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Arzneimittel und Therapie
Ein Schwindel mit vielen Gesichtern
Was sich hinter der chronischen vestibulären Migräne verbirgt und wie sie therapiert werden kann
Die vestibuläre Migräne ist eine der häufigsten Schwindelerkrankungen und stellt eine Sonderform der Migräne dar, bei der es zu Schwindel vor, während oder nach Migränekopfschmerzen kommen kann. Nicht selten kommt es aber auch unabhängig von der Migräneattacke zu Schwindel. Häufig wird der Schwindel von vegetativen Symptomen, wie Photo- und Phonophobie, Übelkeit oder Erbrechen, begleitet. Auch kann es während oder vor dem Schwindel zu Symptomen einer Migräneaura in Form einer visuellen Aura kommen. Der Schwindel kann spontan auftreten oder durch Veränderung der Körperposition provoziert werden, z. B. beim Umdrehen oder Hinlegen. Es ist auch möglich, dass der Schwindel durch visuelle Reize wie beim Arbeiten am Computer oder durch sich bewegende Objekte akzentuiert wird. Der Schwindel dauert üblicherweise zwischen fünf Minuten und 72 Stunden an. Es gibt aber auch Hinweise für deutlich längere Schwindelepisoden, die dann Tage, auch Wochen oder sogar Monate anhalten können. Der Schwindel kann als drehend, schwankend oder als ein Benommenheitsgefühl wahrgenommen werden.
Die aktuelle Internationale Kopfschmerzklassifikation (ICHD 3) nennt die Diagnosekriterien für die vestibuläre Migräne [1], die in Zusammenarbeit mit der Bárány-Gesellschaft für Schwindel- und Gleichgewichtserkrankungen erarbeitet wurden [2] (s. Kasten „Diagnosekriterien“). Die Kriterien decken allerdings die chronische Unterform der vestibulären Migräne bislang noch nicht ausreichend ab. Oftmals wird die vestibuläre Migräne aktuell mit einem funktionellen Schwindel verwechselt. Dies ist auch deshalb der Fall, weil viele Patienten mit chronisch vestibulärer Migräne zusätzlich unter somatoformen Schwindelkomponenten leiden.
Diagnosekriterien
Für die Diagnose „vestibuläre Migräne“ sollten folgende Kriterien erfüllt sein [1]:
- A: mindestens fünf vestibuläre Episoden, die die Kriterien C und D erfüllen
- B: aktuell oder zuvor bestehende Migräne (ohne oder mit Aura)
- C: mittelstarke oder starke vestibuläre Symptome mit einer Dauer von fünf Minuten bis 72 Stunden
- D: mindestens 50% der Episoden sind begleitet von mindestens einem der folgenden migränösen Symptome:
- Migräne-Kopfschmerz (mit mindestens zwei der vier Charakteristika: einseitig lokalisiert, pulsierend, mittelschwere oder schwere Intensität, Verschlechterung durch körperliche Routineaktivitäten)
- Photophobie und Phonophobie
- visuelle Aura - E: keine andere ICHD-3-Diagnose oder andere Schwindelerkrankung zutreffender
Ursache ungeklärt
Die Pathophysiologie der vestibulären Migräne ist noch nicht abschließend geklärt [3]. Auf hirnstruktureller Ebene sind Verbindungen zwischen dem schmerzverarbeitenden trigeminalen und dem vestibulären System seit Langem bekannt. Die vestibulären Kerngebiete erhalten noradrenerge Projektionen vom Locus coeruleus und serotonerge Projektionen aus den dorsalen Raphe-Kernen [3, 4]. Durch verschiedene Experimente konnte eine Bedeutsamkeit dieser anatomischen Verbindungen bei Migränepatienten verdeutlicht werden. So ließ sich durch eine schmerzhafte supraorbitale Stimulation auf der Haut bei Patienten mit Migräne eine unkontrollierbare, rhythmische Bewegung der Augen (Nystagmus) auslösen, bei Kontrollpersonen jedoch nicht [5]. Zudem konnte gezeigt werden, dass eine kalorische Stimulation in der Video-Nystagmographie bei Migränepatienten vermehrt in der Folge Migränekopfschmerzen innerhalb der ersten 24 Stunden nach Durchführung der Untersuchung auslöst [6].
