzen in der JUPITER Studie dargelegt werden [7].
Selbsterfüllende Prophezeiung: Muskelschmerzen
Was so gut wirkt und so wenig Nebenwirkungen hat, muss doch einen Haken haben? Bedingt durch den Lipobay®-Skandal hat sich bei Patienten, Ärzten und Apothekern das myotoxische Potenzial hartnäckig festgesetzt. Obgleich Rhabdomyolysen bei bestimmungsgemäßem Gebrauch und in Abwesenheit von Arzneimittelinteraktionen kaum noch beobachtet werden, verspüren Patienten unter Statinen ähnlich häufig wie unter Placebo eindeutige Muskelschmerzen [8]. Dieses Statin assoziierte Muskelsyndrom (SAMS) mag zwar in den meisten Fällen wenig real sein, ist aber in der Apothekenpraxis eine ernst zu nehmende Hürde für die erforderliche Langzeittherapie. Mit Ezetimib und Bempedoinsäure stehen effektive Kombinationspartner zur Verfügung, die dabei helfen können, die Statindosierungen niedrig zu halten. Sinnvoll wären sonst eigentlich 80 mg Atorvastatin oder 40 mg Rosuvastatin pro Tag, denn in diesen Dosierungen ist der Effekt dieser beiden besonders wirksamen Statine am ausgeprägtesten. Beflügelt durch den Einsatz der besonders potenten PCSK9-Hemmer setzte sich dann die ‚The-lower-the-better‘-Hypothese durch, da in der FOURIER-Studie festgestellt wurde, dass das kardiovaskuläre Risiko auch bei Werten unter 70 mg/dl weiter reduziert werden kann und dass auch sehr niedrige Werte nicht zu den zuvor befürchteten unerwünschten Wirkungen führen [9].
Wir sind für den Kampf gegen die Atherosklerose-bedingten Volkskrankheiten also eigentlich bestens munitioniert – würde man meinen.
Noch immer gilt es jedoch, die Barrieren in den Köpfen zu überwinden. Um immer wieder aufkommende Zweifel endgültig im Keim zu ersticken, führten Collins et al. 2016 einen „abschließenden“ Review der kontrollierten randomisierten Studien durch, der alle Ergebnisse zur Statintherapie inklusive der Nebenwirkungen quantifizierte und mit Ratschlägen im Lancet flankierte [10]. Die jährlich wiederholte Arte-Reportage „Cholesterin, der große Bluff?“ spricht allerdings sehr viel mehr Patienten an als ein trockener Review, und auch in Fachkreisen hört man oft, dass das Thema Cholesterolsenkung zu komplex sei, und man mit den Leitlinienänderungen kaum Schritt halten könne.
Der umstrittene Review – kurz zusammengefasst
hb | In der Atheroskleroseforschung herrscht seit jeher die Meinung: Eine ausreichende Senkung des LDL-Cholesterol-Wertes reduziert das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern um DuBroff kommt jetzt zu einem ganz anderen Ergebnis und fordert ein Umdenken. Sie hatten 35 randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) zur LDL-Cholesterol-Senkung in einem systematischen Review neu bewertet und Anfang August 2020 im BMJ Evidence-Based Medicine veröffentlicht. Alle Studien beobachteten dabei Probanden aus den Zielgruppen, die nach den gängigen Leitlinien von einer LDL-Senkung profitieren, und die alle entweder mit HMG-CoA-Reduktase-Hemmer (Statin), dem Cholesterol-Absorptions-Inhibitor Ezetimib oder einem Proprotein-Convertase-Subtilisin/Kexin-Typ-9-(PCSK9)-Inhibitoren behandelt wurden. Die Forscher konnten keine Relation zwischen dem Ausmaß der LDL-Senkung und einem klinischen Effekt feststellen. So wurden in 13 RCTs zwar die LDL-Cholesterol-Zielwerte erreicht, aber lediglich in einem wurde ein Mortalitätsvorteil und bei fünf ein reduziertes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse festgestellt. Dahingegen wurden in mehr als der Hälfte (22) der bewerteten Studien der LDL-Cholesterol-Zielwert nie erreicht, und trotzdem wiesen die Probanden ein geringeres Risiko zu sterben oder ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden auf. Zwar senkten die PCSK9-Hemmer den LDL-Wert am deutlichsten, jedoch konnten keine geringere Sterblichkeit oder reduzierte Herz-Ereignisse detektiert werden. Einschränkend waren laut den Autoren der Studie unter anderem die hohe Variabilität der Studienteilnehmer und der Studiendauer. Außerdem wurden einige bedeutende Studien zu der Thematik aufgrund der Auswahlkriterien nicht mit eingeschlossen. Dennoch fordern die Forscher, aufgrund ihrer Erkenntnisse den Nutzen einer LDL-Senkung erneut zu bewerten.
