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Arzneimittel und Therapie
Eiszeit im Körper
Wie Paracetamol postoperatives Kältezittern verhindern kann
Neben Übelkeit und Erbrechen ist postoperatives Kältezittern (Shivering) ein häufig beobachtetes und seit Langem bekanntes Problem in der postoperativen Phase. Dabei liegt die Inzidenz zwischen 5 und 65%, je nach Literaturquelle.
Wenn der Körper bebt ...
Unter Shivering versteht man das unwillkürliche, nicht kontrollierbare Muskelzittern der Patienten, das lokal oder generalisiert auftreten kann. Es wird vor allem nach einer inhalativen Narkose, seltener nach Regionalanästhesie beobachtet. Während der Operation verliert der Körper durch verschiedene Mechanismen Wärme. Dies wird durch die vasodilatierende Wirkung vieler Narkotika noch begünstigt. Außerdem ist die Thermoregulation des Hypothalamus während der Operation weitgehend ausgeschaltet. Lässt die Narkose nach, registriert der Körper die gesunkene Körpertemperatur und versucht, durch Gefäßkonstriktion und Zittern der Skelettmuskulatur entgegenzuwirken. Da Shivering auch bei nicht unterkühlten Patienten beobachtet wurde, geht man davon aus, dass noch weitere, bisher unbekannte Faktoren bei der Entstehung mitwirken.
Folgenschweres Zittern
Es ist zu beachten, dass das postoperative Kältezittern nicht nur unangenehm für den Betroffenen ist – einige Patienten erinnern es als das Unangenehmste an der gesamten Operation –, sondern es stellt auch eine Gefahr für den Patienten dar. Beim Shivering kommt es neben einer erhöhten Katecholamin-Freisetzung auch zu einem um das 4- bis 6-Fache erhöhten Sauerstoffverbrauch. Besonders das Herz wird dabei stark beansprucht, Herzinfarkt und Arrhythmien können die Folge sein. Dementsprechend wird in der S3-Leitlinie „Vermeidung von perioperativer Hypothermie“ (siehe Kasten: „Teure Wärme?“) der Einsatz von Heizdecken oder von auf Körpertemperatur erwärmten Infusionen zur Vorbeugung empfohlen. Als Pharmaka werden in erster Wahl off label das Opioid Pethidin (z. B. Dolanthin®) oder das Sympatholytikum Clonidin (z. B. Clonidin-ratiopharm®) therapeutisch eingesetzt.
Eine günstige Prophylaxe?
Eine erhöhte Körpertemperatur kann effektiv mit Paracetamol gesenkt werden. Der genaue Wirkmechanismus ist bisher unklar, man geht jedoch davon aus, dass Paracetamol in das körpereigene Temperaturkontrollsystem eingreift. Da der Körper beim postoperativen Shivering versucht, die Temperatur durch das Zittern der Skelettmuskulatur zu erhöhen, wurde die Hypothese aufgestellt, dass Paracetamol einen prophylaktischen Effekt auf das Shivering haben könnte. Ein japanisches Team hat dazu eine randomisierte, Placebo-kontrollierte Dreifachblind-Studie durchgeführt. Für die zwischen März 2015 und März 2017 am Ryukyu Universitätshospital durchgeführte Studie wurden Frauen rekrutiert, bei denen ein gynäkologischer Eingriff unter Bauchdeckenöffnung geplant war. Die Patientinnen wurden dabei unter kombinierter Allgemein- und Epiduralanästhesie operiert. Die in die Paracetamol- und die Placebo-Gruppe randomisierten Studienteilnehmer erhielten nach der Narkoseeinleitung entweder Paracetamol (15 mg/kg) oder Placebo (0,9% Kochsalzlösung). Die Verabreichung erfolgte innerhalb von 15 min intravenös. Nach der Operation verbrachten die Patienten 30 Minuten in der Aufwachstation, bevor sie auf die Normalstation verlegt wurden.
Shivering-Score
Die Evaluierung des postoperativen Zitterns erfolgte mithilfe des sogenannten Shivering-Scores. Frühes postoperatives Zittern wurde im Aufwachraum bewertet, später eintretendes Zittern eine Stunde nachdem die Patienten die Aufwachstation verlassen hatten. Ein Score von 0 bedeutet kein Zittern, 1 = ein Aufrichten der Körperhaare (Piloarrektion) oder periphere Gefäßverengung, aber kein sichtbares Zittern, 2 = Muskelzittern in nur einer Muskelgruppe, 3 = Muskelzittern in mehr als einer Muskelgruppe, aber nicht generalisiert und 4 = Zittern des ganzen Körpers.
Primärer Studienendpunkt war das Auftreten eines schweren Zitterns im Aufwachraum (Score > 2). Sekundäre Endpunkte waren die an der Stirn gemessene Körpertemperatur unmittelbar vor Anästhesieeinleitung (T0), zu Beginn der Operation (T1), am Ende der Operation (T2), zu Beginn der postoperativen Beobachtung im Aufwachbereich (T3) und 30 min später (T4). Eine Stunde nach dem Zeitpunkt T4 wurde die Körpertemperatur in der Achselhöhle gemessen (T5). Eine Körpertemperatur unterhalb von 36 °C wurde als perioperative Hypothermie definiert.
