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„Auf mittlere Sicht wird nicht allzu viel passieren“

Wettbewerb, Verwaltungskosten, Fusionen – welche Veränderungen wird es im Krankenkassensystem geben?

eda | Wenn es um den Apothekenmarkt geht, ist der GKV-Spitzenverband nicht zimperlich, seine disruptiven Vorstellungen offenzulegen: Ausländischer Versandhandel, Light-Apotheken, Rx-Boni, Arzneimittelabgabeautomaten und zusätzliches Honorar nur per Selektivverträge. Das Interview mit der neuen Verbandschefin Stefanie Stoff-Ahnis Anfang Mai auf DAZ.online sorgte für Aufsehen und wieder viel Unmut, gemessen an den zahlreichen Leserkommentaren. Einige Apotheker stellten Fragen, wie, warum es denn keinen europaweiten Kassenwettbewerb gibt, wie die Verwaltungskosten erklärt werden und ob weitere Fusionen den Markt nicht übersichtlicher und effizienter machen. Wir haben uns darüber mit Dr. Robert Paquet unterhalten, freier Journalist und Experte für Gesundheits- und Sozialpolitik, der bis vor einigen Jahren u. a. als Führungskraft bei den Betriebskrankenkassen (BKK) gearbeitet hat.

Seit Juli 2019 ist Stefanie Stoff-Ahnis Vorstandsmitglied des GKV-Spitzenverbandes (GKV-SV). Die gebürtige Brandenburgerin und studierte Rechts­wissenschaftlerin wechselte 2006 erstmals ins Kassenlager zur AOK Nordost. Es folgte der Aufstieg innerhalb der AOK Nordost. Nach 2010 war sie in leitender Position für „Sonstige Leistungserbringer“ zuständig, ab 2016 war Stoff-Ahnis dann Mitglied der Geschäftsleitung, zuständig für alle Versorgungsthemen, bis sie im Juli 2019 zum GKV-SV wechselte. In ihrer aktuellen Position zählt sie zu den wichtigsten Entscheidern im Gesundheitswesen. Auch die Apothekenpolitik gehört zu ihrem Themengebiet.

Kurz nach ihrem Amtsantritt gab es dementsprechend die ersten Interview­anfragen von der pharmazeutischen Fachpresse – auch DAZ.online gehörte dazu. Die Redaktion wollte von ihr erfahren, ob sie den apothekenpolitischen Kurs ihres Vorgängers, Johann-Magnus von Stackelberg, fortsetzen und weitere Deregulierungen im Apothekenmarkt einfordern wird. Zu Presseterminen und Journalistentreffen, die der GKV-SV regelmäßig organisiert, wird die pharmazeutische Fachpresse übrigens nicht eingeladen.

Erst im Oktober 2019 folgten von der Pressestelle des GKV-SV dann einige Einschränkungen und Verzögerungen bezüglich des Interviews mit Stoff-Ahnis: Nur schriftlich und nicht persönlich sollten die Fragen beantwortet werden. Eine Finalisierung sei aber erst im Jahr 2020 möglich. Ende April kamen dann die Antworten des GKV-SV. Diese warfen allerdings so viele Fragen auf, dass die Redaktion nachhaken musste. Die Pressestelle des Kassenverbandes wollte jedoch keine kritischen Nachfragen beantworten. Das gesamte Interview finden Sie auf DAZ.online, wenn Sie in das Suchfeld den Webcode U2SR6 eingeben.

Foto: HNFOTO – stock.adobe.com

GKV, PKV, Bürgerversicherung – wie wird sich der deutsche Krankenkassenmarkt in den nächsten Jahren verändern? Und: Ist eine europaweite Marktöffnung möglich?

Apotheker stellen Reformbedarf bei den Kassen zur Frage

Die Antworten von Stoff-Ahnis deuten stark darauf hin, dass sie den disruptiven Apothekenkurs ihres Vorgängers nicht verlassen möchte. Sie votiert für den EU-Versandhandel, stellt Light-Apotheken ohne Labor in Aussicht, will hierzulande Rx-Boni und Arzneimittelabgabeautomaten einführen und den Apothekern eine Anpassung oder Erhöhung des Honorars nur zugestehen, wenn beispielsweise Selektivverträge etabliert sind.

