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Medizin

Tic(k)t der noch richtig?

Ursachen, Symptomatik und Therapie des Tourette-Syndroms

Wenn Ihnen in der Fußgängerzone ein prustend grimassierender Unbekannter mit hektischen Armbewegungen entgegenkommt, der Ihnen die Zunge herausstreckt und Sie womöglich obszön tituliert, kann das natürlich schlicht ein pubertierender Flegel sein. Möglicherweise stapft jedoch ein junger Mensch an Ihnen vorbei, der an einem Tourette-Syndrom leidet und „nichts dafür kann“. Hierbei handelt es sich nämlich um eine neuropsychiatrische Störung, die durch das kombinierte Auftreten unwillkürlicher vokaler und motorischer Tics gekennzeichnet ist. Lange Jahre eher als Seltenheit eingeschätzt, belegen neuere epidemiologische Daten eine höhere Prävalenz von Tic-Störungen als angenommen. Das Risiko der psychosozialen Benachteiligung und Stigmatisierung betroffener Personen ist nicht zu unterschätzen. | Von Clemens Bilharz

Das gleichnamige Syndrom wurde benannt nach dem französischen Neurologen und Rechtsmediziner Georges Albert Édouard Brutus Gilles de la Tourette, der 1884/85 die erste Fallserie von neun Patienten mit dieser Störung publizierte. Hauptkriterium des Tourette-Syndroms nach ICD-10 ist das Auftreten von mindestens zwei motorischen und mindestens einem vokalen Tic. Als Nebenkriterien genannt werden

  • ein Erkrankungsbeginn im Kindes- oder Jugendalter,
  • eine Dauer von mindestens einem Jahr (wobei eine mehrmonatige Unterbrechung möglich ist)
  • sowie Fluktuationen der Tics im Verlauf.

Schweregrad und Komplexität der Tics spielen für die Diagnose allerdings keine Rolle. Für das Tourette-Syndrom wird weltweit eine Prävalenzrate von etwa 1% angenommen. Vor allem transiente motorische Tics gehören zu den häufigsten neuropsychiatrischen Störungen im Kindes- und Jugendalter und treten bei 10% bis 15% aller Grundschüler auf. Jungen und Männer sind etwa viermal häufiger betroffen als Mädchen und Frauen. Die Symptomatik ­erreicht ihren höchsten Schweregrad um das 12. bis 14. Lebensjahr und nimmt nach der Pubertät in vielen Fällen wieder ab [2].

Einfache oder komplexe Tics

Definiert ist ein Tic als eine plötzlich einsetzende, wiederholte aber nicht rhythmische Bewegung oder Lautproduktion, die weder dem Willen unterworfen noch zielgerichtet ist und die somit als bedeutungslos erlebt wird. Die individuelle Neigung zu Tics kann vorübergehend oder chronisch sein; im Verlauf fluktuieren Tics typischerweise in Bezug auf ihre Anzahl, Frequenz, Intensität und Komplexität. Abhängig von ihrer Qualität lassen sich Tics in motorische bzw. vokale (phonetische) Tics einteilen, diese jeweils wiederum in einfache oder komplexe Tics (s. Tab. 1).

