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„Heinsberg-Studie“ offenbart hohe Dunkelziffer an Corona-Infektionen
Fast 2 Millionen Menschen bundesweit könnten mit dem Virus in Kontakt gekommen sein
Nach einer Karnevalsfeier hatte sich der in Nordrhein-Westfalen gelegene Kreis Heinsberg zu einem Hotspot der Coronavirus-Epidemie in Deutschland entwickelt. Die darauf folgenden strikten Kontaktbeschränkungen machen den Ort zu einem wertvollen Forschungsobjekt. Professor Hendrik Streeck, Virologe der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, hat sich in den vergangenen Wochen zusammen mit einem Forscherteam vor Ort damit auseinandergesetzt, in welchem Ausmaß sich das Virus innerhalb der Heinsberger Bevölkerung verbreiten konnte. Dazu sammelten sie zwischen 31. März und 6. April 2020 Blutproben und Rachenabstriche von 919 zufällig ausgewählten Einwohnern der 12.600-Seelen-Stadt Gangelt im Kreis Heinsberg und untersuchten sie auf IgG-Antikörper gegen SARS-CoV-2 beziehungsweise virale RNA. Zudem baten sie die Probanden, einen Fragebogen auszufüllen, in dem das Team unter anderem Daten zu Vorerkrankungen, Symptomen und der Teilnahme an Karnevalssitzungen erhob.
Untersuchte Arzneimittel ohne Einfluss auf die Infektion
Auf Basis dieser Informationen fanden Streeck und Kollegen heraus, dass sich etwa 15,5 Prozent der Studienteilnehmer offenbar mit dem neuartigen Coronavirus infiziert hatten. „Das sind fünfmal mehr Menschen als aus den offiziellen Zahlen (3,1 Prozent) für diese Gruppe hervorgeht“, fassen die Wissenschaftler zusammen. Mehr als jede fünfte Infektion (22,2 Prozent) verlief demnach asymptomatisch. Alter und Geschlecht wirkten sich nicht auf das Risiko aus, sich mit dem Erreger anzustecken. Auch die Einnahme von Ibuprofen, ACE-Hemmern oder Sartanen war den Autoren zufolge nicht signifikant mit einer erhöhten Infektionsrate oder der Zahl der Symptome bei Infizierten assoziiert.
Schicksalhafte Karnevalssitzung
Deutliche Unterschiede zeigten sich jedoch zwischen denjenigen, die an einer Karnevalssitzung teilgenommen hatten (Infektionsrate 21,3 Prozent), und jenen, die den Feierlichkeiten fern geblieben waren (9,3 Prozent). Die Wahrscheinlichkeit, sich innerhalb des eigenen Haushalts bei einem Infizierten anzustecken, stieg dagegen im Vergleich zum Basiswert von 15,5 Prozent für Streeck und sein Team überraschend moderat: Bei einem Zwei-Personen-Haushalt registrierten sie ein Plus von 28,1 Prozentpunkten auf 43,6 Prozent. In Wohneinheiten von drei Menschen lag das Risiko bei 35,7 Prozent (plus 20,2 Prozentpunkte) und bei vier zusammen lebenden Individuen bei 18,3 Prozent (plus 2,8 Prozentpunkte).
Hochrechnung für Deutschland
Darüber hinaus nutzten die Wissenschaftler die jetzt vorliegenden Daten, um das Verhältnis zwischen der Zahl der Infektionen und der Zahl der Todesfälle (Sterblichkeitsrate, infection fatality rate, IFR) für Deutschland abzuschätzen und daraus Rückschlüsse auf die tatsächlichen Infektionszahlen zu ziehen. Bisher war lediglich möglich, die Zahl der Todesfälle mit der Zahl der offiziell nachgewiesenen Fälle zu vergleichen (Fallsterblichkeit, case fatality rate, CFR), was mit Blick auf die begrenzten Testkapazitäten eine deutlich eingeschränkte Aussagekraft besitzt.
In Heinsberg waren sieben Menschen an den Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion gestorben. Daraus resultiert laut Streeck und Kollegen eine Sterblichkeitsrate von 0,36 Prozent. Hochgerechnet auf die Bundesrepublik mit inzwischen rund 6800 Corona-Toten, könnten bereits etwa 1,9 Millionen Menschen bundesweit mit dem Virus in Kontakt gekommen sein – bemerkt oder unbemerkt, vermuten die Autoren. Damit wäre die Dunkelziffer rund zehnmal so groß wie die Zahl der gemeldeten Fälle (rund 164.000, Stand 5. Mai).
„Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden“, kommentiert Studienleiter Streeck die Ergebnisse. Welche Schlüsse aus den Studienergebnissen gezogen werden, hänge jedoch von vielen Faktoren ab, die über eine rein wissenschaftliche Betrachtung hinausgehen, räumt der Virologe ein. „Die Bewertung der Erkenntnisse und die Schlussfolgerungen für konkrete Entscheidungen obliegen der Gesellschaft und der Politik.“
Kritik vom Kollegen
Erste Zwischenergebnisse seiner Studie hatte Streeck bereits kurz vor Ostern bekannt gegeben, darunter die Information, dass der Antikörpertest bei rund 15 Prozent der untersuchten Population positiv ausgefallen war. In der Folge entwickelte sich das Gerücht, 15 Prozent der deutschen Bevölkerung sei immun gegen das Virus. Für das Vorgehen, erste Zahlen zu veröffentlichen, ohne ein entsprechendes Manuskript vorzulegen, kritisierte der Berliner Virologe Professor Christian Drosten seinen Kollegen scharf.
In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ vom 24. April sagt Drosten zwar, die Studie erscheine wissenschaftlich fundiert. Streeck selbst wirft er aber vor, seine Untersuchung möglicherweise gezielt öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt zu haben. „Das hat mit guter wissenschaftlicher Praxis nichts mehr zu tun“, betont er. „Und es zerstört viel von dem ursprünglichen Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft.“ |
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