Neuer Review wirbelt auf
Kommt ein Störfeuer da also gerade Recht? DuBroff et al. zündelten jüngst mit einem Review of Reviews, also einer Übersichtsarbeit zu den verfügbaren Statin-Reviews am Dogma der LDL-Cholesterol-Senkung (s. Kasten: „Umstrittener Review – kurz zusammengefasst“). Zwar findet auch diese Studie einen Zusammenhang zwischen LDL-Cholesterol und Mortalität, die inkonsistenten Studienergebnisse und ein nicht linearer Zusammenhang werden aber kritisiert. Studien werden danach bewertet, ob das Cholesterol-Ziel erreicht wurde oder nicht. Hierbei stellt man fest, dass auch in denjenigen Studien, in denen das LDL-Cholesterol-Ziel nicht erreicht wurde, eine Mortalitätssenkung resultierte. So kommt man zu dem Fazit, dass die LDL-Cholesterol-Senkung generell infrage zu stellen sei. Dass aber auch in den Fällen, in denen das Ziel nicht ganz erreicht wurde eine (geringere) LDL-Cholesterol-Senkung erfolgte, und dass die Studienbedingungen in den sich inzwischen über fast 30 Jahre erstreckenden, dutzenden von berücksichtigten Studien natürlich nicht immer exakt gleich sind, dass sich auch die Probandenkollektive selbstverständlich unterscheiden, wird hier außer Acht gelassen. Studien, in denen die Mortalitätssenkung kein Endpunkt war (sondern andere Parameter), werden schlicht in den dann ziemlich großen Topf der zahlreichen Studien mit fehlendem Nachweis der Mortalität geschmissen und als Gegenargument bewertet. Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker und ein Grund, warum die ehemaligen amerikanischen Leitlinien von 2013 einen viel kritisierten, aber einfach verständlichen Ansatz der Lipidsenkung verfolgten: vier Indikationen, die direkt mit Atorvastatin 80 mg zu therapieren seien.
Der Apotheker als Gefährte
Ob wir in Deutschland die Sterblichkeit der Atherosklerose-bedingten großen Volkskrankheiten Herzinfarkt und ischämischer Schlaganfall senken können, hängt also ganz wesentlich davon ab, ob die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte implementiert werden. Nahezu jeder Patient mit einem durchlebten kardiovaskulären Ereignis bedarf einer Statintherapie in der maximal verträglichen Dosierung. In der Primärprävention ist eine Lipidtherapie sinnvoll bei Patienten mit Atherosklerose, Diabetes mit Organschädigung oder mehr als 20 Jahren Typ-1-Historie, glomerulärer Filtrationsrate < 30 ml/min, familiärer Vorbelastung oder mittels SCORE berechnetem erhöhten kardiovaskulären Risiko. Apotheker können nicht nur gut zureden, sondern ganz konkret die Adhärenz fördern. Sie können Screenings durchführen, Patienten mit hohem Risiko identifizieren und in Medikationsanalysen eine leitliniengerechte Therapie fördern. Der Nutzen des Apothekers beim Erreichen der Therapieziele konnte in zahlreichen Studien zweifelsfrei nachgewiesen werden [11, 12, 13]. Lassen wir uns nicht verwirren! |
Literatur
[1] SCANDINAVIANSIMVASTATINSURVIVAL. Randomised trial of cholesterol lowering in 4444 patients with coronary heart disease: The Scandinavian Simvastatin Survival Study (4S). The Lancet 1994. doi:10.1016/S0140-6736(94)90566-5