Tab. 1: Einteilung in einfache/komplexe bzw. motorische/vokale Tics (Beispiele; nach [1]).
einfache Tics
einfache motorische Tics
  • mit den Augen zwinkern oder blinzeln, die Augen rollen oder aufreißen (ohne Bewegungen der Augenbrauen)
  • die Augenbrauen hochziehen
  • die Nase rümpfen oder verziehen
  • die Backen aufblasen, den Mund öffnen oder verziehen
  • Lippen- und/oder Kieferbewegungen; die Zunge herausstrecken; mit den Zähnen klappern
  • Grimassieren; die Stirn runzeln
  • den Kopf schütteln, verdrehen, zucken, nicken
  • mit den Schultern zucken
  • Arm- und/oder Handbewegungen
  • Bauch- und/oder Rumpfbewegungen
  • Bein- und/oder Fußbewegungen
einfache vokale Tics
  • sich räuspern, Husten, Hüsteln (häufig)
  • Schniefen, Schnäuzen (häufig)
  • die Nase hochziehen
  • geräuschvolles Ein- oder Ausatmen; Prusten
  • Quieken, Quietschen, Grunzen
  • Pfeifen, Summen
  • Ausstoßen von Schreien (selten)
  • Ausrufen von Silben (z. B. hm, eh, ah, ha)
  • Ausstoßen von Tier- oder anderen Lauten (selten)
  • Spucken
komplexe Tics
komplexe motorische Tics
  • scheinbar absichtsvolle Bewegungen: Gesten im Gesicht, an Kopf, Hand, Armen, Rumpf, Fuß, Beinen
  • an der Kleidung zupfen
  • Hüpfen, Springen
  • Klatschen, Klopfen
  • sich im Kreis drehen
  • verbiegende, beugende Rumpfbewegungen
  • ausfahrende Armbewegungen
  • Aufstampfen
  • dystone Tics (selten): mit langsamen verdrehenden Bewegungen
  • Schreibtics
komplexe vokale Tics
  • Sprechblockaden (auch Stottern)
  • Ausrufen von Sprachfragmenten
  • Ausrufen sozial oder situativ unangemessener Wörter wie z. B. „Fett, fett, fett!“ oder „Hilfe, Hilfe!“ (NOSI = non-obscene socially inappropriate behaviour)

Motorische Tics zeigen sich bei den Betroffenen im Schnitt zwei bis drei Jahre früher als vokale Tics. Typischerweise beginnt die Symptomatik mit einfachen motorischen Tics im Gesichts- und Kopfbereich, im Gegensatz zu den komplexen Tics sind hierbei nur wenige Muskelgruppen betroffen.

Vor allem bei den komplexen Tics sind Sonderformen zu berücksichtigen, die eher ein Zeichen für schwere Verläufe bzw. Komorbiditäten darstellen (s. Tab. 2). Hierzu gehört auch das Symptom, das in der öffentlichen Wahrnehmung am häufigsten mit dem Tourette-Syndrom in Verbindung gebracht wird, nämlich die Koprolalie, das Ausrufen (nicht selten obszöner) Schimpfwörter. Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass scheinbar beleidigende Gesten, Geräusche oder Äußerungen nicht willentlich oder zielgerichtet erfolgen.

Tab. 2: Sonderformen von komplexen motorischen und vokalen Tics (nach [1]).
Sonderformen motorischer Tics
Sonderformen vokaler Tics
  • Echopraxie: die nicht zweckgebundene Imitation von beobachteten Bewegungen anderer Personen
  • Kopropraxie: Zeigen obszöner Gesten etwa des Mittelfingerzeichens, obszöne Rumpf- und/oder Beckenbewegungen, Fassen in den Schritt
  • Palipraxie (selten): Wiederholen eigener Bewegungen (einschließlich autoaggressiver Handlungen)
  • Echolalie: nicht der Kommunikation dienendes Wiederholen von gehörten Sätzen, Wörtern, Silben oder Geräuschen
  • Koprolalie: kurzes Ausrufen obszöner und/oder beleidigender (Schimpf-)Wörter
  • Palilalie: unwillkürliches Wiederholen von selbst gesprochenen Wörtern

