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„Widersprüchlich, scheinheilig, naiv“
AVWL-Chef Michels über die politischen Reaktionen auf die Zur-Rose-/TeleClinic-Akquisition
DAZ: Herr Dr. Michels, meinen Sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis eine Vereinigung von Telemedizinanbietern und Arzneimittelversendern in einer Unternehmensgruppe vollzogen wird?
Michels: Wir erleben zurzeit nicht nur eine Phase der Marktkonzentration und des Zusammenschlusses unterschiedlicher Player, sondern auch die Entstehung neuer, teils disruptiver Geschäftsmodelle. Das gab und gibt es in anderen Branchen zwar auch, nur ist das Gesundheitswesen kein Markt wie jeder andere. Dass es derlei Angriffe auf unser Gesundheitssystem geben würde, damit war wohl zu rechnen. Ich hätte nur erwartet, dass der politische Wille, dieses System in der seit Jahrzehnten hoch gelobten Qualität zu erhalten, deutlich resistenter gegenüber den nur allzu durchsichtigen Unternehmungen von DocMorris & Co. ist.
DAZ: Hat die Politik den Blick für das Wesentliche inzwischen verloren?
Michels: Die Politik musste in Zeiten von Corona doch erkennen und einräumen, dass in den zurückliegenden Jahren massive Fehler begangen wurden. Durch einen immer höheren Kostendruck ist unser Gesundheitssystem in eine fatale Abhängigkeit von ausländischen Produktionskapazitäten geraten. Dem will man nun begegnen, indem man die Produktion nach Europa zurückholt – und zugleich setzt man die Versorgung der Bevölkerung mit diesen Gesundheitsgütern und -dienstleistungen einem ungezügelten Preiswettbewerb durch ausländische, fremdkapitalisierte, seitens der inländischen Aufsichtsbehörden nicht kontrollierbare Konzerne aus? Das erscheint mir zutiefst widersprüchlich.
DAZ: Hätte der Gesetzgeber das Ende des Fernbehandlungsverbots Ihrer Meinung nach geschickter einfädeln müssen?
Michels: Es war meines Erachtens nicht der Gesetzgeber, sondern der Ärztetag im Jahr 2018, der durch eine Änderung der ärztlichen Musterberufsordnung für eine weitere Lockerung der Möglichkeit zur Fernbehandlung gesorgt hat. So gesehen hat ein – noch dazu gesetzliches – Verbot also nicht bestanden. Nach der jetzigen Regelung ist eine ausschließlich telemedizinische Beratung oder Behandlung aber auf den Einzelfall beschränkt und auch nur dann zulässig, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die nötige Sorgfalt gewahrt bleibt.
DAZ: Was halten Sie von der Möglichkeit der Fernbehandlung?
Michels: Ich erachte die Fernbehandlung als Ergänzung, aber gerade nicht als Ersatz einer persönlichen Behandlung. Demgemäß könnte ich mir bestimmte Patientengruppen wie beispielsweise manche Chroniker vorstellen, für die eine Fernbehandlung akzeptiert werden könnte. Ebenso gilt dies für die Einholung einer ärztlichen Zweitmeinung. Selbstverständlich gibt es auch in Notfällen, in denen ärztliche Hilfe zeitnah gar nicht erreicht werden kann, keine Alternative. Im Übrigen aber halte ich es für richtig und wichtig, wenn wir an unserem bisherigen Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses festhalten. Heilberufler – erst recht Ärzte – nehmen besonderes, durch eine Vielzahl von Vorschriften geschütztes Vertrauen in Anspruch. Ein solches Vertrauen basiert typischerweise auch auf einem unmittelbaren physischen Kontakt. Kranke Menschen brauchen Nähe und Zuwendung. Die bekommt man nicht per Mausklick.
DAZ: Die Telemedizin hat ja gerade während der Corona-Pandemie einen Boom erlebt. Das Angebot scheint also auf eine große Nachfrage in der Bevölkerung zu stoßen. Inwiefern sollte dieser Bereich stärker reguliert werden?