Die Reaktionen auf das Interview in Form von Leserkommentaren ließen nicht lange auf sich warten: „Es besteht dringendster Bedarf für einen Argumentationsaustausch“, stellt Hubert Kaps fest und schlägt vor: „Vielleicht hat sie ja die Zeit, zu einem Apothekertag zu kommen.“ Weitaus kritischer ist Leser Heiko Barz: „So muss ich pragmatisch davon ausgehen, dass sie ein Jahr lang im Hintergrund instruiert werden musste, diese heutigen Antworten geben zu ‚können‘. Dabei ist noch zu be­achten, dass sie teilweise bei wichtigen Existenzfragen zur deutschen Apotheke jede Desorientierung ­offenbarte.“

Die aufgeheizte Stimmung der Kommentatoren war auch geprägt von grundlegenden Gedanken über die Struktur und den Reformbedarf bei den Krankenkassen selbst. „Ich for­dere auch ein neues Konzept für die GKV. Verschlankung auf maximal fünf Kassen und Zulassung ausländischer Versicherer, die sich nicht an deutsches Recht halten müssen“, schreibt Anita Peter. Ein weiterer Leser, der anonym bleiben möchte, pflichtet ihr bei: „Genau das ist der eigentliche Skandal! Ich darf mir auf Kasse im europäischen Ausland die Zähne machen lassen und meine Arzneimittel bestellen, aber zur Sicherung der Pfründe inländischer Kassenfürsten nicht im Ausland gegen Krankheit versichern. Klare Ausländerdiskriminierung durch Einschränkung des Bezuges von Dienstleistungen und die Arbeitgeber spielen schön mit und sitzen in den Gremien der gesetzlichen Krankenversicherung.“

GKV/PKV-System – quo vadis?

Thomas Brongkoll gibt zu Bedenken, dass nicht weniger Kassen „die Heilung“ seien, sondern viele: „Dadurch ist die Zerschlagung der unsäglichen Macht möglich, divide et impera!“

Doch ist eine europaweite Öffnung des deutschen Krankenkassenmarktes überhaupt möglich und realistisch? Lassen sich durch Kooperationen und die Schaffung übergreifender Struk­turen tatsächlich Kosten- und damit Beitragssenkung erwirken? Und wie sieht es aus mit der weiteren Konsolidierung im Markt der noch verbliebenen 105 Kassen (Stand: Januar 2020), der Anfang der 1990er-Jahre noch zehn Mal größer war?

Der promovierte Soziologe und Volkswirtschaftler Dr. Robert Paquet ist für diese Fragen ein kompetenter Ansprechpartner: Paquet arbeitet als freier Journalist und gilt als ausge­wiesener Experte auf dem Gebiet der Krankenkassenpolitik. Nach seiner wissenschaftlichen Laufbahn arbeitete er Ende der 1980er-Jahre kurze Zeit als Referent für Gesundheitspolitik bei der SPD-Bundestagsfraktion (Leiter des Arbeitskreises Sozialpolitik war zur damaligen Zeit der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Rudolf Dreßler). Danach wechselte er ins Lager der Betriebskrankenkassen (BKK), war im Bundes- und im Landesverband Niedersachsen in verschiedenen Führungspositionen aktiv. Fast zehn Jahre leitete er bis 2008 das Berliner Büro der BKK als Geschäftsbereichsleiter für Politik, Presse, Öffentlichkeitsarbeit und Marketing. Seitdem ist er als freier Journalist und Berater tätig.