Vorgefühl als Ankündigung

Oft geht dem Tic ein sensomotorischer Drang oder Vorgefühl (premonitory urge) voraus, anhand dessen die Betroffenen meist erkennen können, dass ein bestimmter Tic ausgelöst wird. Danach klingt dieses in der Regel als unangenehm empfundene „Ziehen“ oder „Drücken“ vorübergehend ab. Charakteristisch hierbei ist eine (meist aber nur kurzzeitige) willentliche Unterdrückbarkeit des Tics. Sowohl das Vorgefühl als auch die willentliche Unterdrückbarkeit sind altersabhängig und bei Kindern geringer ausgeprägt als bei Erwachsenen. Darüber hinaus berichten viele Betroffene über eine Zunahme der Tics bei emotionaler Anspannung bzw. über eine Verminderung bei Entspannung (etwa im Urlaub) oder hoher Konzentration. Auch sind Tics suggestibel, das heißt, sie lassen sich manchmal durch externe Stimuli auslösen, beispielsweise wenn in der Sprechstunde konkret über Tics gesprochen wird. Im Rahmen sogenannter Echophänomene werden zuweilen nicht nur Willkürbewegungen anderer Personen imitiert, sondern auch Tics von anderen Patienten übernommen.

Komorbiditäten vermindern Lebensqualität

Auch wenn das Tourette-Syndrom als reine Tic-Störung definiert ist, zeigen sich bei 70 bis 80% der Betroffenen zusätzliche psychiatrische Symptome. Typischerweise nehmen Anzahl und Ausprägung der Begleiterkrankungen mit dem Schweregrad der Tics zu, sodass vor allem bei Kindern psycho­soziale Lern- und Verhaltensmuster oft beeinträchtigt sind:

  • Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS, mit 50 bis 90% die häufigste Komorbidität),
  • emotionale Dysregulation, Zwänge und Ängste,
  • Impulskontrollstörungen bis hin zu autoaggressiven Tendenzen, z. B. Haare ausreißen, den Kopf gegen die Wand schlagen,
  • Autismusspektrumstörungen, z. B. reduziertes Verständnis für soziale Situationen bzw. Interaktion,
  • Teilleistungsstörungen, z. B. Legasthenie.

Ältere Jugendliche und Erwachsene weisen teilweise ein ­etwas anderes Muster auf, so finden sich hier Störungen wie

  • Zwangshandlungen, z. B. Ordnungszwang (Herstellen einer perfekten Symmetrie oder Anordnung) oder Berührzwang (der Zwang, bestimmte Dinge anzufassen),
  • Angststörung, z. B. Trennungsangst,
  • affektive Störungen und Depression,
  • autoaggressive Tendenzen, z. B. das Ritzen der Haut,
  • Neigung zu Suchterkrankungen.

Es leuchtet ein, dass die Lebensqualität von Patienten mit Tourette-Syndrom in erster Linie durch die begleitenden psychiatrischen Störungen herabgesetzt wird und nicht durch die Tics als solche. Laut einer nordamerikanischen Kohortenstudie besteht eine erhöhte Suizidalität im Vergleich zu Personen ohne Komorbidität [8]. Differenzialdiagnostisch sollten allerdings Hyperkinesien anderer Ursache ausgeschlossen werden (s. Tab. 3).

