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Wirtschaft
Estland: Ketten in die Schranken verwiesen
Vorschläge zum Kippen der Apothekenreform abgeschmettert
Man kann ohne Übertreibung von einem „Showdown“ am Dienstag und Mittwoch vergangener Woche im estnischen Parlament sprechen. Ein für alle Mal kam hier das monatelange erbitterte Gezerre um die Reform des Apothekensystems zu einem Ende, das von den Apothekern des Landes mit großer Erleichterung und Genugtuung aufgenommen werden dürfte. Konkret ging es bei den Parlamentssitzungen um drei Gesetzesvorlagen, mit denen das fünf Jahre alte Reformgesetz auf den letzten Drücker noch gekippt oder modifiziert werden sollte.
Erste Vorlage: Der Entwurf der Regierungskoalition aus der Estnischen Konservativen Volkspartei (EKRE) und der Zentrumspartei von Ende Januar sollte die mit der Apothekenreform eingeführte Beschränkung des Eigentums an Apotheken aufheben und Apothekern und Gesundheitsdienstleistern das Recht einräumen, Arzneimittel direkt vom Hersteller zu kaufen. Am Dienstag lehnte das Riigikogu den Änderungsantrag zur materiellen Aufhebung des Apothekenreformgesetzes ab. 46 Mitglieder des Riigikogu stimmten für die Ablehnung, 42 dagegen.
Zweite Vorlage: Ebenfalls Ende Januar hatten die Sozialdemokraten der Opposition einen weiteren Gesetzentwurf eingebracht, der am Mittwoch im Riigikoku beraten wurde. Sie unterstützen das Inkrafttreten der Apothekenreform, wollten allerdings den geforderten 51-prozentigen Eigentumsanteil eines Apothekenleiters lockern. Ihr Gesetzentwurf sah vor, dass eine öffentliche Apotheke auch im Besitz mehrerer Apotheker sein könnte, wenn der Eigentumsanteil insgesamt mehr als 80 Prozent beträgt und mindestens einer von ihnen die Apotheke betreibt. Außerdem sollte die Übergangsfrist für die Anpassung von Apotheken in Regionen mit einer Gefahr der Unterversorgung bis zum 1. Januar 2021 verlängert werden können. Auch diese Vorlage lehnte das Parlament mit 54 gegen 11 Stimmen ab.
Dritte Vorlage: Bereits am 19. Dezember 2019 hatten die ehemaligen sozialdemokratischen Minister Jewgeni Ossinowski, Helmen Kütt und Riina Sikkut eine Gesetzesvorlage eingebracht, die es Krankenhäusern ermöglichen sollte, Medikamente im Einzelhandel zu verkaufen. Derzeit dürfen sie nur Krankenhausabteilungen versorgen. Die Gesetzesänderung sollte die Kosten für Arzneimittel senken, da Krankenhausapotheken diese im Schnitt um zehn Prozent billiger erhalten als öffentliche Apotheken. Außerdem sollten Krankenhausapotheken Medikamente entweder direkt vom Hersteller oder vom Großhandel im Ausland beziehen dürfen. Auch für diesen Vorschlag gab es am Mittwoch im estnischen Parlament keine Mehrheit. Der Gesetzentwurf wurde lediglich von 11 Abgeordneten unterstützt, 63 waren dagegen.
Damit hat das estnische Parlament allen Vorschlägen eine klare Absage erteilt.
Apothekerverband und Kammer sind am Ziel
Der estnische Apothekerverband, der die unabhängigen Apotheken im Land vertritt, und die estnische Apothekerkammer sind damit am Ziel ihre Wünsche. Sie hatten die Mitglieder des Riigikogu in letzter Minute noch einmal dazu aufgefordert, die Gesetzesentwürfe zur Abschaffung des Apothekenreformgesetzes abzulehnen.
Laut Karin Alamaa-Aasa, Vorstandsvorsitzende der estnischen Apothekerkammer, gibt es in Estland derzeit bereits mehr als 200 konforme Apotheken, zwei große Apothekenketten hätten öffentlich ihre Unterstützung für die Reform angekündigt und die verbleibenden nicht konformen Apotheken bereiteten sich auf den Übergang zum inhabergeführten Apothekensystem vor.
„Massenungehorsam“ und Schadensersatzklagen
Margus Linnamäe, Inhaber des großen Pharmagroßhändlers Magnum Group, hatte seinerseits an das Parlament appelliert, die umstrittene Apothekenreform zu stoppen und für die Freiheit der Unternehmen einzutreten.
Ihm zufolge basiert die aktuelle Kritik am estnischen Apothekensystem hauptsächlich auf „Mythen und böswilliger Propaganda“. Gleichwohl kündigte er an, seine Apotheka-Apotheken an Apotheker zu übergeben, die derzeit im Unternehmen arbeiten.
Die Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) befürchtet, dass nicht konforme Apotheken nach dem 1. April einfach weitermachen und sich nicht an die gesetzlichen Regeln halten könnten und sprechen von einem möglichen „Massenungehorsam“. Sie erwarten außerdem endlose Rechtsstreitigkeiten, denn Marktführer hätten ihre Absicht angekündigt, den estnischen Staat auf Schadensersatz zu verklagen.
Kiik: „Apotheker werden größere Rolle spielen“
Sozialminister Tanel Kiik hatte seine Überzeugung hinsichtlich der Apothekenreform Mitte Februar noch einmal in aller Deutlichkeit kundgetan: „Meine Ansichten sind bekannt: Ich halte es nicht für richtig, das seit fünf oder sechs Jahren geltende Gesetz in letzter Minute zu ändern und anderthalb Monate vor dem Ende der Reform eine unvorhersehbare Situation zu schaffen“, bemerkte Kiik. „Das war meine Botschaft an alle und wird es auch weiterhin sein.“ Der Minister geht davon aus, dass der Apothekenmarkt auch nach dem 1. April weiter funktionieren wird. „Natürlich wird die Zusammenarbeit zwischen Apothekern, Großhändlern, Pharmaunternehmen und verschiedenen Marktteilnehmern fortgesetzt. Apotheker werden eine größere Rolle spielen als bisher“, betonte Kiik. |
Mehr als die Hälfte der Apotheken noch nicht konform
Die estnische Apothekenreform war vor fünf Jahren verabschiedet worden. Sie sah eine Übergangsfrist für die Anpassung des Bestandsmarktes bis zum 1. April 2020 vor. Ab diesem Zeitpunkt muss die Mehrheitsbeteiligung an einer öffentlichen Apotheke (51 Prozent) bei einem Apotheker liegen, der diese auch selbst leitet. Pharmahersteller und -großhändler sowie Gesundheitsdienstleister werden vom Betrieb öffentlicher Apotheken ausgeschlossen (Verbot der vertikalen Integration). Weiterhin dürfen öffentliche Apotheken in Städten mit mehr als 4000 Einwohnern keine Filialapotheken mehr haben. Nach Angaben der estnischen Arzneimittelbehörde (Ravimiamet) gibt es in Estland insgesamt 495 öffentliche Apotheken, darunter 352 Haupt- und 143 Filialapotheken (Stand 1. Februar 2020). Die Mehrheit der derzeit noch nicht konformen rund 300 Apotheken soll sich in den Großstädten (über 4000 Einwohner) befinden, wo sie 72 Prozent ausmachen und es ohnehin ein Überangebot an Apotheken geben soll. In ländlichen und kleinen Städten soll der Anteil bei 42 Prozent liegen.
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