Foto: Cordia Schlegelmilch, © Robert Paquet

Dr. Robert Paquet

DAZ: Herr Dr. Paquet, Digitalisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems haben in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass nicht wenige Anbieter im europäischen Ausland aufgetaucht sind, die – teils gesetzlich legitimiert, teils in juristischen Grauzonen oder schlichtweg illegal – deutsche Patienten behandeln und versorgen möchten. Durch die politischen Weichenstellungen bei der Telemedizin und -pharmazie wird sich diese Entwicklung demnächst noch deutlicher ausprägen. Wie sieht das aufseiten der gesetzlichen und privaten Krankenkassen aus? Hat man sich hier bisher nie Gedanken darüber gemacht, das System für ausländische Anbieter zu öffnen?

Paquet: Sie haben völlig Recht. Ich kenne zum Thema „Europäischer Wettbewerb von Krankenkassen“ auch keine richtige Debatte und Literatur. Das ist aber auch gut zu erklären, denn das System der gesetzlichen Krankenversicherung ist im SGB V abschließend – als nationale Angelegenheit – beschrieben. Schon innerhalb unserer GKV und bei den Gesundheitspolitikern ist schwer zu vermitteln, was der Wettbewerb der Kassen denn bewirken soll, welche Parameter er hat oder haben soll etc.

DAZ: Wie wird der Wettbewerb unter den Krankenkassen definiert?

Paquet: Akzeptiert als Themenfeld ist dabei allein der Aspekt der Service-Qualität im Verhältnis zu den Versicherten. Unterschiedliche Verträge nach § 140a SGB V würden ja zu Unterschieden in der Behandlung führen. Das will in der Politik aber in Wirklichkeit keiner bzw. keiner mehr. Zu Ulla Schmidts Zeiten gab es auch bei Politikern die Idee, dass Vertragswettbewerb die Versorgungsqualität verbessern könnte. Außerdem müsste man sich fragen, wer bzw. welche Institution aus den anderen EU-Ländern welches Interesse daran haben sollte in Deutschland tätig zu werden. Ganz abgesehen davon, dass diese Systeme ebenfalls staatlich reguliert sind und fast keinen institutionellen Wettbewerb kennen. Ausnahmen sind nur die Niederlande oder die Schweiz.

 

DAZ: Gibt es denn aufseiten der Kassen nicht Überlegungen, inwiefern eine europaweite Öffnung des Marktes auch Chancen bietet?

Paquet: Wir hatten beim damaligen BKK-Bundesverband intern mal da­rüber nachgedacht, ob man mit den Möglichkeiten des EU-Rechts, Stichwort „Europäische Gegenseitigkeits­gesellschaft“ – eine Art europäische Genossenschaft, nicht eine übergreifende BKK gründen könnte. Das wurde dann aber – nach den Erfolgen der BKK-Öffnung – nicht weiterverfolgt.

 

DAZ: Auch Krankenkassen verursachen Kosten, gerade was ihre Verwaltung angeht. Wäre hier eine Marktöffnung, Kooperation und die Schaffung übergreifender Strukturen nicht ein Mittel der Kosten- und damit Beitragssenkung?

Paquet: Die Verwaltungskosten der Kassen liegen seit Jahrzehnten im Bereich von 5 bis 6 Prozent der Gesamtkosten. Das ist, auch im internationalen Vergleich, kein entscheidender Anteil. Die Unterschiede zwischen den Einzelkassen sind allerdings auch in diesem Bereich bemerkenswert. Zusammen mit den anderen Belastungen und ihren Unterschieden dürfte in den nächsten Jahren der Druck zu weiteren Kassenfusionen zunehmen. Die unterschiedliche Betroffenheit der Kassen von den Corona-Folgen dürfte auch das Ausgleichssystem des Risikostrukturausgleichs (RSA) in diesem Jahr und sicher auch 2021 durcheinanderbringen. Hier wird sich der Gesetzgeber einen „Rettungsschirm“ bzw. eine Sonderregelung im RSA für die nächsten Jahre einfallen lassen müssen, damit das System nicht auseinanderbricht.

 

DAZ: Was würde die PKV von der Idee eines europäischen Krankenkassenwettbewerbs halten?