Teure Wärme?
Neben postoperativem Kältezittern können durch Unterkühlung des Patienten auch weitere schwerwiegende Komplikationen wie kardiale Ereignisse, Gerinnungsstörungen und Wundheilungsstörungen beim Patienten hervorgerufen werden. Um die Ärzte für die Problematik zu sensibilisieren und einer Hypothermie gezielt vorzubeugen, haben sich etliche Fachgesellschaften zusammengeschlossen und 2019 eine S3-Leitlinie „Vermeidung von perioperativer Hypothermie“ herausgegeben. Schnell kommt vermutlich dem Leser der Gedanke, dass eine Wärmebehandlung hohe Kosten mit sich bringen kann. Hier stellt die Leitlinie eindrücklich anhand verschiedener Rechenbeispiele die Aufwendungen einer Wärmebehandlung des Patienten den Folgekosten von unbeabsichtigter perioperativer Hyperthermie, (z. B. durch kardiale Ereignisse, maschinelle Beatmung und Druckulzera) gegenüber. So kann bei einer Operation mittlerer Größe (60 Minuten, 50-jähriger Patient) rechnerisch eine Kostenersparnis durch vermiedene Komplikationen von 218.000 € pro 1000 Fälle ermittelt werden.
Paracetamol überzeugt
Von 45 zunächst in die Studie aufgenommenen Frauen gingen 37 in die Analyse ein. In der Paracetamol-Gruppe (18 Patienten) war das Auftreten postoperativen Zitterns signifikant niedriger (22,2%) als in der Placebo-Gruppe (73,7%; 19 Patienten). Das relative Risiko lag bei 0,302 (95%-Konfidenzintervall 0,122 bis 0,746; p = 0,005). Spätes postoperatives Zittern kam in keiner der beiden Gruppen vor. In beiden Gruppen senkte sich die Körpertemperatur nach Einleitung der Narkose und erreichte den niedrigsten gemessenen Wert zum Zeitpunkt T1. Am Ende der Operation und zur Anfangszeit im Aufwachbereich (T2 und T3) hatten sich die Temperaturwerte normalisiert. Während zu den Temperaturmesspunkten T0 bis T3 kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen beobachtet wurde, war die Körpertemperatur nach 30 Minuten im Aufwachraum (T4) in der Paracetamol-Gruppe (Mittelwert: 37,2 °C; Standardabweichung SD: 0,62 °C) signifikant niedriger als in der Placebo-Gruppe (Mittelwert: 38,0 °C, SD: 0,78 °C, p < 0,001). Ähnlich verhielt es sich zum Zeitpunkt T5, zu dem die in der Achselhöhle gemessene Körpertemperatur in der Paracetamol-Gruppe (Mittelwert: 37,2 °C; SD: 0,48 °C) signifikant niedriger als in der Placebo-Gruppe (Mittelwert: 37,9 °C, SD: 0,63 °C, p < 0,001) war.
Shivering bis zu zehn Stunden nach der Operation möglich
Limitationen der Studie sind der frühzeitige Studienabbruch aufgrund fehlender Patienten (immer mehr Frauen wurden im Beobachtungszeitraum minimalinvasiv operiert) und einer relativ hohen Inzidenz (45%) an schwerem postoperativem Zittern. Zudem endete die Beobachtungsphase etwa zwei Stunden nach Abschluss der Operation. Postoperatives Kältezittern kann jedoch bis zu zehn Stunden nach einer Operation auftreten.
Die Autoren schlussfolgern, dass perioperative Gabe von Paracetamol frühes postoperatives Kältezittern verhindern kann. Der prophylaktische Effekt beruht wahrscheinlich nicht auf einer Senkung des Schwellenwertes für das Kältezittern, sondern auf einer Unterdrückung der postoperativen Erhöhung des Körpertemperatur-Sollwertes. Weitere Studien sind erforderlich, um diese These zu unterstützen und den optimalen Zeitpunkt der Paracetamol-Gabe für einen maximalen Effekt zu bestimmen. |
Literatur:
Bucher M. Shivering. Pschyrembel online, www.pschyrembel.de/Shivering/K00MP/doc/, Abruf am 24. Juni 2020
Kinjo T et al. Effects of perioperative administration of acetaminophen on postoperative shivering: a randomized, triple-blind, placebo-controlled trial. Obstetric Anesthesiology 2020; 130:983-990
Schäfer M et al. Postoperatives Shivering. Der Anaesthesist 2002;51:768–783
Torossian A et al. Vermeidung von perioperativer Hypothermie. Interdisziplinäre S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der Deutschen Gesellschaft für Urologie, der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie, der Deutschen Gesellschaft für Mund-Kiefer-und Gesichtschirurgie, der Schweizerischen Gesellschaft für Anästhesiologie und Reanimation, der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin,der Deutschen Gesellschaft für Fachkrankenpflege und Funktionsdienste und der Stiftung Patientensicherheit Schweiz, Stand Mai 2019
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