[2] Sever PS, Dahlöf B, Poulter NR, Wedel H, Beevers G, Caulfield M, et al. Prevention of coronary and stroke events with atorvastatin in hypertensive patients who have average or lower-than-average cholesterol concentrations, in the Anglo-Scandinavian Cardiac Outcomes Trial--Lipid Lowering Arm (ASCOT-LLA): A multicentre randomised controlled trial. Lancet. 2003;361:1149-58. doi:10.1016/S0140-6736(03)12948-0
[3] Heart PSCG. Effects on 11-year mortality and morbidity of lowering LDL cholesterol with simvastatin for about 5 years in 20,536 high-risk individuals: A randomised controlled trial. Lancet. 2011;378:2013–20. doi:10.1016/S0140-6736(11)61125-2
[4] Neil HAW, DeMicco DA, Luo D, Betteridge DJ, Colhoun HM, Durrington PN, et al. Analysis of efficacy and safety in patients aged 65-75 years at randomization: Collaborative Atorvastatin Diabetes Study (CARDS). Diabetes Care. 2006;29:2378-84. doi:10.2337/dc06-0872
[5] Armitage J, Baigent C, Barnes E, Betteridge DJ, Blackwell L, Blazing M, et al. Efficacy and safety of statin therapy in older people: a meta-analysis of individual participant data from 28 randomised controlled trials. The Lancet. 2019;393:407–15. doi:10.1016/S0140-6736(18)31942-1
[6] Afilalo J, Duque G, Steele R, Jukema JW, Craen AJM de, Eisenberg MJ. Statins for secondary prevention in elderly patients: a hierarchical bayesian meta-analysis. J Am Coll Cardiol. 2008;51:37-45. doi:10.1016/j.jacc.2007.06.063
[7] Ridker PM, Danielson E, Fonseca FAH, Genest J, Gotto AM, Kastelein JJP, et al. Rosuvastatin to prevent vascular events in men and women with elevated C-reactive protein. N Engl J Med. 2008;359:2195-207. doi:10.1056/NEJMoa0807646
[8] Stock J. Statin-associated muscle symptoms EAS Consensus Panel paper focuses on this neglected patient group. Atherosclerosis. 2015;242:346-50. doi:10.1016/j.atherosclerosis.2015.06.049
[9] Sabatine MS, Giugliano RP, Keech AC, Honarpour N, Wiviott SD, Murphy SA, et al. Evolocumab and Clinical Outcomes in Patients with Cardiovascular Disease. N Engl J Med. 2017;376:1713-22. doi:10.1056/NEJMoa1615664
[10] Collins R, Reith C, Emberson J, Armitage J, Baigent C, Blackwell L, et al. Interpretation of the evidence for the efficacy and safety of statin therapy. Lancet. 2016;388:2532–61. doi:10.1016/S0140-6736(16)31357-5
[11] Tsuyuki RT, Johnson JA, Teo KK, Simpson SH, Ackman ML, Biggs RS, et al. A randomized trial of the effect of community pharmacist intervention on cholesterol risk management: the Study of Cardiovascular Risk Intervention by Pharmacists (SCRIP). Arch Intern Med. 2002;162:1149–55. doi:10.1001/archinte.162.10.1149
[12] Lowrie R, Lloyd SM, McConnachie A, Morrison J. A cluster randomised controlled trial of a pharmacist-led collaborative intervention to improve statin prescribing and attainment of cholesterol targets in primary care. PLoS ONE. 2014;9:e113370. doi:10.1371/journal.pone.0113370
[13] Machado M, Nassor N, Bajcar JM, Guzzo GC, Einarson TR. Sensitivity of patient outcomes to pharmacist interventions. Part III: Systematic review and meta-analysis in hyperlipidemia management. Ann Pharmacother. 2008;42:1195-207. doi:10.1345/aph.1K618
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