Arzneimittel und Therapie

Damit es nicht pfeift und rauscht

Erste britische Tinnitus-Leitlinie veröffentlicht

Die Volkskrankheit Tinnitus wird von Ärzten national und weltweit betrachtet noch immer sehr unterschiedlich behandelt. In diesem Zusammenhang war die Veröffentlichung der ersten europäischen Leitlinie zu Diagnostik und Therapie des Tinnitus im vergangenen Jahr ein Meilenstein. Nun hat auch das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) des Vereinigten Königreichs seine Empfehlungen zur Tinnitusbehandlung in einer eigenen Leitlinie zusammengefasst.

Wie schon in der europäischen Leitlinie und der ersten deutschen S3-Leitlinie „Chronischer Tinnitus“ aus dem Jahr 2015 (derzeit in Überarbeitung) bilden Beratung und Aufklärung der Patienten (Tinnitus Counseling) die wesentlichen Grundelemente der Therapie. Besonderes Augenmerk wird in der britischen Leitlinie auf die Sensibilisierung der Mitarbeiter des Gesundheitswesens gelegt. Diese müssen sich nach Meinung der Experten über den Einfluss des Tinnitus auf Wohlbefinden und Lebensqualität der Betroffenen bewusst sein, um bereits bei einem ersten Kontakt entsprechend auf die Patienten eingehen zu können. Es wird hervorgehoben, wie wichtig es ist, dass Tinnituspatienten sowie deren Familienangehörige und gegebenenfalls Pflegende von Anfang an und durch alle Stadien der Erkrankung hinweg Hilfe und Informationen erhalten. Die Leitlinie bietet eine detaillierte Anleitung, welche Informationen den Betroffenen angeboten werden sollten. So soll den Patienten unter anderem vermittelt werden, was ein Tinnitus ist, wie er entsteht und wie er sich in Zukunft entwickeln kann sowie was die Situation verschlimmern könnte. Dazu gehören nachgewiesenermaßen vor allem Stress und Lärmexposition. Ebenso sollten Informationen zu möglichen Untersuchungen wie auch zu diversen Bewältigungsstrategien und Managementoptionen einschließlich Selbsthilfegruppen Bestandteil der Beratung sein.

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Umgang mit dem Tinnitus

Unter Berücksichtigung der Präferenzen des Patienten und der individuellen Situation (z. B. Kindesalter, Hörverlust, kognitive oder visuelle Beeinträchtigungen) soll ein Managementplan erstellt werden, der den Betroffenen hilft, mit der Situation umzugehen. Oftmals ist ein Tinnitus mit psychologischen Störungen wie Depressionen und Angststörungen assoziiert. Insbesondere vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu hinterfragen, welchen Einfluss der Tinnitus auf die Lebensqualität in den verschiedenen Lebensbereichen (Familie und Freunde, Arbeit oder Schule, Freizeit etc.) hat. Ist der Schlaf beeinträchtigt? All dies sollte sich auch im Managementplan widerspiegeln.

Standardisierte Fragebögen auch zur Erfolgskontrolle

Bereits in der europäischen Leitlinie ist die Verwendung von Fragebögen (Questionnaires) empfohlen worden, um den Zustand der Patienten und das jeweilige Ausmaß der Beeinträchtigung zu erfassen. Dabei stehen unterschiedliche Fragebögen zur Verfügung. Im Sinne der angestrebten Standardisierung innerhalb des Vereinigten Königreiches empfehlen die Experten in der NICE-Leitlinie, dass alle in die Behandlung von Tinnitus­patienten involvierten Dienstleister die Verwendung des Tinnitus Functional Index (TFI) in Betracht ziehen sollten, da dieser auch Veränderungen widerspiegelt. So können zum einen der Einfluss des Tinnitus auf den Patienten und zum anderen auch der Erfolg einer Behandlungsmethode bestimmt werden. Im Allgemeinen jedoch sollten altersgerechte und den Fähigkeiten angemessene Methoden eingesetzt werden.

Audiologische Untersuchung

Da Tinnitus häufig mit einem unerkannten Hörverlust assoziiert ist, wird ähnlich wie in Deutschland neben einer ausführlichen Anamnese eine audiologische Untersuchung empfohlen. In Bezug auf den Einsatz von Hörgeräten wird in der NICE-Leitlinie zwischen Hörgeschädigten mit oder ohne eingeschränkte Kommunikationsfähigkeiten unterschieden. Hörgeräte sollten Patienten mit einem nachgewiesenen Hörverlust und damit verbundenen eingeschränkten Kommunikationsfähigkeiten angeboten werden, nicht aber Patienten ohne Hörverlust. Für Pa­tienten mit nicht eingeschränkten Kommunikationsfähigkeiten, die aber dennoch einen Hörverlust er­litten haben, kann die Verwendung eines Hörgerätes erwogen werden.

Imaging-Methoden werden nur für einige spezielle Fälle empfohlen, z. B. bei pulsatilem Tinnitus oder non-pulsatilem Tinnitus mit neurologischen, audiologischen oder otologischen Symptomen oder Symptomen im Kopf-/Hals-Bereich. Hier soll in erster Linie Magnetresonanztomografie (MRT) eingesetzt werden, falls erforderlich auch Computertomografie (CT).