Michels: Die Corona-Pandemie ist eine außergewöhnliche Notstandssituation, in der man den Einsatz telemedizinischer Angebote nicht nur erwägen kann, sondern gegebenenfalls sogar muss. Man denke nur an eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems und die Notwendigkeit, potenziell ansteckende Kontakte und Aufenthalte in ärztlichen Wartezimmern zu vermeiden. Hier fällt die Abwägung zwischen Nach- und Vorteilen zugunsten der Telemedizin aus. Nur: Was sollte Ausnahme und was die Regel sein? Regel ist und muss der unmittelbare physische Kontakt bleiben. Und das ist meines Erachtens auch gesetzlich zu normieren – europäische Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit hin oder her. Der Normwortlaut sollte dabei mehr Kriterien als die ärztliche Musterberufsordnung dafür hergeben, wann und für wen eine telemedizinische Behandlung zulässig ist und wann nicht.
DAZ: Wie bewerten Sie die Reaktionen aus der Bundespolitik auf die TeleClinic-Übernahme von Zur Rose?
Michels: Wie bereits eingangs gesagt, erscheinen mir die Reaktionen der politischen Vertreter widersprüchlich, wenn nicht gar scheinheilig, bestenfalls nur naiv. Stauferkaiser Friedrich II. war im 13. Jahrhundert schon so weitsichtig, Ärzten nicht nur die Inhaberschaft von Apotheken, sondern bereits jegliche (Kapital-)Beteiligung daran zu untersagen. Damit die Notlage Kranker nicht ausgenutzt wird, hat man zudem die Preise für Arzneimittel verbindlich geregelt. Was also seit annähernd 800 Jahren aus Gründen des Patienten- und Verbraucherschutzes Berechtigung besaß, soll nun zugunsten ausländischer Aktien-Konzerne, die unter Ausnutzung staatlicher Regelungsgefälle und unter dem Deckmantel der europäischen Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit ausschließlich im zwangsläufigen Interesse ihres Shareholder-Value den hiesigen Gesundheitsmarkt besetzen wollen, den Götzen der Convenience und der Digitalisierung geopfert werden. Um jedem Missverständnis vorzubeugen: Ich bin überzeugter Europäer und in jeder Hinsicht auch Innovationen gegenüber offen. Nur was hier geschieht, hat mit alldem nichts zu tun.
„Natürlich steht der Patient im Mittelpunkt, aber nicht in dem Sinne, dass alles für seine Bequemlichkeit getan werden muss.“
DAZ: Was läuft Ihrer Meinung nach denn schief auf europäischer Ebene?
Michels: Die europäische Idee und der Gemeinsinn, der sich nicht zuletzt auch aus dem Erhalt der Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit des jeweiligen Nationalstaates speist – als Stichwörter seien Subsidiaritätsprinzip, Subsidiaritätsrüge und Subsidiaritätsklage genannt –, werden zur Förderung privativer Partikularinteressen missbraucht. Ein Blick in Art. 168 Abs. 7 AEUV reicht, um das festzustellen. Und das Bestellen über eine Internetseite mit physischem, CO2-emittierendem Versand von Arzneimitteln hat im Jahr 2020 wahrlich nichts mehr mit Innovation oder Digitalisierung zu tun. Ebenso wenig das zusätzliche Betreiben einer telemedizinischen Arztpraxis unter ein und demselben Dach eines internationalen Aktienkonzerns. Beides zusammengenommen führt indessen zu Strukturen, die faktisch nicht mehr zu kontrollieren und die ganz sicher kein Garant für gute, ausschließlich am Wohl des Patienten und der medizinischen Notwendigkeit ausgerichtete Pharmazie und Medizin sind. Wie wollte man beispielsweise auch das konzerninterne Kursieren von Verordnungsdaten, Absatz- und Umsatzinformationen bis hin zum Einsatz bestimmter, kundenoptimierter Werbe-Algorithmen überwachen?
DAZ: Erste Reaktionen aus den Bundestagsfraktionen deuten darauf hin, dass man sich auf das Makel- und Zuweisungsverbot im Patientendaten-Schutzgesetz (PDSG) verlässt.
Michels: Wenn politische Vertreter wie Frau Maria Klein-Schmeink (Die Grünen), Herr Prof. Andrew Ullmann (FDP) und Herr Prof. Dr. Edgar Franke (SPD) unisono auf das Makel- und Zuweisungsverbot vertrauen und im Übrigen das weitere Vorgehen „politisch genau beobachten“ wollen, dann scheint man sich weder seiner Kontroll- noch seiner Einflussnahmemöglichkeiten bewusst zu sein. Insbesondere wird aber gänzlich negiert, dass schon Friedrich II. ebenso wie der bundesdeutsche Gesetzgeber seit jeher erkannt haben, dass jede Gefahr einer Interessenkollision zu unterbinden ist. Indem die Politik solche Konstruktionen wie im Fall von DocMorris toleriert, legt sie die Axt an das überkommene deutsche Gesundheitssystem. Denn wie sollen sich künftig noch Strukturprinzipien wie etwa das Fremd- und Mehrbesitzverbot, die Arzneimittelpreisbindung bzw. die ärztliche Honorarordnung, das Prinzip des Vertragsarztsitzes oder aber eben das Zuweisungs- und Abspracheverbot rechtfertigen lassen, wenn sich die hiesigen Heilberufler mit Plattformlösungen ausländischer Kapitalgesellschaften, die das gesamte Spektrum heilberuflicher Leistungen anbieten, über telemedizinische Angebote im Wettbewerb, noch dazu im Preiswettbewerb befinden?
