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Pandemie Spezial

Ein Blick auf die Intensivstation

Was ist nötig, damit Patienten kritische Zustände überwinden?

Nicht nur „in Zeiten von Corona“ kann man in der öffentlichen Apotheke mit besorgten Menschen konfrontiert sein, deren Angehörige kritisch erkrankt sind und auf einer Intensivstation liegen. Da ist es gut, wenn man nicht nur Trost spenden und beruhigen, sondern auch den einen oder anderen verstörenden Anblick mit etwas Hintergrundwissen erläutern kann. Die Intensivmedizin ist der zunehmend erfolgreiche Ansatz der modernen Medizin, die Funktionen versagender Organe mit technischen und pharmakologischen Mitteln zu unterstützen (oder gar zu ersetzen) und so den Patienten die zur Überwindung des kritischen Zustands nötige Zeit zu verschaffen. Und: Sie ist ein interessantes Betätigungsfeld für die Klinische Pharmazie!  | Von Markus Zieglmeier

Das Setting ist für Laien in der Tat beängstigend: Da liegt ein bewusstloser Patient, manchmal in grotesk anmutender Bauchlage, umgeben von einem Gewirr aus Schläuchen und Kabeln, die seinen Körper mit einer Vielzahl von Geräten, Flaschen und Beuteln verbinden. Was geschieht hier, werden sich viele Menschen fragen. Wer die heutige Intensiv­medizin verstehen will, tut das am besten aus ihrer Entstehungs­geschichte heraus.

Geburtsjahr 1952 – Geburtsort Kopenhagen

Im September 1951 fand in Kopenhagen der zweite internationale Poliomyelitis-Kongress statt. Die Teilnehmer waren guter Dinge, stand doch die Entwicklung von Impfstoffen gegen die tückische, allzu oft tödliche Kinderlähmung kurz vor ihrem erfolgreichen Abschluss. Man ist sich heute nahezu sicher, dass einige der versammelten Koryphäen stille Träger des Polio-Virus gewesen waren, denn wenige Monate später wurde Dänemarks Hauptstadt von einer verheerenden Polio-Epidemie heimgesucht, während der das Virus bei vielen Kindern nicht nur einzelne Gliedmaßen, sondern auch das Atemzentrum lähmte – bis dahin ein nahezu sicheres Todesurteil. Das einzige Gerät, das zur Verfügung stand, war die 1931 in Harvard entwickelte „eiserne Lunge“, eine luftdichte Kammer, die den Körper bis zum Hals umschloss und durch rhythmisches Anlegen von Unterdruck den Brustkorb dehnte, wodurch etwas Luft in die Lungen strömte. Das Gerät kam an seine Grenzen, sobald das Virus auch den Schluckreflex gelähmt hatte und die jungen Patienten buchstäblich in ihrem Speichel ertranken. In Kopenhagen waren bis zur Epidemie 76 Patienten damit behandelt worden, nur 15 hatten überlebt.

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Die „eiserne Lunge“ wurde in den 1930er-Jahren in Harvard entwickelt. Der Patient lag dabei in einer luftdichten Kammer, die den Körper bis zum Hals umschloss und durch rhythmisches Anlegen von Unterdruck den Brustkorb dehnte, wodurch etwas Luft in die Lungen strömte.

Als im August 1952 täglich über 50 dem Erstickungstod nahe Kinder in die Kliniken kamen, wurde der Anästhesist Dr. Björn Ibsen zu Rate gezogen – damals keine ganz naheliegende Idee, denn die Rolle dieser Ärzte beschränkte sich damals darauf, im OP die Patienten „schlafend zu halten“, während der Chirurg seine Arbeit verrichtete. Ibsen ließ an einem erstickenden Kind eine Tracheotomie (ein Zugang zur Luftröhre durch den Hals) durchführen, führte eine Trachealkanüle ein und begann es mittels eines Gummibeutels zu beatmen. Der Erfolg, abzulesen an der von tiefblau-zyanotisch zu rosig wechselnden Gesichtsfarbe, war durchschlagend. In der Folge wurden bis zu siebzig Kinder gleichzeitig von Medizinstudenten und anderen Helfern manuell beatmet. Am Ende der Epidemie war die Sterblichkeit von 90 auf 25 Prozent gesunken. Die ersten „Beatmungsgeräte“ waren also Menschen [1].