Orientierungshilfe für Facharzt-Überweisung

Während die europäische Leitlinie auf multimodale Behandlungsansätze verweist und damit der deutschen S3-Leitlinie einen Schritt voraus ist, betont die NICE-Leitlinie die Bedeutung einer korrekten Überweisung zum richtigen Spezialisten, denn eine nicht rechtzeitige Überweisung könnte „katastrophale“ Folgen für das physische und mentale Wohlbefinden der Be­troffenen haben. Aufgrund einer bestehenden Inkonsistenz bei fachärztlichen Überweisungen bietet die NICE-Leitlinie eine Orientierungshilfe, wann Patienten mit bestimmten Symptomen zu welchem Facharzt überwiesen werden sollten. So sollten stark suizidgefährdete Patienten umgehend zu einem Spezialisten überwiesen werden. Aber auch bei einem plötzlich auftretenden Hörverlust, bei neurologischen Symptomen oder bei Verdacht auf einen Schlaganfall muss sofort an einen Facharzt überwiesen werden.

Psychologische Hilfe

Da sich in einigen Fällen eine psychologische Therapie als hilfreich erwiesen hat, wird empfohlen, diese in Betracht zu ziehen, wenn Patienten den Tinnitus trotz zunächst angebotener Hilfsmaßnahmen als sehr belastend empfinden. Die erste Maßnahme bei dem in der Leitlinie verankerten schrittweisen Verfahren bildet dabei eine kognitive Verhaltenstherapie durch einen Psychologen. Unter Berücksichtigung von Kostenfaktoren sollten zunächst digitale und Gruppentherapieformen angewendet werden. Erst wenn diese nicht ausreichend sind, soll eine individuelle ­Therapie zum Einsatz kommen. Im Gegensatz dazu wird in der deutschen Leitlinie die tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie als das am besten evaluierte Therapieverfahren beschrieben und ist in Deutschland, zusammen mit Beratung und Aufklärung des Patienten, mit einer starken Empfehlung verbunden.

Betahistin wirkungslos

In Bezug auf eine medikamentöse Therapie geht die britische Leitlinie lediglich auf Betahistin ein, das im Vereinigten Königreich von Ärzten des Öfteren off label zur Behandlung von Tinnitus verordnet wird. Basierend auf Daten von randomisierten Studien sprechen sich die Verfasser der NICE-Leitlinie jedoch klar dagegen aus. Der Wirkstoff führt nicht zu einer Verbesserung der Symptome des Tinnitus, ist aber mit möglichen Nebenwirkungen, hauptsächlich gastrointestinaler Natur, verbunden.

Im Vergleich dazu beleuchtet die deutsche Leitlinie eine Vielzahl von Arzneimitteln, die meist off label oder im Rahmen von Studien zur Behandlung von Tinnitus und assoziierten Komorbiditäten eingesetzt werden bzw. wurden. Konkrete Empfehlungen in Deutschland gibt es nicht, lediglich das Fazit: „Eine spezifische Arzneimitteltherapie mit nachgewiesener Wirksamkeit zur Behandlung des chronischen Tinnitus steht nicht zur Verfügung. Hingegen können therapierbare Komorbiditäten (z. B. eine Depression) spezifisch mit Arzneimitteln behandelt werden“. Es bleibt abzuwarten, ob und wie in der deutschen überarbeiteten Fassung die Empfehlungen konkretisiert werden.

Spezielle Empfehlungen für die Forschung

Die britische Leitlinie gibt darüber hinaus gesonderte Empfehlungen zu Forschungszwecken. Diese umfassen folgende Themen:

1. Kognitive Verhaltenstherapie für Erwachsene muss nicht von Psychologen durchgeführt werden, sondern kann auch durch andere im Gesundheitswesens Geschulte durchgeführt werden.

2. Kombination von Tinnitus Counseling und Soundtherapie.

3. Methoden zur Tinnitusbewertung in der Allgemeinarztpraxis.

4. Neuromodulation.

5. Psychologische Therapie für Kinder und Jugendliche.

Fazit

Mit der britischen NICE-Leitlinie steht ein weiterer Leitfaden für die Behandlung des subjektiven Tinnitus zur Verfügung, der im Großen und Ganzen im Einklang steht mit der aktuellen europäischen Tinnitus-Leitlinie und der deutschen S3-Leitlinie „Chronischer Tinnitus“. Eine medikamentöse Therapie des Tinnitus wird in Großbritannien derzeit nicht empfohlen. Wie sich dieser Leitfaden in bestehende europäische und die zurzeit in Überarbeitung befindlichen Deutschen Leitlinien einordnet, erläutert Prof. Dr. Gerhard Hesse, Chefarzt und Geschäftsführer der Tinnitus-Klinik Dr. Hesse, Bad Arolsen, in seinem Kommentar. |

Literatur

Chronischer Tinnitus. S3-Leitlinie, AWMF-Registriernummer: 017/064, Stand: Februar 2015, Gültigkeit abgelaufen, derzeit in Überarbeitung

Cima RFF et al. A multidisciplinary European guideline for tinnitus: diagnostics, assessment, and treatment. HNO 2019;67(Suppl1):10-42

Hesse G, Kommentar zur Europäischen Tinnitus-Leitlinie. HNO 2019;67:272-273

Langguth B, Vielsmeier V und Kleinjung T, ­Diagnostik und Therapie des chronischen Tinnitus. Bayerisches Ärzteblatt 2015;11:560-566

Lewis S et al. Assessment and management of tinnitus: summary of NICE guidance. BMJ 2020;368:m976, doi: 10.1136/bmj.m976

Apothekerin Dr. Daniela Leopoldt

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