Tab. 3: Mögliche Ursachen anderer Tic-ähnlicher, hyperkinetischer Bewegungen.
fokale epileptische Anfälle
  • örtlich umschriebene Muskelzuckungen (z. B. in einer Gesichtshälfte oder in einer Hand)
  • Seitenwechsel möglich (epileptische Entladungen in der linken Hirnhälfte lösen Zuckungen auf der rechten Körperseite aus)
  • sensible Anfälle (z. B. Kribbel-, Taubheits- oder Wärmegefühle)
  • sensorische Anfälle (z. B. Lichtblitze, fremde Geräusche, ungewohnter Geschmack im Mund)
Chorea
  • unwillkürliche, plötzliche, rasch ablaufende, unregelmäßige Bewegungen der Extremitäten, des Gesichtes, des Halses und des Rumpfes
  • sowohl in Ruhe als auch während willkürlicher Bewegungen auftretend
  • Chorea major (Huntington): vererbte, degenerative Chorea, früher als „Veitstanz“ bezeichnet
  • Chorea minor (Sydenham): postinfektiös-autoimmun ausgelöste Chorea vor allem bei Kindern, eine immunvermittelte Folgeerkrankung nach Infekt mit Streptokokken, oft mit rheumatischem Fieber kombiniert
Restless-Legs-Syndrom
  • Missempfindungen (Ziehen, Kribbeln, Wärmegefühl) sowie Muskelanspannung und Bewegungsdrang in den Beinen und Füßen, weniger häufig auch in den Armen
  • auffälliger zirkadianer Rhythmus: Häufung der Beschwerden abends und nachts (grob im Zeitraum zwischen 22:00 und 4:00 Uhr), mit erheblichen Schlafstörungen assoziiert
Spasmus hemifacialis
  • unwillkürliche, ständig wiederkehrende einseitige Kontraktionen (Spasmen) der Gesichtsmuskulatur
  • zumeist vom Auge ausgehend, nicht selten mit gesteigertem Tränenfluss
  • Ursache: Kompression des Nervus facialis durch eine pulsierende Gefäßschlinge am Hirnstamm (mikrovaskuläre Dekompression als kausale Therapie)
dissoziative Bewegungsstörung
  • vollständiger oder teilweiser Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperteile (teilweise auch der Sprache)
  • noch schwache und langsame Bewegungen möglich, oft überlagert von übertriebenem Zittern oder Schütteln einer oder mehrerer Extremitäten bzw. des ganzen Körpers
  • Form einer posttraumatischen Belastungsstörung

Verstärkte Konnektivität des Motorkortex

Im Rahmen der Ursachensuche wurde aufgrund der therapeutischen Effekte der jeweils in Europa bzw. den USA hauptsächlich eingesetzten Substanzen eine Beteiligung des dopaminergen und noradrenergen Neurotransmittersystems postuliert. Tatsächlich konnten funktionelle bildgebende Untersuchungen regionale Auffälligkeiten insbesondere im Bereich der Basalganglien identifizieren. Demnach spielen Alterationen in der dopaminergen Neurotransmission der kortiko-striato-thalamo-kortikalen(CSTC) Bahnen eine wesentliche Rolle in der Pathophysiologie. So scheint etwa eine verstärkte Konnektivität des motorischen Kortex mit der Stärke der Tics zu korrelieren. Darüber hinaus legen neuere Studien die Beteiligung von Hirnstrukturen jenseits dieser Schaltkreise nahe, insbesondere des limbischen Systems [2]. Auch konnte in einer computerbasierten Modellierung gezeigt werden, wie die beteiligten Hirnareale funktionell ineinandergreifen können,

  • sowohl bei der Auslösung der Vorgefühle (z. B. primärer und sekundärer somatosensorischer Kortex)
  • als auch beim Erlernen von Tics (z. B. ventrales Striatum, Substantia nigra, Putamen)
  • sowie beim „Abfeuern“ des Tics (z. B. Globus pallidus, Thalamus, Motorkortex).

Nach diesem Modell kommt es durch das Beenden aversiver (Widerwillen erzeugender) Vorgefühle zu einer funktionellen, phasisch auftretenden Dysfunktion der dopaminergen Transmission und damit zu einem Erlernen von Tics.

Neben Dopamin scheinen auch andere Neurotransmitter wie z. B. Glutamat und GABA eine Rolle zu spielen. Ebenso werden eine Minderfunktion des serotoninergen Systems postuliert sowie der Einfluss noradrenerger Afferenzen auf die Entstehung von Tics.

Auch das Cannabinoid-System ist durch die Verteilung der Cannabinoid-Rezeptoren in Tic-relevanten Regionen ein wichtiger Bestandteil und zunehmend im Forschungs­interesse [1, 3].