Kein Überleben ohne Gasaustausch

Es klingt aus heutiger Sicht seltsam, dass die Notwendigkeit und die Möglichkeiten, bei schwer Erkrankten den Gasaustausch in der Lunge künstlich zu unterstützen, erst Mitte des vorherigen Jahrhunderts erkannt wurden. In den 1950er-Jahren wurden die zugrunde liegenden Mechanismen erkannt und das Prinzip auf andere Patienten, insbesondere frisch Operierte, erweitert: Durch Beatmung oder mechanische Unterstützung der Spontanatmung wird der Organismus entlastet und gewinnt Zeit, unbelastet durch Sauerstoffmangel und respiratorische Azidose (Anreicherung von CO2, in der Folge Übersäuerung) den Heilungsprozess einzuleiten. Die Beatmung ist auch heute noch das Kernstück der Intensivmedizin, zunehmend verfeinert durch Möglichkeiten, auch bei schwer geschädigter Lunge (ARDS = acute respiratory distress syndrome) den Gasaustausch zu verbessern. Die wichtigste davon, neben der Erhöhung der Sauerstoffkonzentration, ist PEEP (positive endexpiratory pressure), wobei der Druck in der Lunge nie den Luftdruck der Um­gebung erreicht und sogar während der Ausatmung noch Gasaustausch forciert wird. Voraussetzung dafür sind Blockermanschetten um Tubus oder Trachealkanüle, die in aufgeblasenen Zustand ein Entweichen des Beatmungs-Gasgemisches aus der Lunge verhindern. Die Bauchlage fördert den Gasaustausch ebenfalls.

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COVID-19 auf den Intensivstationen in der ganzen Welt – Die Bauch­lage fördert den Gasaustausch künstlich beatmeter Patienten, wie hier in einer Moskauer Klinik Ende April.

Gerade bei schweren Entzündungen der Lunge ist das in manchen Fällen aber immer noch nicht ausreichend oder auch nicht möglich, wenn die angegriffene Lunge den Druck nicht mehr toleriert. In den letzten Jahren ist für solche Fälle eine ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung) genannte Technik dazugekommen, bei der venöses Blut außerhalb des Körpers durch Membranen fließt, durch die CO2 abgegeben und O2 aufgenommen wird. Die Funktion der entzündeten Lunge wird dabei teilweise ersetzt, die Beatmung wird währenddessen lungenprotektiv mit vermindertem Druck und angepasster inspiratorischer Sauerstoffkonzentration fortgesetzt. Zu beachten ist dabei, dass bei der Ausleitung von Blut die Gerinnung aktiviert werden kann. Dies macht eine Antikoagulation notwendig und mündet häufig in eine Gratwanderung zwischen Blutung und intravasaler Gerinnung, zu der ein Patient im septischen Schock ohnehin neigt (was auch für viele schwere Verläufe bei Covid-19 gilt). Eine weitere, allerdings limitierte Möglichkeit besteht darin, den Sauerstoffverbrauch des Energiestoffwechsels abzusenken. Dies kann man erreichen, indem man den Fettanteil der Ernährung zulasten des Kohlenhydratanteils anhebt. Dieselbe Kalorienmenge aus Fett statt aus Glucose zu gewinnen, erfordert weniger Sauerstoff. Die Limitation besteht darin, dass bei stark überhöhten Triglyceridspiegeln das Risiko einer Pankreatitis besteht und die Gabe von parenteralen Lipiden rechtzeitig pausiert werden muss [2]. Damit sind wir bei der klinischen Ernährung angelangt.