DAZ: Es scheint als würden Kapitalunternehmen jegliches medizinisches und pharmazeutisches Angebot im Gesundheitswesen abdecken wollen. Ist damit das Ende der Freien Berufe eingeläutet?
Michels: Ja, das steht meines Erachtens tatsächlich zu befürchten. Die Architekten haben bezüglich ihrer Honorarordnung vorm EuGH bereits Schiffbruch erlitten. Die Geschichte der Arzneimittelpreisverordnung ist bekannt. Ebenso, dass die Freien Berufe der EU ohnedies immer ein Dorn im Auge waren. Weitere Liberalisierungen und Deregulierungen wie die Dienstleistungsrichtlinie, die allerdings bislang keine Anwendung auf die Heilberufe findet, oder die Berufsanerkennungsrichtlinie werden mit der Konsequenz folgen, dass die Freien Berufe ihre am Gemeinwohl ausgerichtete Tätigkeit nur noch mit immer mehr Beeinträchtigungen und Hindernissen wahrnehmen können. Dass mit den Freien Berufen auch ein erhebliches Maß an Verbraucherschutz verbunden ist, scheint immer noch nicht so richtig deutlich geworden zu sein. Dabei ist es doch gerade der Verbraucherschutz, der auf der politischen Agenda der EU oftmals ganz weit oben rangiert. Die damit verbundenen Aspekte wird man daher in künftigen Diskussionen mit den Institutionen der EU mehr in den Vordergrund stellen müssen.
DAZ: Glauben Sie daran, dass dieser Kommerzialisierung im Gesundheitswesen noch gesetzgeberisch entgegengewirkt werden kann?
Michels: Ob man den Deckel wieder drauf bekommt, das wage ich zu bezweifeln. Jedenfalls wird es sehr schwer. Wohin die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen führt, dürfte hingegen als erwiesen gelten. Ihre Zeitung hat beispielsweise jüngst über katastrophale Zustände in der größten Apotheken-Kette der USA namens CVS berichtet. Die Ursache dafür soll in den Leistungskennzahlen der Kette begründet gewesen sein. Aber selbst in Deutschland sind die Auswirkungen kaum noch zu leugnen. Beispielhaft sei die mit den enormen Sparzwängen verbundene Situation in vielen Krankenhäusern genannt.
DAZ: Wie bewerten Sie die aktuelle Gesundheitspolitik – gerade im Hinblick auf die Einführung des eRezepts? Lässt Minister Spahn zu viele Freiräume zu, müsste er mehr durchgreifen?
Michels: Gerade bei Minister Spahn frage ich mich nicht selten, was ist Folge von gesetzgeberischer Ungenauigkeit, fehlender Detailkenntnis oder einer gewissen „Experimentierfreude“ und was beruht hingegen auf reinem Kalkül? Bezogen auf die Einführung des eRezepts legt er nicht nur eine operative Hektik an den Tag, sondern er scheint gewisse wettbewerbliche Elemente durchaus zu begrüßen, um die Verbreitung des eRezeptes zu befeuern. Die durch das Makel- und Zuweisungsverbot im PDSG geschützte Apothekenwahlfreiheit wird dadurch sogleich wieder konterkariert.
„Wie sollen sich künftig noch Strukturprinzipien wie etwa [...] die Arzneimittelpreisbindung [...] rechtfertigen lassen, wenn sich die hiesigen Heilberufler mit Plattformlösungen ausländischer Kapitalgesellschaften [...] im Preiswettbewerb befinden?“
DAZ: Erklären Sie das bitte genauer.