Genetische und Umweltfaktoren

Dass genetische Faktoren für die Entstehung des Tourette-Syndroms von großer Bedeutung sind, ist inzwischen anhand diverser Familien- und molekulargenetischer Untersuchungen gut dokumentiert. So geht man derzeit davon aus, dass Angehörige ersten Grades einem Risiko von 5 bis 15% unterliegen, selbst an einem Tourette-Syndrom zu erkranken. Das Vererbungsmuster selbst scheint allerdings komplex zu sein. Zwischenzeitlich konnten verschiedene Kandidatengene identifiziert werden, deren Mutation mit dem Auftreten von Tic-Störungen in Verbindung gebracht wird. So fand man etwa im Jahr 2005 ein mutiertes SLITRK1-Gen, das ein Protein für das Neuritenwachstum kodiert, vor allem in „Tourette-relevanten“ Hirnregionen wie den Basalganglien oder dem Motorkortex. Weiterhin kann durch ein mutiertes IMMP2L-Gen ein mitochondriales Protein beeinträchtigt sein und dadurch eine zelluläre Apoptose auslösen [4]. In einer jüngeren Publikation werden weitere De-novo-Varianten von Genen – vor allem WWC1 und CELSR3 – genannt. Beide kodieren für Proteine, die für eine regelrechte Zellpolarität (die spezifische Ausrichtung von Zellstrukturen) wichtig sind – essenziell wiederum für zelluläre Prozesse wie Teilung oder Migration [5]. Darüber hinaus scheinen auch nichtgenetische Risikofaktoren an der Entwicklung von Tic-Störungen beteiligt zu sein (s. Kasten „Nichtgenetische Risikofaktoren“). Allerdings dürfte dieser Einfluss zu einem Großteil auf der beschriebenen genetischen Vulnerabilität beruhen.

Nichtgenetische Risikofaktoren des ­Tourette-Syndroms

perinatale Risikofaktoren

  • Nicotin-Konsum in der Schwangerschaft
  • psychosozialer Stress in der Schwangerschaft
  • intrauterine Wachstumsretardierung, niedriges Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit
  • perinatale Hypoxie (umstritten)

immunologische Risikofaktoren

  • postinfektiös im Rahmen einer Autoimmunreaktion, insbesondere bei β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A (PANDAS = pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections)
  • Einzelfallberichte bzgl. Infektionen mit Borrelia burg­dorferi sowie auch bezüglich viraler Infektionen

(nach [1, 2])

Psychoedukation als erster Behandlungsschritt

Tics können weder kausal behandelt geschweige denn geheilt werden. Ebenso wenig bestehen Therapieoptionen, die alle potenziellen Symptome des Tourette-Syndroms inklusive der Komorbiditäten gleichzeitig erfassen könnten. Dennoch sollten betroffene Menschen zumindest symptomatisch behandelt werden, wenn sie

  • unter Ängsten, Depressionen oder einem geringen Selbstwertgefühl leiden,
  • gehänselt, gemobbt oder sozial ausgegrenzt werden, vor allem bei vokalen bzw. starken motorischen Tics.

Aufgrund der psychosozialen Korrelation empfehlen alle Leitlinien als ersten Schritt der Therapie eine sogenannte Psychoedukation [6, 7, 8]. Bereits eine klare Diagnosestellung mit umfassender Aufklärung und Beratung (einschließlich des unmittelbaren sozialen Umfeldes) kann für Betroffene eine enorme Entlastung bedeuten. Bei einer nur gering ausgeprägten Neigung zu Tics erübrigen sich weiterführende Maßnahmen dann nicht selten. Allerdings sind sowohl eine tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie als auch eine Psychoanalyse therapeutisch nicht geeignet, da die Ursachen von Tics und Tourette-Syndrom nicht psychogen, sondern organischer Natur sind.