Der „verkabelte“ Patient - 1: Zentraler Venen­katheter (ZVK), 2: Magen- oder Duodenalsonde, 3: Arterieller Zugang zur Blutdruckmessung, 4: Blasenkatheter, 5: EKG

Treibstoff auf zwei Wegen

Intensivpatienten werden häufig sowohl enteral als auch parenteral ernährt, was sich optisch an jeweils zwei Beuteln (TPE-Beutel und Sondennahrung), Schläuchen (Infusionssystem zum Venenkatheter, Überleitsystem zur Magen­sonde) und Geräten (Infusions- und Ernährungspumpe, zwei Peristaltikpumpen) erkennen lässt. Es gilt das Prinzip „Oral vor enteral vor parenteral“. Da eine orale Zufuhr (Essen und Schlucken) beim sedierten und beatmeten Patienten nicht möglich ist, erfolgt die enterale Ernährung (EE) meist über eine nasogastrale (in die Nase eingeführte, im Magen endende) Sonde aus Silikonkautschuk oder Polyurethan. Nur bei langfristiger EE wird vom Gastroenterologen eine PEG (perkutane, endoskopisch angelegte Gastrostomie) gelegt. Der komplette Verzicht auf EE (und seien es nur minimale Mengen, wenn mehr nicht toleriert wird) führt innerhalb von Tagen bis Wochen zu einer weitgehenden Atrophie der Darmzotten (Villi und Microvilli) im Dünndarm und auf diesem Wege zu einer Reihe von (meist) vermeidbaren Komplikationen. Die EE kann außerdem dazu beitragen, eine im Idealfall annähernd normale Peristaltik des Magen-Darm-Trakts aufrechtzuerhalten.

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Enterale (links) und parenterale Ernährung (Dreikammerbeutel, Mitte), Elektrolytlösung (rechts). Die Emulsionen bzw. Lösungen werden kontinuierlich durch Peristaltikpumpen appliziert.

Der „Vater“ der parenteralen Ernährung war der schwedische Mediziner Arvid Wretlind. Er entwickelte in jungen Jahren die Aminosäurenlösungen – um eine Immunreaktion zu vermeiden, muss Eiweiß in Form seiner Einzelbausteine angeboten werden – und später Fettemulsionen mit Lecithin als Emulgator, deren Mizellen klein genug sind, um Fett­embolien sicher zu vermeiden. Vorher war es nicht möglich, einen Patienten langfristig bedarfsdeckend parenteral zu ernähren, da man weder essenzielle Fettsäuren noch aus­reichend Kalorien zuführen konnte. Die totale parenterale Ernährung (TPE), bei der (i.d.R. abgesehen von der minimalenteralen Zottenernährung) alle Nährstoffe intravenös zugeführt werden, wird heute von der Industrie als Dreikammerbeutel angeboten, in denen Fettemulsion, Aminosäuren- und konzentrierte Glucoselösung zur Vermeidung von Inkompatibilitäten („Maillard-Reaktion“ reduzierender Zucker mit Aminogruppen) voneinander getrennt abgefüllt sind und gelagert werden. Vor der Anwendung werden die Schweißnähte zwischen den Kammern durch Druck zum Platzen gebracht, und es resultiert eine weiße, für die Applikationsdauer von 24 Stunden hinreichend stabile Emulsion. Vitamine und Spurenelemente müssen zugespritzt oder als separate Kurzinfusion gegeben werden. Wegen des hohen osmotischen Drucks von mehr als 1000 mOsm/l, der in einer peripheren, kleinlumigen Vene zu einer Thrombophlebitis führen würde, muss eine TPE über einen zentralen Venenkatheter (ZVK) infundiert werden. Dabei handelt es sich i.d.R. zur Vermeidung von Inkompatibilitäten im Schlauch um mehrlumige Katheter (man spricht statt von Lumen auch von Schenkel), die in eine Halsvene (V. jugularis interna) eingeführt und in die obere Hohlvene (V. cava superior) bis vor den rechten Herzvorhof geschoben werden. Ein Schenkel ist dabei immer von der TPE belegt, die anderen stehen für Arzneimittel (Antibiotikagaben, Katecholamin-Perfusor u. a.) zur Verfügung.

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Spritzenpumpe für die kontinuierliche Applikation kleinerer Volumina (50 ml).