Während und außerhalb einer vestibulären Migräne-Attacke kann es zu okulomotorischen Symptomen, wie einem Blickrichtungsnystagmus, schnellen Blicksprüngen (sakkadierte Blickfolge) oder einem Spontannystagmus, kommen [7]. Ein einseitiges Defizit des Gleichgewichtsorgans kann bei bis zu 25% der Patienten außerhalb der Attacken gefunden werden [8]. Etwa ein Drittel der Patienten beschreibt auch begleitende cochleäre Symptome, wie Hörminderung oder Tinnitus [9], was die differenzialdiagnostische Abgrenzung zum Morbus Menière, einer ebenfalls in Attacken auftretenden und medikamentös vollkommen unterschiedlich zu behandelnden chronischen Schwindelerkrankung, erschweren kann.
Bildgebende Untersuchungen konnten zeigen, dass sich während einer vestibulären Migräne-Attacke in verschiedenen Hirnarealen der Stoffwechsel verändert, die an der Verarbeitung von Schmerzen und vestibulären Reizen beteiligt sind, wie das Kleinhirn, der Thalamus sowie frontale Hirnregionen [10]. Nach einer thermischen Spülung der äußeren Gehörgänge zeigte sich außerdem bei Patienten mit vestibulärer Migräne eine erhöhte thalamische Aktivierung [11], die mit der Migränefrequenz der Probanden korrelierte. Neben diesen funktionellen Veränderungen konnten mittels Voxel-basierter Morphometrie aus dreidimensionalen tomographischen Bildern durch ganzhirnbasierte statistische Analysen aus Größe, Intensität, Form- und Texturparameter strukturelle Hirnveränderungen in verschiedenen multisensorischen vestibulären sowie vestibulär-assoziierten Hirnarealen bei Patienten mit vestibulärer Migräne nachgewiesen werden [12]. Es gibt allerdings eine große Übereinstimmung der veränderten Hirnregionen zwischen vestibulärer Migräne und der „klassischen“ Migräne ohne vestibuläre Symptome.
Auf einen Blick
- Bei der vestibulären Migräne handelt es sich um eine sehr häufige, gut behandelbare, aber wahrscheinlich noch zu oft übersehene Erkrankung, insbesondere wenn Schwindelsymptome ohne Migränekopfschmerzen auftreten.
- Jeder Schwindelpatient sollte daher eingehend nach Kopfschmerzen befragt werden, um die vestibuläre Migräne nicht zu übersehen!
Multimodaler Therapieansatz
Für eine optimale Therapie insbesondere bei chronischer Verlaufsform ist oftmals ein multimodaler Therapieansatz notwendig, um der Komplexität dieser Erkrankung gerecht zu werden. Die multimodale Therapie besteht aus medikamentösen und nichtmedikamentösen Maßnahmen.
In Anlehnung an die Therapie der Migräne sollten in vorbeugender Absicht der vestibulären Migräne Ausdauersport, ein regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus und Stressreduktion durch Entspannungstechniken, wie autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation, als elementare Bestandteile der nichtmedikamentösen Maßnahmen durchgeführt werden.
Ein weiterer wichtiger Therapieansatz ist das physiotherapeutisch angeleitete Gleichgewichtstraining, das darauf ausgerichtet ist, das Paradoxon dieser Erkrankung, nämlich die zu „empfindlich“ wahrgenommenen eigenen und körperfremden Bewegungen, herauszufiltern, indem das Gehirn dahingehend trainiert wird, dass es sich um normale Reize handelt.