Verhaltenstherapeutische Optionen

Bei stärkerer Belastung stehen medikamentöse oder verhaltenstherapeutische Optionen zu Verfügung, bei anhaltender Symptomatik auch in Kombination. Bei den Letztgenannten sind derzeit folgende Interventionen etabliert:

  • Habit Reversal Training (HRT): Hier soll das Ausführen eines zuvor erlernten alternativen Verhaltens – im Sinne einer Reaktionsumkehr – das Eintreten von Tics vermindern. In mehreren Studien konnte sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein Tic-Rückgang um 30% bis 40% nachgewiesen werden [2].
  • Exposure and Resonse Prevention (ERP): Ziel ist das Unterbrechen des von vielen Patienten beschriebenen Automatismus, dass dem sensomotorischen Vorgefühl „unbedingt“ auch ein Tic folgen müsse.
  • Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT): Hierbei handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Habit Reversal Trainings, welches um ein individuelles Achtsamkeitstraining einschließlich Entspannungstechniken erweitert wird. Vor allem wird eine Tic-Hierarchie erarbeitet, mit deren Hilfe ein ausgewählter „target tic“ gemäß dem HRT-Prinzip blockiert werden soll. Die aktuellen amerikanischen Leitlinien empfehlen CBIT inzwischen als ersten Behandlungsschritt [8].

Atypische Neuroleptika als Mittel der ersten Wahl

Hat man sich für eine medikamentöse Intervention entschieden und soll deren Wirksamkeit beurteilt werden, müssen grundsätzlich die spontanen Fluktuationen der Tics berücksichtigt werden, die das Resultat verfälschen können. In Deutschland gelten Dopaminrezeptor-Antagonisten, also Neuroleptika, als Substanzen der ersten Wahl. Generell sollte deren Dosis bei Therapiebeginn langsam gesteigert werden, bis sich eine positive Wirkung zeigt (oder nicht tolerable Nebenwirkungen).

Für die Behandlung des Tourette-Syndroms ist das klassische Neuroleptikum Haloperidol hierzulande das einzige zugelassene Arzneimittel. Wegen der Gefahr starker Nebenwirkungen (extrapyramidalmotorische Störungen, Müdigkeits­erscheinungen, Depressionen) wird es heute jedoch nur noch als Reservemedikament eingesetzt. Somit erfolgt in den allermeisten Fällen praktisch eine Off-Label-Therapie mit atypischen Neuroleptika. Laut der europäischen klinischen Leitlinie für das Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen gilt Risperidon als der am besten untersuchte und in Europa mit Abstand am häufigsten hierfür eingesetzte Wirkstoff. Je nach Studie werden Tics um 41% bis 62% vermindert, außerdem dämpft die Substanz die bei manchen Tourette-Patienten auftretenden aggressiven Verhaltensweisen. Problematisch sind allerdings auch hier Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Müdigkeit und Sexualfunktionsstörungen [7].

Im deutschsprachigen Raum werden daher wegen der mutmaßlich geringeren Rate an Nebenwirkungen oft auch Benzamide wie das Antihyperkinetikum Tiaprid eingesetzt. Als Therapie der ersten Wahl gelten derzeit bei Kindern Tiaprid, Risperidon und Aripiprazol bzw. bei Erwachsenen Tiaprid, Sulpirid, Risperidon und Aripiprazol. Letzteres scheint gegenüber anderen atypischen Neuroleptika den Vorteil eines besseren Nebenwirkungsprofils zu bieten und gilt daher vielfach als günstigere Behandlungsalternative [6]. Als Reservearzneimittel gelten das Antiepileptikum Topiramat sowie das antidopaminerg wirkende Tetrabenazin.

In den USA wird Clonidin bevorzugt

Die Tic-unterdrückende Wirkung von Clonidin durch die Erregung hemmender α2-Adrenorezeptoren wird hierzulande im Vergleich zu den genannten Neuroleptika als eher gering eingeschätzt [6]. Nichtsdestotrotz wird diese Substanz in den angloamerikanischen Ländern als First-Line-Medikation empfohlen (neben Guanfacin, das seit 2015 in der Europäischen Union als Reservemedikation zur Behandlung von ADHS bei 6- bis 17-Jährigen zugelassen ist). In den Leitlinien wird explizit darauf hingewiesen, dass bei Kindern mit Tics sowie ADHS eine gute Wirksamkeit von Clonidin nachgewiesen wurde. Allerdings sei eine konsequente Überwachung von Blutdruck und Herzfrequenz obligat. Demgegenüber gibt es für (klassische sowie atypische) Neuroleptika nur eine Kann-Empfehlung, hauptsächlich wegen der Gefahr arzneimittelinduzierter Bewegungsstörungen [8].