Entfernung unerwünschter Substanzen aus dem Blut

In jeder Apotheke kennt man einen oder mehrere Dialysepatienten. Diese leiden meist an einem chronischen, irreversiblen Nierenversagen. Das Problem des Intensivpatienten dagegen ist meist ein akutes Nierenversagen, das aber nach Behebung der Ursache reversibel ist. Intermittierende Dialyseverfahren wie im ambulanten Sektor üblich, bei denen der Patient alle zwei Tage innerhalb weniger Stunden von kumulierten harnpflichtigen Substanzen und mehreren Litern Flüssigkeit befreit wird, sind beim kreislaufinstabilen Intensivpatienten aus verschiedenen Gründen nicht praktikabel.

Bei den kontinuierlichen Verfahren ist die Hämo­filtration das älteste. Dabei wird lediglich die glomeruläre Filterfunktion ersetzt, nicht jedoch die tubu­läre Rückresorption von Elektrolyten, Glucose und Wasser. Die große Flüssigkeitsmenge, die ausgeschieden und durch die gleichzeitige Zufuhr von HF-Lösungen mit Elektrolyten und Glucose ersetzt werden muss, entspricht also in etwa dem Primärharn.

Dabei entfernt die Hämofiltration neben Wasser große Moleküle, die nur langsam durch eine Dialysemembran diffundieren, effizienter als die Dialyse, niedermolekulare harnpflichtige Substanzen jedoch schlechter. Um Vor- und Nachteile beider Verfahren auszugleichen, wurde auch eine Kombination beider Verfahren erfunden, die Hämodiafiltration.

Problem aller Methoden, bei denen Blut aus dem Körper durch Schläuche und Geräte und wieder zurückgepumpt wird, ist die notwendige Heparinisierung, um Gerinnsel zu verhindern (s. o. bei ECMO). Eine elegante Alternative dazu, die zunehmend die älteren Verfahren verdrängt, ist die CiCa-Dialyse. Die Antikoagulation funktioniert dabei analog zur Gerinnungsanalytik in der klinischen Chemie: Das zum Start der Gerinnungskaskade notwendige Calcium wird durch Citrat komplex gebunden und erst dem in den Körper zurückfließenden Blut wieder zugesetzt. Im Körper wird – eine gute Leberfunktion vorausgesetzt – das Citrat rasch aus dem Blut entfernt und in den Citratzyklus eingespeist – ein Prozess, der viel schneller erfolgt als die Entfernung von überschüssigem Heparin.

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CiCa-Dialyse – das zum Start der Gerinnungskaskade notwendige Calcium wird durch Citrat komplex gebunden und erst dem in den Körper zurück­fließenden Blut wieder zugesetzt.

Dass unerwünschte (in diesem Fall harnpflichtige) Substanzen außerhalb des Körpers aus dem Blut entfernt werden, ist ein Prinzip, das sich erweitern lässt, und zwar auf körpereigene Entzündungsmediatoren. Eine gefürchtete Komplikation schwerer Infektionen ist der „Zytokinsturm“, eine unkontrollierte und überschießende Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie Interleukin 1ß, 6, 8, 10 und Tumornekrosefaktor alpha, die zu einer dramatischen und potenziell tödlichen Zustandsverschlechterung des kritisch Kranken führen. Auch sie lassen sich, ebenso wie bakterielle Toxine, in einem extrakorporalen Verfahren großenteils aus dem Blut entfernen, jedoch nicht durch Dialyse, sondern durch Adsorption an Polymerpartikel („Adsorber-Beads“).

Patientennahes Monitoring

Die kritische Situation von Intensivpatienten erfordert manchmal rasches Handeln, was das zeitnahe Erkennen des Handlungsbedarfs voraussetzt. EKG und Blutdruckmessung sind selbstverständlich, letzterer allerdings wird nicht in regelmäßigen Abständen mit einer Manschette um den Oberarm gemessen, sondern kontinuierlich im Blutgefäß selbst. Dazu wird die Arteria femoralis in der Leistengegend oder die Arteria radialis am Handgelenk punktiert und mit einer Messsonde versehen, die mit dem Monitor verbunden ist.