Leider gibt es noch keine Arzneimittel, die die Schwindelsymptome spezifisch behandeln. In Übereinstimmung zur medikamentösen Akuttherapie der Migräne ist in der Attacke der Einsatz von Triptanen lohnenswert, die möglicherweise auch bei der vestibulären Migräne aufgrund der Exprimierung verschiedener Serotonin-Rezeptoren in vestibulären und trigeminalen Ganglienzellen wirksam sein können [13].
Die präventive Pharmakotherapie orientiert sich ebenfalls an den Behandlungsempfehlungen der Migräne, wonach Betablocker, Topiramat, Flunarizin und Amitriptylin in erster Linie angewendet werden sollten.
Auf dem Feld der Migränetherapie tut sich derzeit durch die Entwicklung und Anwendung neuer Migräneprophylaxen, wie der CGRP-Antikörper (calcitonin gene-related peptide), sehr viel. Die Zukunft wird zeigen, ob Substanzen dieser neuen Wirkstoffklasse auch einen Einfluss auf die Schwindelsymptome der vestibulären Migräne haben, zumal vasoaktive Neuropeptide wie CGRP in trigeminalen Fasern lokalisiert sind, die die vestibulären Hirnnervenkerne und das Innenohr innervieren [14].
Häufig finden sich insbesondere bei der chronischen Verlaufsform der vestibulären Migräne deutliche Überschneidungen mit dem funktionellen Schwindel. Oftmals ist hier eine psychologische Anbindung der Patienten sinnvoll und hilfreich. |
Literatur
[1] Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS) The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia Int J Headache. 2018;38:1–211
[2] Lempert T, Olesen J, Furman J, et al. Vestibular migraine: diagnostic criteria. J Vestib Res Equilib Orientat 2012;22:167–172
[3] Schuerger RJ, Balaban CD. Organization of the coeruleo-vestibular pathway in rats, rabbits, and monkeys. Brain Res Brain Res Rev 1999;30:189–217
[4] Halberstadt AL, Balaban CD. Organization of projections from the raphe nuclei to the vestibular nuclei in rats. Neuroscience 2003;120:573–594
[5] Marano E, Marcelli V, Di Stasio E, et al. Trigeminal stimulation elicits a peripheral vestibular imbalance in migraine patients. Headache. 2005;45:325–331
[6] Murdin L, Davies RA, Bronstein AM. Vertigo as a migraine trigger. Neurology 2009;73:638–642
[7] von Brevern M, Zeise D, Neuhauser H, Clarke AH, Lempert T. Acute migrainous vertigo: clinical and oculographic findings. Brain J Neurol 2005;128:365–374
[8] Furman JM, Marcus DA. Migraine and motion sensitivity. Contin Minneap Minn 2012;18:1102–1117
[9] Neff BA, Staab JP, Eggers SD et al. Auditory and vestibular symptoms and chronic subjective dizziness in patients with Ménière’s disease, vestibular migraine, and Ménière’s disease with concomitant vestibular migraine. Otol Neurotol Off Publ Am Otol Soc Am Neurotol Soc Eur Acad Otol Neurotol 2012;33:1235–1244
[10] Shin JH, Kim YK, Kim H-J, Kim J-S. Altered brain metabolism in vestibular migraine: comparison of interictal and ictal findings. Cephalalgia Int J Headache 2014;34:58–67
[11] Russo A, Marcelli V, Esposito F et al. Abnormal thalamic function in patients with vestibular migraine. Neurology 2014;82:2120–2126
[12] Obermann M, Wurthmann S, Steinberg BS, Theysohn N, Diener H-C, Naegel S. Central vestibular system modulation in vestibular migraine. Cephalalgia Int J Headache 2014;34:1053–1061
[13] Ahn S-K, Balaban CD. Distribution of 5-HT1B and 5-HT1D receptors in the inner ear. Brain Res 2010;1346:92–101
[14] Ahn S-K, Khalmuratova R, Jeon S-Y et al. Colocalization of 5-HT1F receptor and calcitonin gene-related peptide in rat vestibular nuclei. Neurosci Lett 2009;465:151–156
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