Paquet: Im Bereich der PKV haben wir ja die deutschen Ableger internationaler Konzerne: beispielsweise die „Central“ als Teil der Generali-Gruppe. Weil in Deutschland für die PKV Spartentrennung vorgeschrieben ist, müssten ohnehin eigene Gesellschaften nach deutschem Recht gegründet werden. Aber der Markt ist verteilt und die politischen Rahmenbedingungen sind für die PKV im Moment nicht günstig. Wo sollte für ein ausländisches Unternehmen der Anreiz liegen, sich neu in Deutschland zu engagieren?

 

DAZ: Mit anderen Worten: der Markt ist gesättigt und neue Anbieter wird man in den nächsten Jahren nicht erwarten können?

Paquet: So pauschal lässt sich das nicht sagen: Es gibt in jüngerer Zeit durchaus eine deutsche Neugründung mit interessanten Wettbewerbsaspekten. Und zwar mit einem neuartigen, total digitalen Geschäftsmodell – die „Ottonova“. Dahinter steht vor allem die Debeka-Versicherung, die auf dem Digitalmarkt experimentieren will. Dazu hatte ich 2018 etwas in unserem „Observer Gesundheit“ geschrieben. Direkt nach der Gründung von „Ottonova“ 2015 gab es ziemliche Aufmerksamkeit. Aber seitdem ist es über den Fortgang und den Geschäftserfolg des Unternehmens ziemlich ruhig geworden. Ich habe jedenfalls dazu nichts mehr gehört.

 

DAZ: Wie schätzen Sie selbst die weitere Entwicklung des Krankenkassenmarktes in Deutschland ein, gerade im Hinblick auf die Zweiteilung GKV/PKV, Konsolidierung und Kosten?

Paquet: Letztlich profitiert die PKV von den Regulierungen, auch zur Kostendämpfung, in der GKV. Zum Teil ist das sogar gesetzlich so geregelt. Die GKV steuert maßgeblich das Gesundheitswesen, vor allem die Kostenstrukturen. Vor diesem Hintergrund haben die PKV-Versicherten in den vergangenen zwanzig Jahren überwiegend keine höheren Beitragssteigerungen erlebt als die GKV-Versicherten. Hier täuscht einfach die Optik: Die fast automatischen Erhöhungen der Einnahmen bei der GKV, durch einen festgelegten Prozentsatz vom beitragspflichtigen Einkommen, fallen weniger auf, als die expliziten Prämienerhöhungen der PKV in Euro-Beträgen. Die Kostenentwicklung wird – siehe oben – auf die Kassen der GKV den Fusionsdruck erhöhen. Das wird aber nur zu einer langsamen Reduktion der Kassenzahl führen. Das Verhältnis von GKV und PKV wird sich bis auf Weiteres nicht nennenswert verändern. Die Befürworter einer „Bürgerversicherung“ sind nach wie vor politisch nicht stark genug und haben überdies kein rechtlich tragfähiges Konzept um die PKV ins gesetzliche System „einzufangen“. Auch das sogenannte „Hamburger Modell“ einer Öffnung der GKV für Beamte, das einige andere Bundes­länder übernehmen wollen, wird die PKV nicht nachhaltig schwächen. Das zeigen schon die ersten Zahlen dazu. Insoweit wird im institutionellen Bereich wohl auf mittlere Sicht nicht allzu viel passieren.

 

DAZ: Herr Dr. Paquet, herzlichen Dank für das Gespräch. |

 

 

Zu diesem Beitrag erschien in DAZ Nr. 23 vom 4. Juni 2020 die nachfolgende Richtigstellung:

"In DAZ Nr. 22 hatten wir auf S. 16 unter der Überschrift „‚Auf mittlere Sicht wird nicht allzu viel passieren‘“ geschrieben:

„Zu Presseterminen und Journalistentreffen, die der GKV-SV regelmäßig organisiert, wird die pharmazeutische Fachpresse übrigens nicht eingeladen.“

Wir möchten richtigstellen, dass der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) die DAZ bzw. die pharmazeutische Fachpresse nur zu einem Termin nicht einlädt. Dieser ist das Presseseminar in Brandenburg.

Die DAZ-Redaktion"

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