Weil auch der Erfolg der Beatmung engmaschig überwacht werden muss, wurden Analysengeräte entwickelt, die auf der Intensivstation selbst, ohne den Zeitverlust einer Verschickung der Probe ins klinisch-chemische Labor, Blutgase (O2- und CO2-Partialdruck) sowie den pH-Wert und Lactat-Gehalt des Blutes messen konnten. Später kamen weitere Parameter wie Blutzucker und Serumelektrolyte dazu. Wegen der unmittelbaren Patientennähe der Analytik erhielt dieses Monitoring den Namen point of care testing (POCT). Ein großer Teil der Messmethoden, die heute in der Apo­theke dem Kunden angeboten werden können, hat seinen Ursprung auf der Intensivstation.

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Gewonnener Kampf – und dann?

All diese Methoden dienen dazu, Zeit zu gewinnen, die der Organismus des Patienten nutzen kann, um den Auslöser der Krise zu bekämpfen und einen Zustand wiederherzustellen, in dem er ohne technische und pharmakologische Unterstützung überleben kann. In dem Moment, in dem dieses Ziel erreicht ist, beginnt eine weitere kritische Phase: das Weaning, die Entwöhnung von der künstlichen Beatmung. Die Sedierung (z. B. Benzodiazepine, Propofol, Ketamin) wird langsam zurückgefahren, und der Patient beginnt, zunächst unterstützt vom Beatmungsgerät, wieder selbst zu atmen. Eine gefürchtete Komplikation in dieser Phase ist das Delir. Das Hirn, gerade aus der Sedierung erwacht, nimmt eine Umgebung wahr, die aus der Perspektive eines Laien einem Alptraum entsprungen ist. Es reagiert mit Verwirrtheit, Halluzinationen und anderen Symptomen. Man unterscheidet ein hypoaktives (katatones, 30 Prozent) und ein hyperaktives (agitiertes, 5 Prozent) Delir, in der Mehrzahl der Fälle (65 Prozent) liegt jedoch ein Mischtyp aus beiden Delirformen vor. Ein Delir erhöht die Krankenhausverweildauer und langfristig auch die Sterblichkeit. Es gibt im klinischen Sprachgebrauch mehrere Synonyme, der Begriff Durchgangs­syndrom („da muss er/sie durch“) beschreibt am besten die relative Hilflosigkeit, mit der wir dem Phänomen auch heute noch gegenüberstehen. Studien mit Psychopharmaka liefern höchst widersprüchliche Ergebnisse, zumal zentrale anticholinerge Effekte, die viele Vertreter der Neuroleptika haben, delirogen wirken. Clonidin ist wegen Nebenwir­kungen im Herz-Kreislaufsystem im Einsatz limitiert und hinsichtlich seiner Wirksamkeit ebenfalls umstritten. Die ähnlich wirkende Substanz Dexmedetomidin liefert in Kombination mit parenteralem Paracetamol noch die besten Ergebnisse, allerdings betreffen alle Studien hierzu die Prophylaxe, nicht die Therapie des Delirs [3].

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Geschafft! – Der 99-jährige Ernando Piveta, Brasilianischer Weltkriegsveteran, wird nach zwei Wochen Behandlung aus dem Militärkrankenhaus entlassen. Anfang April wurde er mit einer akuten COVID-19-Erkrankung eingeliefert. Brasilien ist mit deutlichem Abstand zu Peru und Mexiko das derzeit am stärksten vom Coronavirus betrof­fene südamerikanische Land.

Komplikationen und die Rolle des Klinischen Pharmazeuten

Die Intensivmedizin entstand, weil 1952 in Kopenhagen mit Björn Ibsen jemand gefragt wurde, den man vorher als Außenstehenden empfunden hatte. Die Idee, die Meinung von Außenstehenden mit einer gänzlich anderen Perspektive einzuholen, ist seither in den Denkstrukturen vieler Intensiv­mediziner tiefer verankert als bei anderen Ärzten. So entstanden vor über 30 Jahren (in den USA noch früher) an deutschen Universitäten bereits Disser­tationen von Pharmazeuten, die sich mit Fragen der Optimierung der Arzneimitteltherapie des kritisch Kranken befassten, später sogar ein feder­führend von einer Klinischen Pharmazeutin verfasstes Lehrbuch der Pharmakotherapie auf Intensivstationen [4].