Cannabis im Kommen?

Eine zunehmend diskutierte Therapieoption beruht auf der Erkenntnis, dass vielfältige Interaktionen zwischen dem Cannabis-Rezeptorsystem und zahlreichen anderen Neurotransmittern bestehen. So führt die Aktivierung von CB1-Rezeptoren zu einer Hemmung der Freisetzung von Acetylcholin, Dopamin, GABA, Histamin, Serotonin, Glutamat und Noradrenalin. Aufgrund mehrerer Erfahrungsberichte und kleinerer Studien gibt es gut begründete Hinweise darauf, dass Cannabis-Medikamente in der Behandlung von Tics wirksam sind. Der Grund dürfte in der hohen CB1-Rezeptordichte in den Basalganglien liegen, der wichtigste biologisch wirksame Inhaltsstoff ist das Delta-9-trans-Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol).

Laut Angaben der Tourette-Gesellschaft Deutschland e. V. kann in Einzelfällen eine ärztlich überwachte Cannabis-Therapie derzeit folgendermaßen realisiert werden [9]:

  • So können mittels BTM-Rezept verschiedene Cannabis-Wirkstoffe verschrieben werden: Dronabinol (THC) als Fertigarzneimittel, Dronabinol als Rezepturarzneimittel, der synthetische THC-Abkömmling Nabilon und ein Cannabis-Extrakt in Form eines Sprays.
  • Alternativ kann eine medizinische Verwendung von Cannabis in Form eines Extraktes oder von Cannabis-Kraut erfolgen. Voraussetzung ist, dass der Patient bei der Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz beantragt zum Erwerb eines standardisierten Cannabis-Extrakts oder von Medizinal-Cannabisblüten zur Anwendung im Rahmen einer ärztlich begleiteten Selbsttherapie.

Die Furcht vor Cannabis-bedingten kognitiven Einbußen erscheint nur bei sehr starkem, über das therapeutische Soll hinausgehendem Konsum begründet. Allerdings gilt als gesichert, dass bei Jugendlichen (insbesondere vor der Pubertät) ein deutlich erhöhtes Risiko besteht. Daher sollte eine (Langzeit-)Behandlung mit Cannabis-haltigen Arzneimitteln in dieser Altersstufe sehr sorgfältig abgewogen werden. Auch sollte unbedingt berücksichtigt werden, dass Cannabis bei Personen mit entsprechender Empfindlichkeit eine schizophrene Psychose auslösen kann [8, 9]. Erste Studienergebnisse mit dem hochselektiven Endocannabinoid-Modulator ABX-1431, der die zerebrale Konzentration des agonistisch wirkenden Endocannabinoids 2-Arachidonoylglycerol (2-AG) steigern kann, sind vielversprechend [11].

Lokale Botulinumtoxin-Injektionen

Wenn Tics wenig fluktuieren und in betroffenen Körperregionen zu Schmerzen oder Fehlbelastungen der Gelenke führen, können gezielte Botulinumtoxin-Injektionen versucht werden – vorausgesetzt, es handelt sich um gut identifizierbare und von außen zugängliche Muskeln. Eine Indikation wären z. B. Nacken-Tics, die in schweren Fällen zu Fehlhaltungen und Fehlbelastungen der Halswirbelsäule und zu einer Schädigung der Nervenwurzeln bzw. des Rückenmarks führen können (zervikale Myelopathie). Durch Hemmung der neuromuskulären Signalübertragung (durch Hemmung der Ausschüttung von Acetylcholin) bleibt die Erregung entsprechender Muskelzellen aus. In einer Studie lag die mittlere Dauer des stärksten Wirkeffektes bei 14,4 Wochen. Neben der Verbesserung der motorischen Tics beschrieben 21 von 25 Patienten auch einen deutlichen Rückgang des sensomotorischen Vorgefühls [10].

Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio

Leiden erwachsene Patienten unter einem schweren Tourette-Syndrom und zeigen medikamentöse bzw. verhaltenstherapeutische Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg, kann eine tiefe Hirnstimulation in Betracht gezogen werden (deep brain stimulation, DBS). Bei dieser Intervention werden individuell gesteuerte hochfrequente Strompulse mithilfe eines subkutan implantierten Impulsgenerators sowie in tiefere Hirnregionen eingeführter Stimulationselektroden gezielt an strategische intrazerebrale Punkte geleitet. Nach wie vor ist nicht gesichert, welcher der von bisher zehn vorgeschlagenen Zielpunkten bei dieser Indikation der günstigste ist. Die hier bisher am häufigsten stimulierten Gehirnregionen sind thalamische Areale und der Globus pallidus internus. Der therapeutische Effekt der elektrischen Reizung ergibt sich höchstwahrscheinlich aus der Hemmung von Regelkreisen, die bei Tourette-Patienten sonst überaktiv sind [9]. Laut einer bei der 12th European Conference on Tourette Syndrome and Tic Disorders 2019 vorgestellten Arbeit vermindert eine tiefe Hirnstimulation Tic-Symptome und verbessert die Lebensqualität signifikant: Daher habe die Maßnahme ihren experimentellen Charakter verloren [11]. Anderen Studien zufolge führt die tiefe Hirnstimulation nicht nur zu einem Rückgang der Tics, sondern auch von psychiatrischen Komorbiditäten wie Zwang, Depression, Angst und Autoaggression [1]. |

 

Literatur

 [1] Ludolph AG, Roessner V, Münchau A, Müller-Vahl K. Tourette syndrome and other tic disorders in childhood, adolescence and adulthood. Dtsch Arztebl Int 2012;109(48):821-828, DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821

 [2] Neuner I, Ludolph A. Tic-Störungen und Tourette-Syndrom in der Lebensspanne. Nervenarzt 2009;80:1377-1388, DOI 10.1007/s00115-009-2807-0

 [3] Musil R. Aktuelle Therapieansätze. Österreichische Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie, https://oegpb.at/2018/10/30/aktuelle-therapieansaetze/

 [4] Georgitsi M, Willsey AJ, Mathews CA et al. The Genetic Etiology of Tourette Syndrome: Large-Scale Collaborative Efforts on the Precipice of Discovery, DOI: 10.3389/fnins.2016.00351

 [5] Wang S, Mandell JD, State MW et al. De Novo Sequence and Copy Number Variants Are Strongly Associated with Tourette Disorder and Implicate Cell Polarity in Pathogenesis. https://doi.org/10.1016/j.celrep.2018.08.082

 [6] Tics. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. AWMF-Registernummer 030/012, Stand September 2012

 [7] Roessner V, Plessen KJ, Rothenberger A, Ludolph AG et al. European clinical guidelines for Tourette syndrome and other tic disorders. Eur Child Adolesc Psychiatry 2011;20(4):173-196, DOI: 10.1007/s00787-011-0163-7

 [8] The Treatment of Tics in People with Tourette Syndrome and Chronic Tic Disorders. American Academy of Neurology (AAN). Published in Neurology online 6. Mai 2019

 [9] Therapiemöglichkeiten des Tourette-Syndroms. Broschüre der Tourette-Gesellschaft Deutschland e. V. c/o Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl, Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Hannover

[10] Kwak C, Hanna P, Jankovic J. Botulinum toxin in the treatment of tics. Arch Neurol 2000;57:1190-1193

[11] 12th European Conference on Tourette Syndrome and Tic Disorders (Hannover, Germany, 15. bis 17. Mai 2019, Abstracts

 

Autor

Clemens Bilharz ist Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin und zusätzlich als wissenschaftlicher Fachzeitschriftenredakteur ausgebildet. Er ist als Autor und Berater für Fachverlage und Agenturen tätig.

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