Michels: Wie frei entscheidet jemand, der für die Übersendung des eRezeptes Boni versprochen bekommt? Durch Beschluss vom 20.02.2020 (Az. I ZR 214/18) hat der BGH den EuGH im Wege einer Vorlagefrage mit einem solchen Fall befasst. Dabei macht er deutlich, dass er gute Gründe dafür sieht, eine unsachliche Beeinflussung und damit einen Verstoß gegen das europarechtskonforme Zuwendungsverbot des § 7 Abs. 1 Satz 1 HWG zu bejahen.
DAZ: Wie bewerten Sie denn das eRezept im Hinblick auf die Entwicklungen in der Versandhandelsbranche?
Michels: Das eRezept wird ein Trigger für viele Entwicklungen sein. Es bringt die Digitalisierung des Gesundheitswesens entscheidend voran. Zugleich vereinfacht es natürlich Streckengeschäfte und fördert so den Versandhandel. Persönlich begrüße ich das eRezept, sehe zugleich aber auch diverse Gefahren. Es fehlt, wie von der ABDA auch gefordert, vor allen Dingen wohl an technischen Absicherungen, um diesen Gefahren zu begegnen. Insbesondere bedauere ich es aber, dass eine einheitliche, diskriminierungsfreie WebApp zum Transport des eRezeptes von der Arztpraxis in die Apotheke der Wahl nicht gelungen ist.
DAZ: Stichwort Convenience. Ein Begriff, der ja aktuell für viele Veränderungen im Gesundheitswesen herhalten muss. Kann solch ein System rein aus Endverbrauchersicht aufgebaut werden?
Michels: Nein, natürlich nicht. Gerade in einem öffentlich-rechtlichen, solidarischen Gesundheitssystem müssen die verschiedenen Interessen und Aspekte in Ausgleich gebracht werden. Natürlich steht der Patient im Mittelpunkt, aber nicht in dem Sinne, dass alles für seine Bequemlichkeit getan werden muss. Zuvörderst kommt das Kriterium der medizinischen Notwendigkeit, gefolgt von dem der Wirtschaftlichkeit. Convenience is nice to have.
DAZ: Die Schaffung von Plattformen und Gesundheitsnetzwerken ist ja nicht ausschließlich ein Thema ausländischer Kapitalunternehmen. Vor Kurzem gab die Initiative „Pro AvO“ bekannt, zusammen mit der Phoenix-Group ein Mega-Projekt aufziehen zu wollen unter Beteiligung von Ärzten und Krankenkassen. Wie bewerten Sie solche Ankündigungen und Vorstöße von Initiativen, die sich den Vor-Ort-Apotheken verschrieben haben?
Michels: Zwangsläufig repräsentieren diese Initiativen – bestenfalls – die Interessen derjenigen Vor-Ort-Apotheken, die sich ihr angeschlossen haben. Damit werden die deutschen Vor-Ort-Apotheken einmal mehr aufgespalten in verschiedene Lager. Ob das am Ende die richtige Strategie ist, um sich gegenüber der existenten ausländischen Konkurrenz, gegebenenfalls aber auch neu aus dem Ausland hinzukommender, noch größerer Player zu behaupten, dürfte doch zu bezweifeln sein.
DAZ: Wie werden Sie die nächsten Wochen und Monate des politischen Prozesses im Verband und auf ABDA-Ebene begleiten?
Michels: Wir wollen – ganz im Sinne der Beschlusslage des DAT 2019 – das VOASG weiterhin konstruktiv-kritisch begleiten. Hierzu haben wir eine Vielzahl von Initiativen und Vorhaben geplant und teilweise bereits ergriffen. In seiner jetzigen Fassung lehnen wir das VOASG entschieden ab, was wir auch weiterhin auf der ABDA-Ebene vertreten werden. Darüber hinaus werden sich viele wichtige Fragen wie zum Beispiel die nach den rechtlichen Grenzen zur Ausgestaltung eines Botendienstes stellen. Große Bedeutung hat für uns auch das Modellvorhaben zur Durchführung von Grippeschutzimpfungen. Ebenso wichtig für uns ist das Thema Nachwuchsgewinnung. Gegen Ende des Jahres steht sodann die Neuwahl der ABDA-Präsidentin beziehungsweise des -Präsidenten an. Aber auch auf BAK- und DAV-Ebene wird es Personalentscheidungen geben. Und schließlich soll eine umfängliche Diskussion der Struktur der ABDA stattfinden, an der wir uns unbedingt beteiligen wollen. Es gibt also viel zu tun. Packen wir’s an!
DAZ: Herr Dr. Michels, vielen Dank für das Gespräch. |
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