Gelegenheiten zur Optimierung gibt es genug. Praktisch jede intensivmedizinische Maßnahme hat Risiken und Nebenwirkungen, die ein inten­sives Monitoring und Nebenwirkungsmanagement erfordern. Ein gutes Beispiel ist die Stressulcusprophylaxe, die zeigt, wie die allgemeine Arzneimitteltherapie mit Fragestellungen der klinischen Ernährung und der Infektiologie interagiert.

Bei vielen Intensivpatienten kommt es zur Bildung von Magen- und Duodenalulcera. Dies kann durch die parenterale Gabe von Protonenpumpenhemmern effizient verhindert werden. Dadurch jedoch wird der Magen-pH neutral, zusammen mit der Hemmung der Darmperistaltik (z. T. durch hoch dosierte Opioide oder anticholinerge bzw. sympathomimetische Arzneimittelwirkungen, z. T. auch als Reaktion auf Eingriffe im Bauchraum) führt das zu einer raschen Besiedelung des gesamten Verdauungstrakts bis zur Speiseröhre mit Darmkeimen. Dadurch kann es (man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass die Blockermanschette eines Tubus oder einer Trachealkanüle die Luftröhre dicht verschließt) zu rezidivierenden nosokomialen Pneumonien kommen. Der Pharmazeut ist bei diesen Gelegenheiten zusammen u. a. mit dem Mikrobiologen Teil des Antibiotic-Stewardship-Teams, in dem er sich hauptsächlich mit den pharmakokinetischen Aspekten der Antibiotikatherapie befasst. Um das Risiko nosokomialer Pneumonien zu minimieren, gibt es verschiedene Strategien.

Eine naheliegende Idee, bei der die Apotheke oft mit Rezepturen mitwirkt, ist die selektive Dekontamination von Speiseröhre und Darm (abgekürzt SOD bzw. SDD) mit antimikrobiellen Substanzen, die nicht resorbiert werden. Der frühzeitige enterale Kostaufbau ist eine unterstützende Strategie, die jedoch nicht ohne Risiken ist. Einerseits wird die Peristaltik dadurch angeregt, andererseits kann in einem besiedelten Magen aus Sondennahrung viel Gas gebildet und die Refluxproblematik dadurch verschärft werden. Da die Lähmung der gastrointestinalen Peristaltik einen von der Infektiologie unabhängigen Krankheitswert hat, ist die pharmakologische Einflussnahme ein häufiges Diskussionsthema zwischen Intensivmedizinern und Pharmazeuten. Erythromycin beispielsweise (off label in einer Dosierung von wenigen hundert Milligramm mehrmals täglich) ist hier nicht als Antibiotikum, sondern als Motilin-Agonist im Einsatz und eine der effizientesten Möglichkeiten, die Magenentleerung zu triggern. Dabei besteht das Risiko von Arzneimittelinteraktionen, da Erythromycin u. a. ein relativ potenter Inhibitor von CYP3A4 ist – ein weiteres pharmazeutisches Betätigungsfeld.

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Interdisziplinarität und Interprofessionalität Die Meinung von Außenstehenden einzuholen, ist in den Denkstrukturen der Intensivmediziner tief verankert. Eine wichtige Voraussetzung für die Etablierung der Klinischen Pharmazie bei kritischen Krankheitsfällen.

Eine ebenfalls damit zusammenhängende Problematik ist die Opioid-induzierte Obstipation (OIO oder OIC), die bis hin zum paralytischen Ileus gehen kann. Ultima Ratio ist die subkutane Gabe von Methylnaltrexon, einem Opioidantagonisten, der als quartäres Ammoniumsalz die Blut-Hirn-Schranke nicht penetrieren kann und somit nur die peripheren (Neben-)Wirkungen der meist hoch dosierten Opioide Fentanyl und Sufentanil antagonisiert. Diese Option ist teuer und trägt das Risiko von Darmrupturen in sich. Alternativ stellten einige Krankenhausapotheken defekturmäßig Naloxon-Lösung zur enteralen Applikation her. Diese mussten jedoch alle vier Stunden gegeben werden und waren nur mäßig wirksam. Bei höheren Dosierungen und eingeschränkter metabolischer Leberleistung (infolge des verminderten First-Pass-Effekts) bestand die Gefahr der Antagonisierung zentraler analgetischer Effekte. Heute sind diese Tropfen durch die einmal tägliche Sondenapplikation von Naloxegol 25 mg ersetzt. Der Erfolg dieser Maßnahme ist, dass die Fälle von paralytischem Subileus bzw. Ileus ebenso wie die Verbräuche von Methylnaltrexon deutlich zurückgegangen sind. Solche kleinen Schritte in der Verbesserung von Teilaspekten der Therapie sind Ergebnisse der Kommunikation von Pharma­zeuten mit Intensivmedizinern.

Dem Setting den Schrecken nehmen

Ein Intensivpatient, der heute beispielsweise im oberbayerischen Kreisklinikum Mühldorf aus der Sedierung erwacht, blickt auf ein Alpen­panorama, als wäre er auf einer Almwiese. Das ist natürlich nur eine Kulisse, aber Studien zeigen, dass durch solche einfachen Maßnahmen das Risiko eines Delirs gesenkt werden kann. Andere Studien zeigen, dass Menschen den Zustand der (relativen) Gesundheit schneller wiedererlangen, wenn sie wissen und verstehen, was mit ihnen geschieht. Menschen, die sich hilflos nicht begreifbaren Mächten ausgeliefert fühlen, sterben eher in einer solchen Situation. Der Psychologe Aaron Antonovsky entwickelte, alternativ zur in der Medizin üblichen Sicht­weise der Pathogenese, das Konzept der Salutogenese. Statt also nach der Entstehung von Krankheiten zu fragen, stellte er die entgegengesetzte Frage: Wie entsteht eigentlich Gesundheit? Er fand heraus, dass das Prinzip Kohärenz, bestehend aus Sinnhaftigkeit,Verstehbarkeit und Bewältigbarkeit, die wichtigste Ressource darstellt, die einen Menschen gesund erhält oder wieder gesund werden lässt.

Zur Verstehbarkeit des Settings Intensivstation sollte dieser Artikel beitragen. Wie viel der medizinische Fortschritt zur Bewältigung einer Krise eines einzelnen Patienten oder einer ganzen Gesellschaft beitragen kann, zeigt das Personal unserer Intensivstationen gerade jetzt, „in Zeiten von Corona“ an jedem Tag und in jeder Nacht. |

Literatur

[1] Le Fanu J: The Rise and Fall of Modern Medicine. Abacus books, 2. Aufl. 2011

[2] DGEM: S2k-Leitlinie Klinische Ernährung in der Intensivmedizin. www.awmf.org

[3] Subramaniam B et al: Effect of Intravenous Acetaminophen vs Placebo Combined With Propofol or Dexmedetomidine on Postoperative Delirium Among Older Patients Following Cardiac Surgery: The DEXACET Randomized Clinical Trial. JAMA. 2019 Feb 19;321(7):686-696

[4] Bäumel M et al: Pharmakotherapie in der Intensivmedizin. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 4. Aufl. 2018

Weitere Literatur beim Autor

Autor

Dr. Markus Zieglmeier, Apotheker, studierte Pharmazie an der LMU in München und ist seit 1989 in der Apotheke des Klinikums München-­Bogenhausen tätig; Promotion zum Dr. rer. biol. hum.; Fachapotheker für Klinische Pharmazie, Zusatzbezeichnungen: Medikationsmanager BA KlinPharm, Ernährungsberatung und Geriatrische Pharmazie. Seit 2002 ist er verstärkt als Referent und Autor tätig.

München-Klinik, Apotheke Klinikum Bogenhausen,

Englschalkinger Str. 77, 81925 München,

mzieglmeier@gmail.com

autor@deutsche-apotheker-zeitung.de

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